Titel:
Entziehung der Fahrerlaubnis wegen Nichtbeibringung eines ärztlichen Gutachtens (Suizidversuch, psychische Störungen) – einstweiliger Rechtsschutz
Normenketten:
VwGO § 80 Abs. 5
StVG § 3 Abs. 1 S. 1
FeV § 11 Abs. 2 S. 1, S. 3 Nr. 5, Abs. 8 S. 1, § 46 Abs. 1, Abs. 3, Anl. 4 Nr. 7.5, Nr. 7.6, Nr. 8.3, Nr. 9.3
Leitsätze:
1. Suizide oder Suizidversuche sind häufig Ausdruck einer Substanzabhängigkeit und einer Depression oder Psychose. Auch letztere Grunderkrankungen sind in der nicht abschließenden Aufstellung häufiger vorkommender Erkrankungen und Mängel in Anl. 4 FeV enthalten, die die Fahreignung längere Zeit beeinträchtigen oder sogar aufheben, sodass sie Anlass bieten, in diese Richtung zu ermitteln und die psychischen Störungen auf ihre Fahreignungsrelevanz hin zu untersuchen. (Rn. 13) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die der Allgemeinheit drohenden Gefahren durch einen möglicherweise ungeeigneten Fahrerlaubnisinhaber werden nicht durch seine bisher beanstandungsfreie Teilnahme am Straßenverkehr widerlegt. Eine belastbare Aussage über das Verkehrsverhalten eines Fahrerlaubnisinhaber in der Vergangenheit ist nicht möglich, da die Kontrolldichte im Straßenverkehr gering (vgl. VGH München BeckRS 2022, 16888 Rn. 21 mwN) und seine tatsächliche Verkehrsteilnahme bzw. deren Umfang nicht nachprüfbar sind. Hinzu kommt, dass sich von ihm ausgehende Gefahren im Straßenverkehr ggf. auch wegen der Umsicht anderer Verkehrsteilnehmer im Einzelfall nicht realisieren. (Rn. 16) (redaktioneller Leitsatz)
3. Hat ein Fahrerlaubnisinhaber an der Aufklärung der Zweifel an seiner Fahreignung nicht mitgewirkt, ist nach § 11 Abs. 8 S. 1 FeV davon auszugehen, dass ihm die Fahreignung fehlt. Die daran anknüpfende Entziehung der Fahrerlaubnis zum Schutz von Leben und Gesundheit der anderen Verkehrsteilnehmer sowie des Betroffenen selbst ist zwingend und verhältnismäßig (vgl. VGH München BeckRS 2023, 15598 Rn. 28 mwN). (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Entziehung der Fahrerlaubnis wegen Nichtbeibringung eines ärztlichen Gutachtens, Suizidversuch, Mehrfache psychische Störungen, Ermittlung der Fahreignungsrelevanz, beanstandungsfreie Straßenverkehrsteilnahme, geringe Kontrolldichte, Umsicht anderer Verkehrsteilnehmer, Mitwirkungsobliegenheit, Vermutung fehlender Fahreignung, zwingende Fahrerlaubnisentziehung
Vorinstanz:
VG Regensburg, Beschluss vom 02.01.2023 – RO 8 S 22.2707
Fundstelle:
BeckRS 2023, 17193
Tenor
I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Der Streitwert wird unter Abänderung der Ziffer III. des Beschlusses des Verwaltungsgerichts vom 2. Januar 2023 für beide Rechtszüge auf jeweils 6.250,- EUR festgesetzt.
Gründe
1
Die Antragstellerin wendet sich gegen die sofortige Vollziehbarkeit der Entziehung ihrer Fahrerlaubnis der Klassen A, A1, AM, B, BE, C1, C1E, L und T.
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Aufgrund einer polizeilichen Mitteilung über eine Unterbringung im Bezirkskrankenhaus vom 3. bis 4. Mai 2022 wurde der Antragsgegnerin bekannt, dass die Antragstellerin einen Suizidversuch und einen derartigen Versuch in der Vergangenheit bereits mehrmals unternommen hatte. Nach dem Arztbrief des Bezirkskrankenhauses handelte es sich um eine wiederholte stationäre psychiatrische Aufnahme. Als Diagnosen werden eine posttraumatische Belastungsstörung (F43.1), eine kombinierte Persönlichkeitsstörung (F61) und eine Agoraphobie mit Panikstörung (F40.01) genannt und eine ambulante psychotherapeutische sowie psychiatrische Weiterbehandlung dringend empfohlen.
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Mit Schreiben vom 1. Juli 2022 teilte die Antragstellerin mit, sie erhalte eine psychotherapeutische Behandlung bei ihrem Psychiater. Für eine psychologische Behandlung müsse sie erst einen Therapeuten finden.
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Unter Bezugnahme auf den vorstehenden Sachverhalt forderte die Antragsgegnerin die Antragstellerin mit Schreiben vom 19. Juli 2022 auf, bis 19. September 2022 ein ärztliches Gutachten einer amtlichen Begutachtungsstelle für Fahreignung zu den Fragen beizubringen, ob sie aufgrund der genannten Erkrankungen nach Nr. 7 der Anlage 4 zur FeV wieder in der Lage sei, den Anforderungen zum Führen von Kraftfahrzeugen gerecht zu werden, ob eine ausreichende Compliance vorliege, ob durch Auflagen oder Beschränkungen (je vorhandene Fahrerlaubnisklassengruppe) das sichere Führen eines Kraftfahrzeugs gewährleistet werden könne, ob fachlich einzelfallbegründete regelmäßige (fahreignungserhaltende) Kontrolluntersuchungen (je vorhandene Fahrerlaubnisklassengruppe) notwendig seien und wann ggf. eine Nachbegutachtung erforderlich sei.
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Nachdem kein Gutachten vorgelegt worden war, entzog die Antragsgegnerin der Antragstellerin nach Anhörung mit Bescheid vom 17. Oktober 2022 die Fahrerlaubnis und forderte sie unter Androhung eines Zwangsgelds auf, ihren Führerschein spätestens innerhalb von fünf Tagen nach Zustellung des Bescheids abzugeben. Ferner wurde die sofortige Vollziehung dieser Verfügungen angeordnet.
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Am 21. November 2022 ließ die Antragstellerin durch ihren Bevollmächtigten Klage zum Verwaltungsgericht Regensburg erheben, über die noch nicht entschieden ist, und die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes beantragen.
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Das Verwaltungsgericht lehnte den Antrag gemäß § 80 Abs. 5 VwGO mit Beschluss vom 2. Januar 2023 ab. Zur Begründung ist im Wesentlichen ausgeführt, die auf § 11 Abs. 2 FeV gestützte Gutachtensanordnung sei formell und materiell rechtmäßig, insbesondere anlassbezogen und verhältnismäßig. Die Antragstellerin habe im Mai 2022 – wie auch schon mehrmals in der Vergangenheit – versucht, sich das Leben zu nehmen. Hinzu kämen die ärztlichen Diagnosen aus dem Entlassungsbericht des Bezirksklinikums, die in einer Zusammenschau eine Gutachtensanordnung nach Nr. 7 der Anlage 4 zur FeV rechtfertigen würden. Unschädlich sei, dass keine Beschränkung auf eine konkrete Nummer im Rahmen der Nr. 7 der Anlage 4 zur FeV erfolgt sei, da sämtliche Diagnosen unter diese Vorschrift fielen und eine konkrete Einordnung psychischer Erkrankungen regelmäßig einer ärztlichen Einschätzung bedürfe. Ferner sei unschädlich, dass die Antragsgegnerin im Vorfeld keine weiteren Aufklärungsmaßnahmen veranlasst habe. Denn vorliegend könne die Fahreignung nur durch ein ärztliches Gutachten eingeschätzt werden, weshalb sich eine Begutachtung auch durch eine ärztliche Stellungnahme vorab nicht erübrigt hätte. Die Behörde habe das ihr insoweit zustehende Ermessen daher in nicht zu beanstandender Weise ausgeübt. Hieran ändere auch die angespannte finanzielle Situation der Antragstellerin ändere nichts. Ihr habe auch nicht die Fahrerlaubnisklasse AM belassen werden können. Da auch die Klasse AM Fahreignung voraussetze, handle es sich hierbei nicht um ein milderes Mittel. Nachdem die Antragstellerin das geforderte Gutachten nicht fristgerecht vorgelegt habe, habe die Fahrerlaubnisbehörde gemäß § 11 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 FeV auf ihre mangelnde Fahreignung schließen dürfen bzw. müssen. Mit dem Einwand, sie sei dringend auf ihre Fahrerlaubnis angewiesen, könne die Antragstellerin ebenfalls nicht durchdringen.
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Mit ihrer Beschwerde, der die Antragsgegnerin entgegentritt, macht die Antragstellerin geltend, es sei schon nicht ersichtlich, worauf sich die Fahreignungsbedenken der Antragsgegnerin gründeten. Mit Schreiben vom 30. Mai 2022 habe das Gesundheitsamt ausdrücklich erklärt, die gesundheitliche Eignung könne nicht eingeschätzt werden. Das Vorgehen der Fahrerlaubnisbehörde konterkariere den Schutzzweck des BayPsychKHG. Außerdem habe die Ärztin des Bezirkskrankenhauses in ihrem Arztbrief ausgeführt, dass die Antragstellerin, die bereits einen Tag nach der Aufnahme wieder entlassen worden sei, sich von akuter Suizidalität klar und glaubhaft distanziert habe. Sie habe sich ferner in psychotherapeutischer Behandlung befunden. Die Argumentation sei auch deshalb nicht nachvollziehbar, weil die Antragstellerin schon seit ihrem zwölften Lebensjahr an den gestellten Diagnosen leide, es aber während der gesamten Zeit, in der sie ihre Fahrerlaubnis innehatte und sogar als Busfahrerin tätig gewesen sei, keine Verstöße im Straßenverkehr oder auch nur im Ansatz die Vermutung einer Gefährdung etwaiger Mitfahrer oder anderer Verkehrsteilnehmer gegeben habe. Es sei schon nicht nachvollziehbar, dass die Antragstellerin problemlos sämtliche Führerscheine habe erwerben können und nun im Alter von über 50 Jahren ein Gutachten angefordert und ihr die Fahrerlaubnis unverzüglich entzogen werde. Es sei offensichtlich, dass sie schon immer die Anforderungen zum Führen von Kraftfahrzeugen erfüllt, ihre Krankheit eingesehen und dies strikt getrennt habe. Soweit die Antragsgegnerin die Beibringungsanordnung damit begründe, dass die psychiatrische Weiterbehandlung dringend empfohlen worden sei, so habe die Antragstellerin schriftlich den Arzt angegeben, der die psychiatrische Behandlung weiterführe. Da es möglich sei, lediglich die Fahrerlaubnis der Klasse AM zu erwerben, frage sich, weshalb dies nicht bei der Antragstellerin, die kein eigenes Auto mehr besitze und seit Jahren auch nicht mehr mit einem Bus oder Lkw gefahren sei, möglich sein solle. Eine konkrete Gefährdung der Allgemeinheit sei damit schon ausgeschlossen. Die Entziehung der Fahrerlaubnis sei unverhältnismäßig. Es widerspreche nicht nur dem BayPsychKHG, dass eine Person, die seit Jahrzehnten trotz psychischer Erkrankung verantwortungsbewusst und ohne vorwerfbares Fehlverhalten am Straßenverkehr teilgenommen habe, völlig außen vorgelassen werde, sondern stigmatisiere diese auch in nicht nachvollziehbarer Weise.
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Wegen des weiteren Sach- und Streitstands wird auf die Gerichts- und Behördenakten Bezug genommen.
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Die zulässige Beschwerde ist unbegründet.
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Aus den im Beschwerdeverfahren vorgetragenen Gründen, auf deren Prüfung der Verwaltungsgerichtshof beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Sätze 1 und 6 VwGO), ergibt sich nicht, dass die Entscheidung des Verwaltungsgerichts zu ändern oder aufzuheben wäre.
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Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 des Straßenverkehrsgesetzes vom 5. März 2003 (StVG, BGBl I S. 310), im maßgeblichen Zeitpunkt des Bescheiderlasses zuletzt geändert durch das Gesetz vom 15. Januar 2021 (BGBl I S. 530), in Kraft getreten zum 1. Mai 2022, und § 46 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung über die Zulassung von Personen zum Straßenverkehr vom 13. Dezember 2010 (Fahrerlaubnis-Verordnung – FeV, BGBl I S. 1980), im maßgeblichen Zeitpunkt zuletzt geändert durch Gesetz vom 18. März 2022 (BGBl I S. 498), hat die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sich ihr Inhaber als ungeeignet oder nicht befähigt zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist. Werden Tatsachen bekannt, die Bedenken begründen, dass der Inhaber einer Fahrerlaubnis zum Führen eines Kraftfahrzeugs ungeeignet oder bedingt geeignet ist, finden die §§ 11 bis 14 FeV entsprechend Anwendung (§ 46 Abs. 3 FeV). Nach § 11 Abs. 2 Satz 1 FeV kann die Fahrerlaubnisbehörde die Beibringung eines ärztlichen Gutachtens, unter anderem ein Gutachten eines Arztes einer amtlich anerkannten Begutachtungsstelle (§ 11 Abs. 2 Satz 3 Nr. 5 FeV), anordnen, wenn Tatsachen bekannt werden, die Bedenken gegen die körperliche oder geistige Eignung des Fahrerlaubnisinhabers begründen. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn Erkrankungen oder Mängel nach Anlagen 4 oder 5 zur FeV bekannt geworden sind. Weigert sich der Betroffene, sich untersuchen zu lassen, oder bringt er das geforderte Gutachten nicht fristgerecht bei, darf nach § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV auf die Nichteignung geschlossen werden. Der Schluss auf die Nichteignung ist allerdings nur zulässig, wenn die Anordnung der Begutachtung formell und materiell rechtmäßig, insbesondere anlassbezogen und verhältnismäßig ist (stRspr, vgl. BVerwG, U.v. 17.11.2016 – 3 C 20.15 – BVerwGE 156, 293 = juris Rn. 19).
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Der Suizidversuch in Verbindung mit mehrfachen Suizidversuchen sowie stationären Einweisungen und den bekannt gewordenen Krankheitsdiagnosen waren geeignet, die Fahreignung der Antragstellerin in Frage zu stellen. Suizide oder Suizidversuche sind häufig Ausdruck einer Depression, Psychose oder Substanzabhängigkeit (vgl. „Suizid“, Pschyrembel, online-Klinisches Wörterbuch). Diese Grunderkrankungen stellen die Fahreignung in Frage (vgl. Nr. 7.5, 7.6, 8.3, 9.3 der Anlage 4 zur FeV). So ist nach Nr. 7.5.1 der Anlage 4 zur FeV die Fahreignung bei sehr schweren Depressionen nicht gegeben. In diesen Fällen sind die für das Kraftfahren notwendigen psychischen Fähigkeiten so erheblich herabgesetzt, dass ein ernsthaftes Risiko verkehrswidrigen Verhaltens besteht (vgl. Nr. 3.12.4 der Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung in Schubert/Huetten/Reimann/Graw, Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung, 3. Aufl. 2018, S. 126, die nach Anlage 4a zur FeV Grundlage für die Eignungsbeurteilung sind). Nach Nr. 7.5.2 der Anlage 4 zur FeV ist die Eignung erst wieder beim Abklingen der Symptome gegeben, wenn nicht mit einem Wiederauftreten gerechnet werden muss (Fahrzeuge der Gruppe 1), bzw. bei Symptomfreiheit (Fahrzeuge der Gruppe 2). Nach Nr. 7.6.1 der Anlage 4 zur FeV entfällt die Fahreignung auch bei einer akuten Schizophrenie und ist nach Ablauf erst wieder unter bestimmten Voraussetzungen gegeben (Nr. 7.6.2 der Anlage 4 zur FeV). Die Aufstellung in Anlage 4 zur FeV enthält nach deren Vorbemerkung 1 häufiger vorkommende Erkrankungen und Mängel, die die Fahreignung längere Zeit beeinträchtigen oder sogar aufheben, ist also nicht abschließend. Nachdem hier keine Hinweise auf Substanzabhängigkeit vorlagen, jedoch nach eigenen Angaben der Antragstellerin mehrere Suizidversuche und nach ärztlichen Angaben multiple psychische Störungen, die ggf. in ihrer Verbindung als Grunderkrankung in Betracht kamen, sowie mehrere Einweisungen ins Bezirkskrankenhaus erfolgt waren, lag es nahe, in diese Richtung zu ermitteln und die psychischen Störungen auf ihre Fahreignungsrelevanz hin zu untersuchen. Es spielt keine Rolle, dass sich die Antragstellerin im Bezirkskrankenhaus alsbald von Suizidalität distanziert hat, da dies über die Art und Schwere einer Grunderkrankung und deren Fahreignungsrelevanz noch nichts besagt.
14
In diesem Zusammenhang durfte die Antragsgegnerin auch berücksichtigen, dass die Antragstellerin nach eigener Einschätzung nicht hinreichend weiterbehandelt wurde. Sie hatte auf die schriftliche Anfrage, ob sie wie empfohlen eine regelmäßige psychotherapeutische und psychiatrische Weiterbehandlung erhalte, in der E-Mail vom 1. Juli 2022 keine kohärenten Angaben gemacht. Eine E-Mail vom selben Tag, wonach ihr psychologischer Psychotherapeut in Rente gehe und der Psychiater die bisherige psychotherapeutische Behandlung durch den Psychologen übernommen habe, ist nicht Bestandteil der Akten. In der vorhandenen E-Mail hatte die Antragstellerin mitgeteilt, von ihrem Psychiater, „also“ psychotherapeutisch, behandelt zu werden, dazu aber, insbesondere zu der abgefragten Frequenz, nichts weiter mitgeteilt. Sodann hatte sie in den Raum gestellt, dass sie eine psychologische Behandlung benötige, diese aber erst erhalte, wenn sie einen Therapeuten gefunden habe, und ggf. eine stationäre psychologische Behandlung in Anspruch nehmen müsse. Auch gegenüber der Ärztin des Bezirkskrankenhauses hatte sie den Umstand, dass ihr bisheriger Therapeut, ein Psychologe, in Rente gehe, als einen der psychosozialen Belastungsfaktoren genannt, die dem Suizidversuch zugrunde gelegen hätten. Dies hat die Antragsgegnerin im Sachverhalt der Beibringungsanordnung kurz angesprochen, ohne zu behaupten, dass die Antragstellerin nicht psychotherapeutisch behandelt werde. Jedenfalls durfte die Antragsgegnerin aus all dem schließen, dass die erforderliche fachliche Weiterbehandlung seinerzeit nicht gewährleistet war.
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Es ist auch nicht zu beanstanden, dass die Antragsgegnerin nach Erhalt der ersten nicht sehr aussagekräftigen Informationen die Vorlage des Entlassungsberichts des Bezirkskrankenhauses gefordert und ihre Ermittlungen nach der Stellungnahme des Gesundheitsamts nicht eingestellt hat. Insofern macht sie zu Recht geltend, dass das Gesundheitsamt aufgrund der ihm „vorliegenden Dokumente“ (Polizeibericht vom 3.5.2022, Mitteilung des Bezirkskrankenhauses über die Beendigung der Unterbringung vom 11.5.2022) die gesundheitliche Fahreignung nicht einschätzen konnte, da dort keine konkreten Diagnosen genannt waren, jedoch aufgrund der mehrfach unternommenen Suizidversuche und der Berufsangabe „Busfahrerin“ ausdrücklich empfahl, eine Stellungnahme des Bezirkskrankenhauses einzuholen. Es hielt weitere Nachforschungen also für medizinisch angezeigt. Da die als Ursache für den aktuellen Suizidversuch in Betracht kommenden psychischen Störungen fahreignungsrelevant sein konnten und wiederholte Suizidversuche auf eine anhaltende schwerwiegende psychische Störung hinwiesen, waren weitere Ermittlungen geboten.
16
Entgegen der Auffassung der Antragstellerin werden die der Allgemeinheit drohenden Gefahren durch einen möglicherweise ungeeigneten Fahrerlaubnisinhaber nicht durch eine bisher beanstandungsfreie Teilnahme am Straßenverkehr widerlegt. Auch wenn es für die Fahreignung der Antragstellerin spricht, dass sie trotz der nach ihren Angaben bereits vorhandenen Grunderkrankung die Fahrerlaubnis einschließlich der Klasse D erwerben konnte und es in Jahrzehnten zu keinen Auffälligkeiten im Straßenverkehr gekommen ist, vermag dies die medizinisch begründeten Zweifel an ihrer Fahreignung nicht auszuräumen. Denn psychische Störungen, die die Fahreignung unberührt lassen, können sich verschlimmern und in einer akuten Phase zum Wegfall der Fahreignung führen. Hier lag die Annahme nahe, dass die Erkrankung, kurz bevor die Antragsgegnerin ihre Ermittlungen aufgenommen hat, in einem wiederholten Suizidversuch kulminiert sind. Ferner gibt es – auch wenn die Antragstellerin alsbald aus dem Bezirkskrankenhaus entlassen worden ist – keinen Anhaltspunkt dafür, dass es sich nicht um einen ernsthaften Suizidversuch gehandelt haben könnte. Die Antragstellerin hat nach der im Internet veröffentlichten Gebrauchsanweisung eine mehrtägige Tagesdosis des Schlaf- und Beruhigungsmittels Tavor (2 bis 3 Tabletten täglich; Wirkstoff Lorazepam) eingenommen. Die Polizei hatte sie gemäß Art. 12 Satz 1 i.V.m. Art. 11 Satz 1, Art. 5 Abs. 2 BayPsychKG ohne bzw. gegen ihren Willen sofort vorläufig untergebracht. Außerdem ist eine belastbare Aussage über das Verkehrsverhalten der Antragstellerin in der Vergangenheit nicht möglich, da die Kontrolldichte im Straßenverkehr gering (vgl. BayVGH, B.v. 11.7.2022 – 11 CS 22.939 – DAR 2022, 648 Rn. 21 m.w.N.) und ihre tatsächliche Verkehrsteilnahme bzw. deren Umfang nicht nachprüfbar sind. Hinzu kommt, dass sich vom Fahrerlaubnisinhaber ausgehende Gefahren im Straßenverkehr ggf. auch wegen der Umsicht anderer Verkehrsteilnehmer im Einzelfall nicht realisieren. Die angeordnete ärztliche Begutachtung sollte gerade dazu dienen, eine dennoch oder wieder vorhandene Fahreignung im Fall der Antragstellerin festzustellen.
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Der Beibringungsanordnung steht auch nicht der Zweck des Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz (BayPsychKG) entgegen, einen „Beitrag zur Entstigmatisierung psychisch kranker Menschen“ zu leisten und einen sachgerechten Ausgleich zwischen deren Belangen und den staatlichen Interessen an der Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit herzustellen (BayLT Drs. 17/21573 S. 1). Die Anordnung sollte die Antragsgegnerin lediglich in die Lage versetzen, aufgrund einer ärztlichen Untersuchung einschätzen zu können, ob bzw. inwiefern die Erkrankung der Antragstellerin ihre Fahreignung beeinträchtigt. Diese Maßnahme hat jeder Fahrerlaubnisinhaber hinzunehmen, wenn Anhaltspunkte dafür sprechen, dass er an einer fahreignungsrelevanten Erkrankung leidet, unabhängig von der Art seiner Erkrankung. Der Schutz von Leben und Gesundheit der anderen Verkehrsteilnehmer sowie der Antragstellerin selbst gebietet es, dass die Fahrerlaubnisbehörde dieser Frage nachgeht.
18
Da die Antragstellerin an der Aufklärung nicht mitgewirkt hat, ist nach § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV davon auszugehen, dass ihr die Fahreignung fehlt. Die daran anknüpfende Entziehung der Fahrerlaubnis zum Schutz der genannten Rechtsgüter ist zwingend und verhältnismäßig (vgl. BayVGH, B.v. 14.6.2023 – 11 CS 22.2675 – juris Rn. 28). Auch eine Entziehung der Fahrerlaubnis mit Ausnahme der Klasse AM wäre nur dann in Betracht gekommen, wenn diesbezüglich die Fahreignung hätte festgestellt werden können. Die Fahrerlaubnisklassen C und D sind ohnehin bereits seit 2015/2016 erloschen und daher nicht entzogen worden. Ebenso wenig kommt es in Betracht, bei einem Fahrerlaubnisinhaber, der vorgibt, von seiner Fahrerlaubnis keinen Gebrauch zu machen, auf eine zwingend vorgesehene Entziehung der Fahrerlaubnis zu verzichten. Dies ist weder rechtlich vorgesehen noch in der Praxis überprüfbar und vollziehbar. Auch das Interesse, die Fahrerlaubnis zu behalten, wenn von ihr kein Gebrauch gemacht werden soll, erscheint nicht recht nachvollziehbar.
19
Schließlich hat die Antragsgegnerin ihre Befugnis zur Entziehung der Fahrerlaubnis auch nicht etwa verwirkt, weil die Antragstellerin schon seit Jahrzehnten an psychischen Störungen erkrankt ist, ohne dass Aufklärungsmaßnahmen oder sonstige Maßnahmen ergriffen worden wären. Es ist schon sehr zweifelhaft, ob dieses Rechtsinstitut im Rahmen sicherheitsrechtlicher Befugnisse, die nicht im Ermessen der Behörde stehen, überhaupt anzuwenden ist (vgl. BayVGH, B.v. 14.6.2023 a.a.O. Rn. 29; B.v. 5.1.2022 – 11 CS 21.2743 – juris Rn. 21 m.w.N.). Jedenfalls fehlt es an Umständen, die zum Verstreichen eines längeren Zeitraums (Zeitmoment) hinzukommen müssen und ein schutzwürdiges Vertrauen darauf begründen könnten, dass die Behörde auch künftig von ihrer Befugnis keinen Gebrauch machen werde (vgl. BVerwG, B.v. 11.9.2018 – 4 B 34.18 – BauR 2019, 511 Rn. 15 m.w.N.). Die Antragsgegnerin weist zu Recht darauf hin, dass sie bis Mai 2022 keine Kenntnis von der Erkrankung der Antragstellerin hatte.
20
Die Beschwerde war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 2 VwGO zurückzuweisen.
21
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1, 2 GKG i.V.m. den Empfehlungen in Nr. 1.5 Satz 1, Nr. 46.3, 46.5 und 46.9 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013. Für den Streitwert maßgeblich sind die Klassen BE, C1E und T, was insgesamt einen Streitwert von 12.500,- EUR ergibt, der im Eilverfahren zu halbieren ist (6.250,- EUR). Da die der Antragstellerin nach dem 31. Dezember 1988 erteilten (siehe Bl. 42 d.A.) Fahrerlaubnisklassen A und A1 jeweils mit den Schlüsselzahlen 79.03 und 79.04 der Anlage 9 zur FeV (Abschnitt B I Nr.126, 127: Begrenzung auf dreirädrige Fahrzeuge und Fahrzeugkombinationen; Abschnitt A I Nr. 19 der Anlage 3 zur FeV) eingeschränkt sind, wirken sie sich nicht streitwerterhöhend aus (vgl. BayVGH, B.v. 23.2.2015 – 11 ZB 14.2497 – juris Rn. 13). Die Befugnis zur Abänderung des Streitwertbeschlusses in der Rechtsmittelinstanz von Amts wegen folgt aus § 63 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 GKG.
22
Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).