Titel:
Erfolgreicher Eilantrag der Nachbarn gegen Anheben eines Dachstuhls
Normenketten:
VwGO § 80 Abs. 5, § 80a Abs. 3
BauGB § 34
BauNVO § 22 Abs. 2
Leitsätze:
1. Ist ein unbeplanter Innenbereich in offener Bauweise bebaut, weil dort nur Einzelhäuser, Doppelhäuser und Hausgruppen iSv § 22 Abs. 2 BauNVO den maßgeblichen Rahmen bilden, fügt sich ein grenzständiges Vorhaben iSv § 34 Abs. 1 BauGB grundsätzlich nicht nach der Bauweise ein, wenn es unter Beseitigung eines bestehenden Doppelhauses grenzständig errichtet wird, ohne mit dem verbleibenden Gebäudeteil ein Doppelhaus zu bilden. (Rn. 12) (redaktioneller Leitsatz)
2. Aus dem Umstand, dass der Gebäudehöhe für das Maß der Übereinstimmung eine besondere Bedeutung zukommt, kann nicht gefolgert werden, dass die Annahme eines Doppelhauses stets die Beibehaltung einer einheitlichen Firsthöhe bedeute. Ein in wechselseitig verträglicher und abgestimmter Weise aneinandergebautes Gebäude kann auch bei unterschiedlichen Gebäudehöhen und trotz Vor- und Rücksprüngen der Gebäudeaußenwände vorliegen. (Rn. 13) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Nachbarklage, Offene Erfolgsaussichten der Klage, Interessenabwägung, Rücksichtnahmegebot bei Doppelhausbebauung, Gebäudehöhe, Firsthöhe, Treu und Glauben, vollendete Tatsachen
Vorinstanz:
VG München, Beschluss vom 15.03.2023 – M 11 SN 23.1070
Fundstelle:
BeckRS 2023, 17182
Tenor
I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Die Beigeladenen tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens als Gesamtschuldner.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 3.750‚- Euro festgesetzt.
Gründe
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Die Antragsteller wenden sich im Rahmen des vorläufigen Rechtsschutzes als Nachbarn gegen eine den Beigeladenen erteilte Baugenehmigung zum Anheben des bestehenden Dachstuhls zur Wohnraumschaffung mit Umbau sowie Anbau von Balkonen/Überdachung. Sie sind Eigentümer des Grundstücks FlNr. …, Gemarkung M. … …, das direkt westlich an das Grundstück FlNr. … der Beigeladenen angrenzt. Auf den Grundstücken befindet sich jeweils eine Doppelhaushälfte, die an der gemeinsamen Grundstücksgrenze aneinandergebaut sind. Mit Beschluss vom 15. März 2023 hat das Verwaltungsgericht antragsgemäß die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragsteller gegen die Baugenehmigung angeordnet. Die Erfolgsaussichten der Klage seien offen. Das mit der Baugenehmigung genehmigte Vorhaben überschreite möglicherweise den Rahmen der wechselseitigen Verträglichkeit. Unabhängig davon sei den Interessen der Antragsteller Vorrang einzuräumen, da insbesondere mit der Aufstockung weitgehend vollendete Tatsachen geschaffen würden.
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Mit der Beschwerde wenden sich die Beigeladenen gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts und beantragen sinngemäß,
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den Beschluss des Verwaltungsgerichts abzuändern und den Antrag der Antragsteller auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage abzulehnen.
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Auch nach Durchführung der geplanten Änderungen bilde das Erscheinungsbild der Doppelhaushälften weiterhin ein harmonisches Ganzes, insbesondere werde die optische Gestaltung beibehalten. Die Erhöhung des Dachgeschosses und der sich daraus ergebende Höhenunterschied führe nicht dazu, dass ihre Doppelhaushälfte wesentlich höher oder massiver erscheine. Dadurch entstehe weder der Eindruck eines im Vergleich zum Doppelhaus der Antragsteller zusätzlichen Geschosses noch eines zusätzlichen Vollgeschosses im Dachgeschoss. Der Fortbestand des Charakters des Doppelhauses werde nicht erheblich beeinträchtigt. Ihr Interesse, von der Baugenehmigung Gebrauch zu machen, sei höher zu bewerten.
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Die Antragsteller beantragen,
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die Beschwerde zurückzuweisen.
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Durch die geplante Anhebung des Dachstuhls der Doppelhaushälfte der Beigeladenen um 1,29 m entstehe der Eindruck eines zusätzlichen Vollgeschosses im Dachgeschoss. Die Umbaumaßnahmen seien geeignet, die Wechselbeziehungen zwischen den Doppelhaushälften empfindlich zu stören.
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Der Antragsgegner stellt keinen Antrag, hält die Beschwerde der Beigeladenen aber für begründet. Durch die beabsichtigten Umbaumaßnahmen gehe der Doppelhauscharakter des Gesamtgebäudes nicht verloren. Das Verwaltungsgericht habe die Anforderungen der sogenannten Doppelhausrechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts an das erforderliche Mindestmaß an Übereinstimmung, das zwei Doppelhaushälften nach der Vornahme baulicher Änderungen oder Erweiterungen weiterhin aufweisen müssten, überspannt.
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Zum weiteren Vorbringen der Parteien und zu den übrigen Einzelheiten wird auf die beigezogenen Behördenakten sowie die Gerichtsakten Bezug genommen.
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Die zulässige Beschwerde bleibt ohne Erfolg.
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Das Vorbingen der Beigeladenen im Beschwerdeverfahren rechtfertigt keine Abänderung oder Aufhebung der angefochtenen Entscheidung nach § 80 Abs. 5 VwGO (§ 146 Abs. 4 Satz 3 und 6 VwGO). In Übereinstimmung mit der Einschätzung des Verwaltungsgerichts sind vorliegend die Erfolgsaussichten der Klage der Antragsteller als offen einzuschätzen (1.). Die somit maßgebliche Abwägung der gegenseitigen Interessen fällt zu Gunsten der Antragsteller aus (2.).
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1. Nach summarischer Prüfung anhand der Akten lässt sich nicht klären, ob das Gesamtgebäude durch die genehmigten Umbauten den Doppelhauscharakter verlieren würde und die Baugenehmigung deshalb rücksichtlos wäre und die Antragsteller in ihren Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Den rechtlichen Ansatzpunkt für Nachbarschutz bei Doppelhäusern bildet nach der Rechtsprechung das im Einfügungsgebot des § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB enthaltene Rücksichtnahmegebot. Ist ein unbeplanter Innenbereich in offener Bauweise bebaut, weil dort nur Einzelhäuser, Doppelhäuser und Hausgruppen im Sinn von § 22 Abs. 2 BauNVO den maßgeblichen Rahmen bilden, fügt sich ein grenzständiges Vorhaben im Sinn von § 34 Abs. 1 BauGB grundsätzlich nicht nach der Bauweise ein, wenn es unter Beseitigung eines bestehenden Doppelhauses grenzständig errichtet wird, ohne mit dem verbleibenden Gebäudeteil ein Doppelhaus zu bilden. (vgl. BVerwG, U.v. 19.3.2015 – 4 C 12.14 – BauR 2015, 1309; U.v. 5.12.2013 – 4 C 5.12 – BVerwGE 148, 290). Ein Doppelhaus im Sinn von § 22 Abs. 2 Satz 1 BauNVO ist anzunehmen, wenn zwei Gebäude auf benachbarten Grundstücken durch Aneinanderbauen an der gemeinsamen Grundstücksgrenze zu einer Einheit zusammengefügt werden und beide Haushälften in wechselseitig verträglicher und abgestimmter Weise aneinandergebaut werden (vgl. BVerwG, U.v. 19.3.2015 – 4 B 65.14 – ZfBR 2015, 702; U.v. 24.2.2000 – 4 C 12.98 – BVerwGE 110, 355). Ob dies der Fall ist, lässt sich weder abstrakt-generell noch mathematisch-prozentual bestimmen. Es bedarf einer Würdigung des Einzelfalls unter Betrachtung quantitativer und qualitativer Gesichtspunkte.
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Gemessen an diesen Maßstäben kann nicht ausgeschlossen werden, dass durch das geplante Bauvorhaben das nachbarschaftliche Austauschverhältnis zum Gebäude der Antragsteller aus dem Gleichgewicht gebracht werden könnte. Mit dem Beschwerdevorbringen wird diese Beurteilung nicht durchgreifend in Zweifel gezogen. Aus dem Umstand, dass der Gebäudehöhe für das Maß der Übereinstimmung eine besondere Bedeutung zukommt, kann zwar nicht gefolgert werden, dass die Annahme eines Doppelhauses stets die Beibehaltung einer einheitlichen Firsthöhe bedeute. Ein in wechselseitig verträglicher und abgestimmter Weise aneinandergebautes Gebäude kann auch bei unterschiedlichen Gebäudehöhen und trotz Vor- und Rücksprüngen der Gebäudeaußenwände vorliegen (vgl. BVerwG, U.v. 24.2.2000 – 4 C 12.98 – BVerwGE 110, 355; BayVGH, B.v. 25.7.2019 – 1 CS 19.821 – juris Rn. 12; OVG NW, B.v. 21.1.2021 – 10 B 1928/20 – juris Rn. 8). Im Hinblick auf die genehmigte Höhe der Dachanhebung von 1,29 m handelt es sich hier nicht um eine unwesentliche Umgestaltung. Das geplante Bauvorhaben, das zwar die Dachform und Dachneigung sowie die Außenwände nicht verändert und für den Wohnbereich im Dachgeschoss Dachflächenfenster anstelle von Dachgauben vorsieht, wirkt nach den vorliegenden Plänen aufgrund der Aufstockung und der Modernisierungsmaßnahmen deutlich massiver als das Doppelhaus der Antragsteller. Es spricht einiges dafür, dass es dadurch als eigenständiges Gebäude in Erscheinung treten könnte. Dieser Eindruck wird durch die Breite der jeweiligen Doppelhäuser von rd. 9,18 m noch verstärkt. Die im Verfahren vorgelegten Fotos, die die unterschiedlichen Gebäudehöhen in der näheren Umgebung zeigen, sind damit nicht vergleichbar, zumal die Versätze teils auch durch den Geländeverlauf bedingt sein dürften. Bei schmalen Reihenhäusern treten etwaige Höhenunterschiede durch Aufstockung, wie hier geschätzt bis zu 0,8 m, regelmäßig weniger massiv in Erscheinung. Zudem kommt es allein darauf an, ob das Bauvorhaben zusammen mit der vorhandenen grenzständigen Bebauung ein Doppelhaus bildet (vgl. BVerwG, B.v. 19.3.2015 a.a.O.). Soweit die Beigeladenen vortragen, dass ein Einfügen überhaupt nur dann zweifelhaft sein könne, wenn durch die Dachaufbauten ein neues Geschoss entsteht, kann dies der angeführten Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs vom 2. Juli 2010 (9 CS 10.894) nicht entnommen werden. Die qualitativen und quantitativen Kriterien werden bei der im Hauptsacheverfahren vorzunehmenden Gesamtwürdigung des Einzelfalls einer genauen Betrachtung und Bewertung zu unterziehen sein.
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Die Antragsteller sind auch nicht nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) ausgeschlossen, weil die vorgenommenen Umbaumaßnahmen an ihrem Gebäude den von der gemeinsamen Grundstückgrenze abgewandten Bereich betreffen und – unabhängig von der Frage der Erheblichkeit – nicht zu einem rechtlich erheblichen Ausbrechen aus dem wechselseitigen Austauschverhältnis führen (vgl. BayVGH, B.v. 27.7.2017 – 1 CS 17.918 – juris Rn. 10 zur vergleichbaren Einschränkung des Nachbarschutzes aus Art. 6 BayBO).
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2. Im Rahmen der somit vorzunehmenden allgemeinen Interessenabwägung ist zu Gunsten des Bauherrn zunächst zu berücksichtigen, dass die Klage der Antragsteller nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 212a Abs. 1 BauGB keine aufschiebende Wirkung hat. Auch wenn § 212a Abs. 1 BauGB die Gewichte bei der Interessenabwägung zugunsten des Bauherrn verschiebt, bedeutet das allerdings nicht, dass sich in den von § 212a Abs. 1 BauGb erfassten Fällen das Vollzugsinteresse des Bauherrn gegenüber dem Aufschubinteresse des Nachbarn regelmäßig durchsetzt. Die Vorschrift soll Investitionen und das Entstehen von Arbeitsplätzen fördern. Ein gesetzgeberischer Wille, dass dem Vollzugsinteresse gegenüber den Interessen Dritter generell der Vorrang einzuräumen ist, lässt sich § 212a BauGB hingegen nicht entnehmen. Die nach § 80a Abs. 3, § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO erforderliche Abwägung wird deshalb von § 212a Abs. 1 BauGB zwar in der Weise vorstrukturiert, dass dem Vollzugsinteresse ein erhebliches Gewicht beizumessen ist; die Abwägung wird aber nicht präjudiziert. Die Belange des Dritten haben bei der Abwägung umso mehr Gewicht, je schwerwiegender die ihm auferlegte Belastung wiegt und je mehr die Maßnahme der Verwaltung Unabänderliches bewirkt (vgl. BayVGH, B.v. 24.6.2022 – 15 CS 22.1389 – juris Rn. 16 m.w.N.).
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Gemessen an diesen Maßstäben ist vorliegend dem Aufschubinteresse der Antragsteller ein größeres Gewicht als den Interessen der Beigeladenen beizumessen. Das Verwaltungsgericht hat zu Recht darauf abgestellt, dass mit der Aufstockung weitgehend vollendete Tatsachen geschaffen würden. Ein gegebenenfalls erforderlicher Rückbau des Dachaufbaus würde zu erheblichen Kosten führen. Ein besonderes Vollzugsinteresse haben die Beigeladenen nicht vorgetragen.
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Die Beigeladenen haben die Kosten des Verfahrens als Gesamtschuldner zu tragen‚ da ihr Rechtsmittel erfolglos geblieben ist (§ 154 Abs. 2, § 159 Satz 2 VwGO).
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Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1‚ § 52 Abs. 1‚ § 53 Abs. 2 Nr. 2 und § 63 Abs. 2 Satz 1 GKG und entspricht der Festsetzung des Streitwerts durch das Verwaltungsgericht.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).