Inhalt

VG München, Urteil v. 28.04.2023 – M 5 K 20.30163
Titel:

Abschiebungsandrohung nach Italien rechtswidrig - Einzelfall

Normenketten:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2
EMRK Art. 3
GRCh Art. 4
Leitsatz:
Grundsätzlich sind Familien mit minderjährigen Kindern durch das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Italien nicht dem ernsthaften Risiko einer erniedrigenden Behandlung iSv Art. 4 GRCh ausgesetzt. Für eine Alleinerziehende mit einem massiv verhaltensauffälligen Kind besteht indes ein ernsthaftes Risiko, die existenziellen Bedürfnisse für sich und ihren Sohn (insbesondere Unterkunft) nicht befriedigen zu können und damit einer gegen Art. 4 GRCh, Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung ausgesetzt zu sein. (Rn. 28) (Rn. 68) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Asylantrag, Unzulässig, Zielstaat Italien, In Italien subsidiärer Schutz zuerkannt, Alleinerziehende Mutter, Kind massiv verhaltensauffällig, ernst, unzulässiger Asylantrag, Abschiebungsandrohung, Italien, subsidiärer Schutz, Existenzminimum, vulnerable Person
Fundstelle:
BeckRS 2023, 17166

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 10. Januar 2020 wird aufgehoben.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Klagepartei vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

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Die 1982 Klägerin ist ugandische Staatsangehörige. Sie reiste am … Oktober 2018 in die Bundesrepublik Deutschland. Sie stellte am … November 2018 einen förmlichen Asylantrag.
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Im Rahmen des Gesprächs zu Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates und der persönlichen Anhörung zur Klärung der Zulässigkeit des gestellten Asylantrags gab die Klägerin am 20. November 2018 an, in Italien Fingerabdrücke abgegeben zu haben. Dort sei sie obdachlos gewesen; obwohl sie krank gewesen sei, habe man ihre nicht geholfen. Sie sie von verschiedenen Männern vergewaltigt worden. Nur die Caritas habe ihr etwa geholfen.
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Die italienischen Behörden teilten mit Schreiben vom 20. November 2018 mit, dass der Klägerin in Italien am 21. Dezember 2017 eine Aufenthaltsgenehmigung aufgrund Zuerkennung subsidiären Schutzes zuerkannt worden sei.
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Mit Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 10. Januar 2020 wurde der Asylantrag als unzulässig abgelehnt, festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) nicht vorliegen, die Abschiebung nach Italien angeordnet sowie verfügt, dass die Klägerin nicht nach Uganda abgeschoben werden dürfe und das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet. Auf die Begründung des Bescheids wird Bezug genommen. Die Vollziehung der Abschiebungsandrohung wurde ausgesetzt. Der Bescheid wurde der Klägerin am 16. Januar 2020 zugestellt.
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Die Klagepartei hat am 23. Januar 2020 Klage erhoben und zuletzt beantragt,
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Der Bescheid des Bundesamtes vom 10. Januar (richtig statt: Oktober) 2020 (erhalten am 16.1.2020) wird aufgehoben.
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Aufgrund der mangelhaften Unterbringungssituation in Italien sei ihr Recht auf Sicherheit und Leben stark eingeschränkt gewesen. Da sie mittlerweile einen Sohn zur Welt gebracht habe, könne sie nicht davon ausgehen, dass eine angemessene Unterbringung für sich und ihren Sohn in Italien gewährleistet sei. Das Verwaltungsgericht Ansbach habe jüngst eine Unzulässigkeitsentscheidung im Fall der Rückkehr einer Frau allein mit ihrem sechs Monate alten Kind nach Italien aufgehoben und diese Entscheidung vorgelegt. Die Fachberatungsstelle … hat mit Schreiben vom 19.November 2018 mitgeteilt, dass sich die Klägerin als Opfer von Menschenhandel seit 31. Oktober 2018 in deren Beratung befinde. In einem Attest einer Fachärztin für Allgemeinmedizin vom 20. Februar 2020 ist festgehalten, dass die Klägerin u.a. an einer posttraumatischen Belastungsstörung, einer rezidivierenden depressiven Störung, gegenwärtig schwere depressive Episode und einer Panikstörung leide. Sie bedürfe einer langfristigen intensiven psychotherapeutischen Behandlung. Eine Abschiebung würde sicher zu einer weiteren massiven Verschlechterung der psychischen Symptomatik mit in diesem Rahmen möglicher Suizidalität führen. Nach einem Attest einer Frauenärztin vom 21. April 2023 wurde die Klägerin im Januar 2023 notfallmäßig wegen unklarer abdominaler Beschwerden behandelt. Nach einer Behandlung mit Antibiotika und einer Einnahme von Magnesium habe die Patientin am … März 2023 angegeben, beschwerdefrei zu sein.
8
Nach dem Bericht eines sozialpädiatrischen Zentrums vom 24. März 2023 leide der am ... 2019 geborene Sohn der alleinerziehenden Klägerin an massiven Auffälligkeiten in der sprachlich und sozial-emotionalen Entwicklung. Das Kind zeige eine massive motorische Unruhe, eine stark reduzierte Aufmerksamkeitsspanne und einen sozial-emotionalen Entwicklungsrückstand. Er benötige permanente Beaufsichtigung und klare Führung, um selbst- und fremdgefährdendes Verhalten zu vermeiden. Weiterhin zeige sich der Verdacht auf eine kombinierte Entwicklungsstörung von Sprache und Feinmotorik. Die gezeigte Intelligenzleistung liege im unterdurchschnittlichen Bereich (IQ 73), wobei dieses Ergebnis durch die massive Unruhe und Ablenkbarkeit verzerrt sei und seine wahren Fähigkeiten möglicherweise unterschätze. Es liege ein dringender heilpädagogischer Förderbedarf vor. Die seelische Gesundheit weiche bereits länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand ab. Eine Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft sei bereits gegeben und würde sich ohne Eingliederungsmaßnahmen verstärken. Es liege aber keine Mehrfachbehinderung vor. Nach dem Attest eines Klinikums vom … Februar 2023 liege bei dem Kind eine reizlose, verheilte Verbrühung an Kinn, Hals, Thorax sowie linkem Unterarm und linker Großzehe vor. Aktuell bestehe eine verheilte, stabile Narbensituation. Es werde die Verwendung fettender Cremes sowie bei Bedarf ausreichenden Sonnenschutzes empfohlen.
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Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat – ohne einen Antrag zu stellen – mit Schreiben vom … Februar 2020 angegeben, dass die Klägerin als subsidiär Schutzberechtigte in Italien den dortigen Staatsbürgern nahezu gleichgestellt sei. Es drohe ihr dort keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung.
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Mit Beschluss vom 7. Februar 2020 lehnte das Verwaltungsgericht die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage vom 23. Januar 2020 ab (M 5 S 20.30164). Denn im streitgegenständlichen Bescheid sei ausdrücklich angeordnet, dass die Vollziehung der Abschiebungsandrohung ausgesetzt werde.
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Am 24. April 2023 fand mündliche Verhandlung statt.
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Bezüglich weiterer Einzelheiten wird auf die Gerichts- und Behördenakten sowie die Niederschrift vom 24. April 2023 verwiesen.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Anfechtungsklage ist begründet.
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Der Bescheid des Bundesamtes vom 10. Januar 2020 ist im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Asylgesetz/AsylG) rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung/VwGO).
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1. Aufgrund der Gewährung subsidiären Schutzes für die Klägerin in Italien liegen grundsätzlich die Voraussetzungen für die Ablehnung des in Deutschland gestellten Asylantrags als unzulässig vor (§ 29 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG).
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Dem steht jedoch im vorliegenden Einzelfall entgegen, dass der Klägerin ein ernsthaftes Risiko einer gegen Art. 4 Charta der Grundrechte der Europäischen Union/GRCh sowie Art. 3 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten/EMRK verstoßende Behandlung bei einer Rückkehr nach Italien drohen würde.
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2. Grundsätzlich ist das Gericht der Ansicht, dass die Aufnahmebedingungen in Italien für Asylbewerber (auch „Dublin-Rückkehrer“) wie auch die Lebensbedingungen für Personen, denen Flüchtlingsschutz bzw. subsidiärer Schutz zuerkannt wurde, nicht an systemischen Mängeln leiden. Das gilt auch für Familien mit Kindern.
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Das Gericht verweist auf die ausführliche Darstellung des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts (SächsOVG, U.v. 22.3.2022 – 4 A 389/20.A – juris Rn. 24 ff.) und macht sich die Begründung dieses Urteils zu eigen:
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„1. Nach Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 und 3 Dublin III-VO ist der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat selbst für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig, wenn es sich als unmöglich erweist, den Antragsteller an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat zu überstellen. Dafür muss es wesentliche Gründe für die Annahme geben, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylantragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung i. S. v. Art. 4 der EU-Grundrechtecharta (im Folgenden: GRCh) mit sich bringen.
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Die Regelung beruht auf dem Prinzip des gegenseitigen Vertrauens darauf, dass die nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten in der Lage sind, einen gleichwertigen und wirksamen Schutz der in der EU-Grundrechtecharta anerkannten Grundrechte zu bieten (EuGH, Urt. v. 19. März 2019 – C-163/17 –, juris Rn. 80; BVerwG, Beschluss vom 17. Januar 2022 – 1 B 66.21 –, juris Rn. 18). Es gilt daher die Vermutung, dass die Behandlung der Asylantragteller in jedem einzelnen Mitgliedstaat der Europäischen Union in Einklang mit den Erfordernissen der EU-Grundrechtecharta, der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention steht (EuGH, Urt. v. 19. März 2019 – C-163/17 –, juris Rn. 82 ff.).
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Die Vermutung ist allerdings widerlegbar. Das ist dann der Fall, wenn der Asylantragsteller in dem eigentlich zuständigen Mitgliedstaat wegen systemischer Mängel des dortigen Asylverfahrens oder der dortigen Aufnahmebedingungen dem ernsthaften Risiko („real risk“) einer mit Art. 4 GRCh unvereinbaren Behandlung ausgesetzt ist (EuGH, Urt. v. 19. März 2019 – C-163/17 –, juris Rn. 85, 87). Systemisch sind Mängel, wenn sie im Rechtssystem des zuständigen Mitgliedstaates angelegt sind oder dessen Vollzugspraxis strukturell prägen (BVerwG, Beschluss vom 6. Juni 2014 – 10 B 35.14 –, juris Rn. 5). Solche Mängel treffen den Einzelnen nicht unvorhersehbar oder schicksalhaft, sondern lassen sich aus Sicht der deutschen Behörden und Gerichte wegen ihrer systemimmanenten Regelhaftigkeit verlässlich prognostizieren (BVerwG, Beschluss vom 6. Juni 2014 – 10 B 35.14 –, juris Rn. 5). Im Umkehrschluss folgt daraus, dass die Vermutung nicht schon bei einzelnen einschlägigen Regelverstößen des zuständigen Mitgliedstaats widerlegt ist (vgl. EuGH, Urt. v. 21. Dezember 2011 – C-411/10 –, juris Rn. 85; BVerwG, Beschluss vom 6. Juni 2014 – 10 B 35.14 –, juris Rn. 6).
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Systemische Mängel der Aufnahmebedingungen setzen voraus, dass die Lebensbedingungen derart schlecht sind, dass dem Antragsteller das ernsthafte Risiko einer Behandlung i. S. v. Art. 4 GRCh droht. Nach dieser Vorschrift darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden. Damit entspricht die Vorschrift dem Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (im Folgenden: EMRK), so dass sie nach Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh die gleiche Bedeutung und Tragweite wie Art. 3 EMRK besitzt (EuGH, Urt. v. 19. März 2019 – C-163/17 –, juris Rn. 91). Daher ist bei der Auslegung des Art. 4 GRCh auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu berücksichtigen.
23
Das Risiko einer Verletzung des Art. 4 GRCh kann in schlechten humanitären Verhältnissen begründet liegen (EuGH, Urt. v. 19. März 2019 – C-163/17 –, juris Rn. 92 ff.; bezogen auf Art. 3 EMRK: EGMR, Urt. v. 21. Januar 2011 – 30696/09 –, HUDOC Rn. 254; BVerwG, Beschluss vom 23. August 2018 – 1 B 42.18 –, juris Rn. 8 ff.). Allerdings muss dafür eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreicht sein (EuGH, Urt. v. 19. März 2019 – C-163/17 –, juris Rn. 91). Die Gleichgültigkeit der Behörden des Mitgliedstaats muss zur Folge haben, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befindet, die es ihr nicht erlaubt, ihre elementarsten Bedürfnisse, d. h. insbesondere sich zu ernähren, zu waschen und eine Unterkunft zu finden, zu befriedigen (EuGH, Urt. v. 19. März 2019 – C-163/17 –, juris Rn. 92). Diese Schwelle ist selbst in durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichneten Situationen nicht erreicht, sofern sie nicht mit extremer materieller Not verbunden sind (EuGH, Urt. v. 19. März 2019 – C-163/17 –, juris Rn. 93).
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Die Schwelle der Erheblichkeit kann in Bezug auf vulnerable, also besonders verletzliche Personen früher erreicht sein. Gegenüber dieser Personengruppe obliegt den Mitgliedstaaten eine besondere Schutzverpflichtung (bezogen auf Art. 3 EMRK: EGMR, Urt. v. 4. November 2014 – 29217/12 –, HUDOC Rn. 118 f.). Daher ist die besondere Verletzlichkeit bei der Bewertung des Risikos, einer erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu werden, zu berücksichtigen (EuGH, Urt. v. 19. März 2019 – C-297/17 –, juris Rn. 93; VGH BW, Urt. v. 29. Juli 2019 – A 4 S 749/19 –, juris Rn. 37). Aus der besonderen Verletzlichkeit können sowohl zusätzliche zwingende Bedarfe als auch überdurchschnittliche Beeinträchtigungen resultieren, die Bedarfe selbst zu erfüllen. Insbesondere den Bedürfnissen von Kindern ist Rechnung zu tragen. Wegen ihres Alters und ihrer Abhängigkeit haben diese besondere Bedürfnisse, die die staatlichen Stellen nach dem Übereinkommen über die Rechte des Kindes vom 26. Januar 1990 (VN-Kinderrechtskonvention) zu angemessenen Maßnahmen verpflichtet. Zur Vermeidung einer erniedrigen Behandlung ist es deshalb geboten, die Aufnahmebedingungen von minderjährigen Antragstellern so auszugestalten, dass keine Traumatisierung eintritt (EGMR, Urt. v. 4. November 2014 – 29217/12 –, HUDOC Rn. 119).
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In zeitlicher Hinsicht ist nicht nur ein ernsthaftes Risiko einer erniedrigenden Behandlung zum Zeitpunkt der Überstellung und während des Asylverfahrens auszuschließen. Gleiches muss auch für den Zeitraum nach einer (unterstellten) Zuerkennung des internationalen Schutzstatus im zuständigen Mitgliedstaat gewährleistet sein (EuGH, Urt. v. 19. März 2019 – C-163/17 –, juris Rn. 88 f.; BVerfG, Beschluss vom 7. Oktober 2019 – 2 BvR 721/19 –, juris Rn. 22). Diese Prüfung ist nur dann entbehrlich, wenn die Zuerkennung offenkundig ausgeschlossen ist (VGH BW, Urt. v. 29. Juli 2019 – A 4 S 749/19 –, juris Rn. 37).
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Bestehen ernsthafte Zweifel, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen des zuständigen Mitgliedstaates diesen Anforderungen genügen, bedarf es einer eingehenden Prüfung anhand aussagekräftiger und aktueller Erkenntnismittel (EuGH, Urt. v. 19. März 2019 – C-163/17 –, juris Rn. 90; BVerfG, Beschluss vom 10. Oktober 2019 – 2 BvR 1380/19 –, juris Rn. 15 f.). Kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen bezogen auf minderjährige Antragsteller den Anforderungen nicht genügen, kann ein ernsthaftes Risiko nur durch eine vor der Rücküberstellung abgegebene, hinreichend belastbare Zusicherung der Zielstaatsbehörden bezüglich der materiellen Bedingungen in der Unterkunft und der Erhaltung der Familieneinheit ausgeschlossen werden. Ob insoweit eine generelle Zusicherung für bestimmte Personengruppen oder eine einzelfallbezogene konkret individuelle Zusicherung erforderlich ist, ist vom Grad der Mängel abhängig (BVerfG, Beschluss vom 10. Oktober 2019 – 2 BvR 1380/19 –, juris Rn. 22 ff.).
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Maßgeblicher Zeitpunkt für die gerichtliche Beurteilung, ob systemische Schwachstellen vorliegen, ist nach § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG der Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung. Eine Verpflichtung, das Vorliegen systemischer Schwachstellen darüber hinaus bezogen auf einen früheren Zeitpunkt zu prüfen, besteht nicht. Sie ergibt sich insbesondere nicht aus dem Unionsrecht (a. A. OVG NRW, Urt. v. 19. Mai 2017 – 11 A 52/17.A –, juris Rn. 43; VG Freiburg, Urt. v. 14. Dezember 2020 – A 4 K 8024/17 –, juris Rn. 35 ff.). Ein von § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG abweichender Prüfungszeitpunkt ist weder in der Dublin III-VO vorgegeben noch zur Gewährleistung eines effektiven Grundrechtsschutzes erforderlich.
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2. Nach diesen Maßstäben sind Familien mit minderjährigen Kindern durch das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Italien grundsätzlich nicht dem ernsthaften Risiko einer erniedrigenden Behandlung i. S. v. Art. 4 GRCh ausgesetzt. Insbesondere existiert eine hinreichende Zusicherung für eine familiengerechte Unterbringung im Anschluss an die Rückführung nach Italien.
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Die Italienische Republik hatte aufgrund der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (Urt. v. 4. November 2014 – 29217/12 –) in Rundschreiben vom 2. Februar, 15. April und 8. Juni 2015 an die Dublin-Staaten und die EU-Kommission zugesichert, Familien mit Kindern zukünftig ausschließlich in den für Familien geeigneten sogenannten SPRAR-Unterkünften unterzubringen. Dies erachtete der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte grundsätzlich für ausreichend, um das Risiko einer Verletzung von Art. 3 EMRK auszuschließen (EGMR, Urt. v. 4. Oktober 2016 – 30474/14 –, HUDOC Rn. 15, 34; Urt. v. 4. Oktober 2016 – 32275/15 –, HUDOC Rn. 12, 27 f.), auch wenn Zusicherungen in Einzelfällen nicht eingehalten wurden (EGMR, Urt. v. 15. Mai 2018 – 67981/16 –, HUDOC Rn. 20 ff.).
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Ende des Jahres 2018 verschlechterten sich mit dem Erlass des sogenannten Salvini-Dekrets (Dekret No. 113/2018 über Sicherheit und Migration) die Aufnahmebedingungen in Italien. Die von „SPRAR“ in „SIPROIMI“ unbenannten Unterkünfte standen Asylantragstellern und Dublin-Rückkehrern mit Ausnahme unbegleiteter Minderjähriger ab diesem Zeitpunkt nicht mehr zur Verfügung. Bei den verbliebenen Unterkünften für Asylantragsteller und Dublin-Rückkehrer (CAS und CARA) wurde das Leistungsangebot eingeschränkt (BFA, Länderinformationsblatt Italien vom 9. Oktober 2019, S. 13; AIDA, Forms and levels of material reception conditions, 30. November 2020). Es konnte daher ohne eingehende Prüfung nicht mehr von einer kind- und familiengerechten Unterbringung sowie einem sofortigen Zugang für Familien mit Kindern nach der Ankunft in Italien ausgegangen werden, auch nicht in Anbetracht des neuen Rundschreibens der Italienischen Republik vom 8. Januar 2019, in dem dies zugesichert worden war (BVerfG, Beschluss vom 10. Oktober 2019 – 2 BvR 1380/19 –, juris Rn. 23).
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Inzwischen wurden allerdings durch das am 22. Oktober 2020 in Kraft getretene Dekret No. 130/2020 die Aufnahmebedingungen in Italien wieder verbessert. Danach sollen zukünftig alle Asylantragsteller so schnell wie möglich in die von „SIPROIMI“ in „SAI“ umbenannten Unterkünfte wechseln. Diese bieten neben Leistungen zur Erfüllung von Grundbedürfnissen auch Maßnahmen mit dem Ziel einer umfassenden Integration (Gesellschaft, Arbeitsmarkt, Sprache) an (BFA, Länderinformationsblatt Italien, Stand: 11. November 2020, S. 14; AIDA, Country Report: Italy, 2020, S. 119). Im Vergleich zu den CAS-Unterkünften gelten sie als besser ausgestattet. Über die geänderte Lage informierte die Italienische Republik die anderen Dublin-Staaten mit Rundschreiben vom 8. Februar 2021. Unter Berücksichtigung dieser Entwicklung verneinte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK in einem Fall, in dem eine Überstellung einer alleinerziehenden Mutter mit zwei Kindern im Grundschulalter nach Italien beabsichtigt war (EGMR, Urt. v. 23. März 2021 – 46595/19 –, HUDOC).
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Der Senat folgt dieser Einschätzung und geht davon aus, dass die Aufnahmebedingungen in Italien unter Berücksichtigung des Rundschreibens vom 8. Februar 2021 auch bezogen auf Familien mit minderjährigen und damit vulnerablen Kindern grundsätzlich nicht im Widerspruch zu Art. 4 GRCh und Art. 3 EMRK stehen. Diese Bewertung beruht auf folgender, nach Auswertung der Erkenntnismittel sich ergebenden Lage während des Asylverfahrens (a) und nach (unterstellter) Stattgabe des Asylantrags (b); sie berücksichtigt des Weiteren die aktuelle Rechtsprechung anderer Oberverwaltungsgerichte (c).
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a) Familien mit minderjährigen Kindern, die im Rahmen eines Dublin-Verfahrens nach Italien überstellt werden, erhalten während des Asylverfahrens eine angemessene Unterkunft und Versorgung (aa) sowie Zugang zu notwendigen medizinischen Behandlungen (bb). Sie können außerdem die zum Erhalt anderer notwendiger Leistungen erforderliche Registrierung vornehmen (cc).
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aa) Es ist auch ohne individuelle Garantieerklärung gewährleistet, dass Familien mit minderjährigen Kindern unmittelbar im Anschluss an die Rückführung nach Italien eine familiengerechte Unterkunft erhalten.
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Nach dem Dekret No. 130/2020 werden Asylantragsteller zunächst in staatlichen Erstaufnahmeeinrichtungen oder provisorischen Einrichtungen untergebracht (vgl. zu den Inhalten des Dekrets: EGMR, Urt. v. 23. März 2021 – 46595/19 –, HUDOC Rn. 32 ff.). In diesen Einrichtungen sollen nunmehr Leistungen in den Bereichen Gesundheit, soziale und psychologische Betreuung, Sprachkurse und Rechtsberatung angeboten werden. Von diesen Einrichtungen aus sollen vulnerable Asylantragsteller in die von „SIPROIMI“ in „SAI“ umbenannten Unterkünfte wechseln, soweit dort ausreichende Kapazitäten verfügbar sind. Zur Gruppe der vulnerablen Personen gehören nach dem Dekret u. a. Kinder, Schwangere sowie behinderte und schwer erkrankte Menschen. Im Rundschreiben vom 8. Februar 2021 an die anderen Dublin-Staaten hat die Italienische Republik darüber informiert, dass nunmehr die Möglichkeit bestehe, Asylantragsteller als Familien in SAI-Unterkünften aufzunehmen. Das Rundschreiben schließt mit dem Hinweis: “[…] in the framework of the new system these dedicated centres will host even Dublin family groups with minors, returned from other Member States, in accordance with the Tarakhel judgement.“
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Zweifel, dass diese allgemeine Zusicherung tatsächlich eingehalten wird, bestehen auf Grundlage der aktuellen Erkenntnislage nicht. Die Erweiterung des Personenkreises, der in den SAI-Unterkünften untergebracht wird, beruht auf einer Novelle des italienischen Asylrechts und ist Ausdruck einer veränderten italienischen Asylpolitik. Deshalb bestehen derzeit keine Zweifel an dem Willen der italienischen Behörden, die Zusicherung zu erfüllen. Auch gibt es keine Anhaltspunkte, dass die Erfüllung der Zusicherung aufgrund fehlender oder vollständig ausgeschöpfter Kapazitäten unmöglich wäre. Die SAI-Unterkünfte werden durch den sogenannten Servizio Centrale von Rom aus verwaltet. Nach dessen Angaben waren am 10. März 2022 insgesamt 32.456 Plätze vorhanden (www.retesai.it/la-storia/#; Abruf am 10. März 2022). Die Anzahl der in diesen Einrichtungen untergebrachten Personen betrug Ende 2020 25.574 (AIDA, Country Report: Italy, 2020, S. 116). Im Jahr 2021 trat keine deutliche Verschärfung der Auslastungssituation der Unterbringungseinrichtungen ein. Zwar stieg die Anzahl der Asylanträge in Italien. Bezogen auf die Ankünfte von Asylantragstellern über das Mittelmeer ist die Zahl von 67.477 in 2021 aber im Vergleich zu der von 170.000 in 2014, 154.000 in 2015 und 181.000 in 2016 (https://data2.unhcr.org/en/situations/mediterranean/location/5205; Abruf am 10. März 2022) nicht übermäßig hoch. Hinreichende Anhaltspunkte für eine Kapazitätserschöpfung infolge der Aufnahme ukrainischer Staatsangehöriger in Italien sind derzeit ebenfalls nicht ersichtlich. Zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung ist nicht absehbar, wie viele ukrainische Staatsangehörige tatsächlich nach Italien fliehen werden. Das ist insbesondere von der Dauer und dem Ausgang des Krieges abhängig. Außerdem bestehen keine Anhaltspunkte, dass Italien nicht willens oder nicht fähig wäre, erforderliche Kapazitätserweiterungen vorzunehmen. Dass in Italien ein nicht unerhebliches Ausbaupotential besteht, wird durch frühere Unterbringungszahlen belegt. Die Zahl der in den verschiedenen Aufnahmeeinrichtungen insgesamt untergebrachten Personen war Ende 2020 mit 79.938 deutlich geringer als zu den Jahresenden 2019 (91.424) und 2018 (173.603) (AIDA, Country Report: Italy, 2020, S. 116; ders., Country Report: Italy, 2018, S. 93).
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Im Übrigen besteht für Familien mit minderjährigen Kindern selbst dann kein ernsthaftes Risiko einer erniedrigenden Behandlung, wenn im Einzelfall eine zeitnahe Unterbringung in einer SAI-Einrichtung nicht möglich sein sollte. Durch die erfolgte Gesetzesnovelle kann grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass vulnerable Personen jedenfalls zeitweilig auch in den sogenannten CAS-Unterkünften (Centri di accoglienza straordinaria) angemessen untergebracht werden können (EGMR, Urt. v. 23. März 2021 – 46595/19 –, HUDOC Rn. 55). In diesen Einrichtungen leben weiterhin die meisten Asylantragsteller. Dort erhalten sie Essen, erforderliche Hygieneprodukte, ein kleines Taschengeld (2,50 bis 7,50 € pro Tag) und eine Telefonkarte. Seit der jüngsten Gesetzesreform gehören zum vorgesehenen Leistungsumfang zudem Sprachkurse und psychologische Unterstützung (AIDA, Country Report: Italy, 2020, S. 107 ff.). Entgegen der Einschätzung der Schweizerischen Flüchtlingshilfe fehlt es an Anhaltspunkten dafür, dass die beschlossene Leistungsausweitung nicht umgesetzt werden wird. Belegt wird die Einschätzung der Schweizerischen Flüchtlingshilfe lediglich durch einen pauschalen Verweis auf ein Interview mit dem Vorsitzenden einer italienischen Hilfsorganisation (SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, 10. Juni 2021, S. 12). Zudem führt eine Vertreterin der Schweizerischen Flüchtlingshilfe an anderer Stelle aus, dass sich die Bedingungen für die Ausschreibung der CAS-Unterkünfte geändert und die finanzielle Grundlage infolgedessen nicht mehr so prekär sei (Romer, Asylmagazin 2021, 207 [208]).
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Der Zugang zu einer familiengerechten Unterbringung in einer Aufnahmeeinrichtung wird nicht durch die Befugnis der zuständigen Präfektur vereitelt, das Recht auf Unterbringung zu entziehen. Eine Entziehung kann nach italienischem Recht erfolgen, wenn der Asylantragsteller sich nicht in der zugewiesenen Einrichtung vorgestellt oder die Einrichtung verlassen hat, ohne die zuständige Präfektur zu benachrichtigen, nicht zur persönlichen Anhörung bei den Asylbehörden erschienen ist oder gegen die Hausordnung der Aufnahmeeinrichtung verstößt (AIDA, Country Report: Italy, 2020, S. 109 f.). Aus einer in der Vergangenheit erfolgten Entziehung des Unterbringungsanspruchs folgt aber nicht, dass Familien bei einer Rückkehr nach Italien zeitweilig oder dauerhaft eine Unterbringung in einer staatlichen Einrichtung versagt werden wird. Dies stünde nicht nur im Widerspruch zur Zusicherung im Rundschreiben vom 8. Februar 2021, sondern auch zum Unionsrecht. Es ist geklärt, dass ein Mitgliedstaat keine Sanktion vorsehen darf, mit der die im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen, die sich auf Unterkunft, Verpflegung und Kleidung beziehen, auch nur zeitweilig entzogen werden (EuGH, Urt. v. 12. November 2019 – C-233/18 –, juris Rn. 45 ff.). Anhaltspunkte dafür, dass Italien diese unionsrechtliche Vorgabe bezogen auf Familien mit minderjährigen Kindern nicht beachtet, bestehen nicht. Sie ergeben sich insbesondere nicht aus der hohen Anzahl von Entscheidungen zur Entziehung des Unterbringungsanspruchs. Im Zeitraum von 2016 bis 2019 ergingen in mindestens 100.000 Fällen entsprechende Entscheidungen (AIDA, a. a. O., S. 110). Es drängt es sich auf, dass diese hohe Zahl in der starken Sekundärmigration von Italien in andere Mitgliedstaaten der Europäischen Union begründet liegt. In den Jahren 2016 bis 2019 stellte allein die Beklagte für 67.177 Personen Übernahmeersuchen nach der Dublin III-VO an die Italienische Republik (2016: 14.175, 2017: 17.286, 2018: 22.706, 2019: 13.010; BAMF, Das Bundesamt in Zahlen 2016-2019). Weitergehende Schlussfolgerungen aus der Quantität von Entziehungsentscheidungen sind aufgrund der vorliegenden Erkenntnismittel nicht möglich. Andere Anhaltspunkte, dass Familien in signifikanter Zahl gegen ihren Willen eine Aufnahmeeinrichtung verlassen mussten oder eine Unterbringung wegen einer früheren Entziehungsentscheidung abgelehnt wurde, lassen sich den vorliegenden Erkenntnismitteln ebenfalls nicht entnehmen. Dass Italien die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs noch nicht kodifiziert hat, ist unerheblich. Für eine Umsetzung der Rechtsprechung bedarf es nicht ihrer Kodifizierung in nationales Recht.
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Durch die Organisation des Überstellungsverfahren ist außerdem gewährleistet, dass eine familiengerechte Unterbringung unmittelbar im Anschluss an die Überstellung nach Italien erfolgt. Nach den Angaben des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, die mit der Auskunft des Auswärtigen Amts übereinstimmen (AA, Anfragebeantwortung an das VG Wiesbaden vom 6. Januar 2020), wird eine Überstellung von vulnerablen Personen den italienischen Behörden mehr als eine Woche vorher angekündigt. Dabei wird auch ein erforderlicher Unterstützungsbedarf mitgeteilt. Erst nach Zustimmung der italienischen Behörden wird die Überstellung durchgeführt. Die Zustimmung erfolgt nur, wenn eine angemessene Unterkunft und Versorgung sichergestellt ist. Wenn dies nicht gewährleistet werden kann, erfolgt die formelle Aufforderung an die Beklagte, den Rückführungstermin zu verschieben. Es wird dann versucht, zu einem späteren Zeitpunkt die Überstellung in gleicher Verfahrensweise durchzuführen. Die Überstellung wird an dem von den italienischen Behörden zugewiesenen Flughafen abgeschlossen. Von dort aus werden Familien mit minderjährigen Kindern üblicherweise von Mitarbeitern der Unterkunft abgeholt. Falls mehrere Tage zwischen der Ankunft und der Weiterreise innerhalb Italiens liegen, werden Familien vorübergehend in einer Einrichtung in der Nähe des Flughafens untergebracht (BAMF, Bericht zur Aufnahmesituation von Familien mit minderjährigen Kindern nach einer Dublin-Überstellung in Italien, 2. April 2020, S. 25 ff., 48 ff.). Dass dieses Verfahren tatsächlich umgesetzt wird, wird durch eine Einschätzung des Direktors des italienischen Flüchtlingsrates (Consiglio Italiano per i Rifugiati, CIR) belegt. Dieser erklärte im Januar 2020 gegenüber einer Delegation des Bundesamtes, dass Familien in Italien keine Obdachlosigkeit drohe (BAMF, Bericht zur Aufnahmesituation von Familien mit minderjährigen Kindern nach einer Dublin-Überstellung in Italien, 2. April 2020, S. 40).
40
bb) Der Zugang zu medizinischer Versorgung ist in Italien sichergestellt. Es ist davon auszugehen, dass Krankheiten in Italien behandelbar sind und ausreichende Behandlungskapazitäten existieren. Das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO) bearbeitet aufgrund dessen nur in sehr spezifischen Einzelfällen Anfragen zu Behandlungsmöglichkeiten in Italien (BFA, Länderinformationsblatt Italien vom 11. November 2020, S. 21). Der tatsächliche Zugang von Asylantragstellern zu medizinischer Versorgung ist ebenfalls gegeben. Asylantragsteller haben in gleicher Weise wie italienische Bürger einen Anspruch auf medizinische Versorgung, der mit der Registrierung eines Asylantrags entsteht. Bis zum Zeitpunkt der Registrierung werden medizinische Basisleistungen, insbesondere eine kostenfreie Notfallversorgung, gewährleistet. Bürokratische Hindernisse lassen sich mit Hilfe der Betreiber der Aufnahmeeinrichtungen überwinden. Zusätzlich sind in den Erstaufnahmeeinrichtungen Ärztinnen und Ärzte beschäftigt, die medizinische Erstuntersuchungen und Notfallmaßnahmen vornehmen (BFA, Länderinformationsblatt Italien vom 11. November 2020, S. 19 ff.; BAMF, Bericht zur Aufnahmesituation von Familien mit minderjährigen Kindern nach einer Dublin-Überstellung in Italien, 2. April 2020, S. 10 f., 15 f., 21 f., 37 f., 45 f.; AIDA, Country Report: Italy, 2020, S. 127).
41
cc) Der Zugang zu weiteren erforderlichen staatlichen Leistungen ist gegeben. Voraussetzung, um Sozialleistungen in Anspruch zu nehmen, ist teilweise eine Registrierung am Wohnort („residenza“) (AIDA, Country Report: Italy, 2020, S. 171). Diese können Asylantragsteller jedenfalls inzwischen wieder in zumutbarer Weise vornehmen, weil der Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof) die durch das sogenannte Salvini-Dekret geschaffenen Erschwernisse bei der Registrierung für verfassungswidrig erklärt hat (vgl. AIDA, a. a. O., S. 171; Human Rights Watch, Finally, Good News for Asylum Seekers in Italy, www.hrw.org/news/2020/10/07/finally-good-news-asylum-seekers-italy; Abruf am 10. März 2020).
42
b) Im Anschluss an die Zuerkennung internationalen Schutzes besteht für Familien mit minderjährigen Kindern ebenfalls grundsätzlich kein ernsthaftes Risiko, einer erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Es ist davon auszugehen, dass Familien mit minderjährigen Kindern nach Stattgabe ihres Asylantrags zunächst für in der Regel ein Jahr in ihrer während des Asylverfahrens bewohnten Aufnahmeeinrichtung verbleiben können. Dadurch sind für diesen Zeitraum mit Art. 4 GRCh und Art. 3 EMRK vereinbare humanitäre Verhältnisse gewährleistet. Nach den SAI-Richtlinien können Schutzberechtigte sechs Monate dort untergebracht werden. Diese Zeit kann für vulnerable Schutzberechtigte, zu denen Familien mit minderjährigen Kindern inzwischen wieder gehören, um sechs Monate verlängert werden. Eine letztmalige Verlängerung um weitere maximal sechs Monate kann nur erfolgen bei andauernden schwerwiegenden gesundheitlichen Problemen oder um ein Schuljahr abschließen zu können (SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, 2020, S. 55; AIDA, Country Report Italy 2019, S. 157).
43
Auch für die Zeit nach der Unterbringung in der Aufnahmeeinrichtung ist es hinreichend gesichert, dass Familien mit minderjährigen Kindern bedarfsgerecht untergebracht sind (aa), ausreichende Mittel zur Existenzsicherung haben (bb) und erforderliche medizinische Leistungen erhalten (cc).
44
aa) Familien mit minderjährigen Kindern wird es voraussichtlich gelingen, unmittelbar im Anschluss an die Unterbringung in der Aufnahmeeinrichtung eine bedarfsgerechte Unterkunft zu erhalten.
45
Der Senat ist sich bewusst, dass es für international Schutzberechtigte nicht einfach ist, in Italien auf dem freien Markt eine Wohnung zu erhalten. Knapp 80 Prozent der Wohneinheiten in Italien befinden sich im Eigentum einer dort lebenden Person (Dotsey/Lumley-Sapanski, Temporality, refugees and housing: The effects of temporary assistance on refugee housing outcomes in Italy, Cities 2021, S. 4; UNHCR, The refugee house – guide to housing Autonomy, 2021, S. 7). Diese Struktur erschwert die Anmietung einer Wohnung. Es bedarf regelmäßig einer größeren Zahl an Kontaktaufnahmen auf Vermietungsangebote. Dies ist für international Schutzberechtigte, die regelmäßig nur über eingeschränkte italienische Sprachkenntnisse verfügen, nachteilig. Um die zu zahlende Miete aufzubringen, kann unter bestimmten Voraussetzungen staatliche Unterstützung aus dem „National Fund to support acces to rented housing“ in Anspruch genommen werden (vgl. dazu UNHCR, a. a. O., S. 22).
46
Falls eine Anmietung auf dem freien Wohnungsmarkt nicht gelingen sollte, können sich Familien um eine staatlich geförderte Wohnung bemühen. Der öffentliche soziale Wohnungsbau hat einen Anteil zwischen 5 und 6 Prozent des Gesamtimmobilienmarkts (vgl. UNHCR, The refugee house – guide to housing Autonomy, 2021, S. 6; Dotsey/Lumley-Sapanski, Temporality, refugees and housing: The effects of temporary assistance on refugee housing outcomes in Italy, Cities 2021, S. 4). In absoluten Zahlen umfasst der öffentliche Wohnungsbau rund 800.000 Einheiten mit einer Kapazität für fast zwei Millionen Menschen (UNHCR, a. a. O., S. 6). Dem sollen 650.000 Anträge auf Zuteilung einer Sozialwohnung gegenüberstehen (UNHCR, a. a. O., S. 6; Dotsey/Lumley-Sapanski, a. a. O., S. 4). Es kann daher zwar abhängig von der Lage in der jeweiligen Region teilweise mehrere Jahre dauern, bis eine berechtigte Person eine Sozialwohnung erhält (vgl. Dotsey/Lumley-Sapanski, a. a. O., S. 4; SFH/Pro Asyl, Anfragebeantwortung vom 29. Oktober 2020, S. 3). Die Wartezeit ist aber nicht einheitlich und kann deutlich kürzer sein. Denn durch die Rechtsprechung des italienischen Verfassungsgerichts (Urteile no. 44/2020 und no. 9/2021) ist geklärt, dass die Vergabe der Sozialwohnungen nicht nach Wartezeit, sondern allein nach dem Kriterium der Dringlichkeit zu erfolgen hat (vgl. UNHCR, a. a. O., S. 30, 32).
47
Des Weiteren können sich Familien an die italienischen Kirchen und Hilfsorganisationen wenden. Diese bieten sowohl Unterkünfte für anerkannte Schutzberechtigte als auch Unterstützung bei der Wohnungssuche an (vgl. AIDA, Country Report: Italy, 2020, S. 120; SFH/Pro Asyl, Anfragebeantwortung vom 29. Oktober 2020, S. 7).
48
Von dieser Lage ausgehend wird es Familien mit minderjährigen Kindern nach einer Zuerkennung internationalen Schutzes – jedenfalls mit Unterstützung der staatlichen Sozialdienste oder von Hilfsorganisationen – im Allgemeinen rechtzeitig gelingen, außerhalb des Systems der Aufnahmeeinrichtungen eine angemessene Unterkunft zu erhalten und damit eine Obdachlosigkeit zu vermeiden. Wenn ihnen keine Anmietung einer Wohnung auf dem freien Wohnungsmarkt gelingt, haben sie einen dringenden Bedarf auf Zuteilung von Wohnraum, der aller Voraussicht nach durch staatliche Stellen und Hilfsorganisationen erfüllt werden wird. Dass in einem solchen Fall Wohnraum bereitgestellt wird, wird sowohl durch die Einschätzung des Direktors des italienischen Flüchtlingsrates (BAMF, Bericht zur Aufnahmesituation von Familien mit minderjährigen Kindern nach einer Dublin-Überstellung in Italien, 2. April 2020, S. 40) als auch durch eine von ACCORD eingeholte Einschätzung bestätigt (ACCORD, Anfragebeantwortung an den VGH Hessen, 18. September 2020, S. 9). Für die Richtigkeit dieser Einschätzungen spricht, dass in einer der wenigen existierenden wissenschaftlichen Untersuchungen zur Wohnsituation von international Schutzberechtigten dargelegt wird, dass Familien im Vergleich zu schutzberechtigten Einzelpersonen leichter eine Wohnung erhalten (Dotsey/Lumley-Sapanski, Temporality, refugees and housing: The effects of temporary assistance on refugee housing outcomes in Italy, Cities 2021, S. 6).
49
Nicht im Widerspruch zur Einschätzung des Senats steht die Kritik der Schweizerischen Flüchtlingshilfe und von Pro Asyl, dass in Italien „viele Personen mit Schutzstatus“ obdachlos seien und in verschiedenen italienischen Städten auf der Straße oder in informellen Siedlungen lebten (SFH/Pro Asyl, Anfragebeantwortung vom 29. Oktober 2020, S. 2). Die Kritik bezieht sich allgemein auf die Gruppe der international Schutzberechtigten, die zu einem großen Anteil aus alleinstehenden Männern besteht. Da die Unterkunftssituation der verschiedenen Personengruppen von international Schutzberechtigten nicht einheitlich ist, berücksichtigt die Kritik der Schweizerischen Flüchtlingshilfe und von Pro Asyl die spezifische Situation von Familien nicht. Die starken Unterschiede bei der Unterkunftssituation werden durch die vorliegenden Informationen zur Struktur der informellen Siedlungen belegt. Von den in einer wissenschaftlichen Untersuchung befragten Bewohnerinnen und Bewohner von informellen Siedlungen lebten über 90 Prozent dort ohne Familienangehörige (Busetta et al., Measuring vulnerability of asylum seekers and refugees in Italy, Journal of Ethnic and Migration Studies, 2021, 596 [602]).
50
bb) Des Weiteren wird es Familien mit minderjährigen Kindern voraussichtlich gelingen, die erforderlichen finanziellen Mittel zur Existenzsicherung zu erhalten.
51
(1) Es wird regelmäßig möglich sein, diese Mittel selbst zu erwirtschaften. Arbeitsfähige international Schutzberechtigte haben eine realistische Chance, innerhalb des ersten Jahres nach der Zuerkennung internationalen Schutzes eine ausreichend bezahlte Arbeit zu finden. Die Einschätzung beruht auf den staatlichen Maßnahmen zur beruflichen Integration in den Arbeitsmarkt, der aktuellen Situation von international Schutzberechtigten im Arbeitsmarkt und der Arbeitskräftenachfrage aus dem Bereich der Schattenwirtschaft.
52
Migrantinnen und Migranten können sich frühzeitig um eine Integration in den Arbeitsmarkt bemühen. Bereits zwei Monate nach der Stellung des Asylantrags in Italien ist es erlaubt, eine bezahlte Arbeit aufzunehmen (BFA, Länderinformationsblatt Italien, Stand: 11. November 2020, S. 15; Respond, Italy country report, 2020, S. 24). Nach Ablauf des Unterbringungsanspruchs in den staatlichen Einrichtungen wird von international Schutzberechtigten – wie auch von italienischen Staatsangehörigen – grundsätzlich erwartet, sich selbst zu versorgen (Romer, Asylmagazin 2021, 207 [212]). Dazu bieten insbesondere die SAI-Einrichtungen Fördermaßnahmen an, um die Chancen von Asylantragstellern und international Schutzberechtigten auf dem Arbeitsmarkt zu erhöhen (vgl. Dotsey/Lumley-Sapanski, Temporality, refugees and housing: The effects of temporary assistance on refugee housing outcomes in Italy, Cities 2021, S. 7; Respond, Italy country report, 2020 S. 28).
53
Zwar wurde durch diese Fördermaßnahmen nicht erreicht, dass sich die Arbeitsmarktsituation von international Schutzberechtigten auf der einen Seite und italienischen Staatsangehörigen oder Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten der Europäischen Union auf der anderen Seite vollständig angeglichen hat. Allerdings ist eine Annäherung der Situation, insbesondere zu den in Italien lebenden Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten der Europäischen Union, festzustellen. Beim Durchschnittgehalt bestehen keine übermäßigen Unterschiede. Die Gruppe der international Schutzberechtigten erhält knapp 80 Prozent des Durchschnittsgehalts von Beschäftigten mit italienischer Staatsangehörigkeit (vgl. de Sario, Migration at the crossroads – the inclusion of asylum seekers and refugees in the labour market in Italy, 2020, S. 214). Fast keine Unterschiede beim Durchschnittsgehalt bestehen im Vergleich zu den in Italien arbeitenden Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaates der Europäischen Union (vgl. de Sario, a. a. O., S. 214).
54
Eine ähnliche Situation besteht bei der Arbeitslosenquote. Bezogen auf international Schutzberechtigte lag diese im Jahr 2018 bei 17,8 Prozent. Sie war damit in einem nicht unerheblichen Maße höher als die von italienischen Staatsangehörigen (10,2 Prozent). Der Unterschied zur Arbeitslosenquote von Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten der Europäischen Union (13,5 Prozent) ist dagegen deutlich geringer (de Sario, Migration at the crossroads – the inclusion of asylum seekers and refugees in the labour market in Italy, 2020, S. 212). Die aktuelle Arbeitslosenquote von international Schutzberechtigten dürfte im Vergleich zu der von 2018 geringer sein. Denn zum einen ist die Arbeitslosigkeit in Italien seit 2018 – trotz der Auswirkungen der Corona-Pandemie – gesunken. Nach den Daten von Eurostat betrug die Arbeitslosenquote in Italien (jeweils drittes Quartal) 2018 10,2 Prozent, 2019 9,8 Prozent, 2020 10,8 Prozent und 2021 9,4 Prozent (https://ec.europa.eu/eurostat/de/web/lfs/data/database; Abruf am 10. März 2022). Zum anderen arbeiten Migranten ohne EU-Staatsangehörigkeit überwiegend in Bereichen, in denen die Corona-Pandemie nicht zu einer Reduzierung des Arbeitskräftebedarfs geführt hat. Die größten Beschäftigungssektoren sind der Pflegedienstleistungssektor (47,2 Prozent), die Landwirtschaft (18,6 Prozent), das Baugewerbe (16,6 Prozent) sowie der Sektor Handel, Verkehr, Wohnungswesen und Gastronomie (16,2 Prozent) (Dotsey/Lumley-Sapanski, Temporality, refugees and housing: The effects of temporary assistance on refugee housing outcomes in Italy, Cities 2021, S. 4; ähnliche Zahlen werden in anderen Veröffentlichungen benannt, vgl. de Sario, Migration at the crossroads – the inclusion of asylum seekers and refugees in the labour market in Italy, 2020, S. 206). Bezogen auf diese Sektoren wurden substantielle Nachfragereduzierungen durch die Corona-Pandemie nur in den Bereichen Handel, Verkehr und Gastronomie ausgelöst.
55
Eine zukünftige Steigerung der Arbeitslosenquote von international Schutzberechtigten infolge des Kriegs zwischen der Russischen Föderation und der Ukraine kann zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nicht prognostiziert werden. Die wirtschaftlichen Folgen in Italien sind von einer Vielzahl von Faktoren, insbesondere dem Kriegsverlauf, dem Umfang der Sanktionen sowie von staatlichen Kompensationsmaßnahmen und dem Verhalten der Konsumenten, abhängig. Eine signifikante Verschlechterung ist derzeit nicht absehbar.
56
Neben einer Tätigkeit im regulären Arbeitsmarkt können sich international Schutzberechtigte auch um eine Arbeit in der Schattenwirtschaft bemühen. Schwarzarbeit ist in Italien weit verbreitet; etwa zehn Prozent der Bevölkerung arbeitet in diesem Bereich (OVG NRW, Urt. v. 20. Juli 2021 – 11 A 1674/20.A –, juris Rn. 130 f.). Insbesondere in der Landwirtschaft sollen viele Migrantinnen und Migranten bei der saisonalen Ernte irregulär arbeiten (borderline-europe, Die Situation der Geflüchteten auf Sizilien, 2019, S. 42 ff.). Die Aufnahme von Tätigkeiten in der Schattenwirtschaft ist grundsätzlich zumutbar (BVerwG, Beschluss vom 17. Januar 2022 – 1 B 66.21 –, juris Rn. 29 m. w. N.). Schwarzarbeit gilt in Italien weiterhin als „Kavaliersdelikt“ (Handelsblatt, Italien forciert den Kampf gegen Steuerhinterziehung, Artikel vom 18. August 2020, www.handelsblatt.com; Abruf am 10. März 2022). Unzumutbar ist die Tätigkeit in der Schattenwirtschaft auch nicht im Hinblick auf das Ziel der Bekämpfung von Schwarzarbeit (a. A. OVG NRW, Urt. v. 20. Juli 2021 – 11 A 1674/20.A –, juris Rn. 136). Das ergibt sich schon daraus, dass derzeit etwa eine Million Haushalte in Italien ausschließlich von irregulärer Arbeit leben (Handelsblatt, Italien forciert den Kampf gegen Steuerhinterziehung, Artikel vom 18. August 2020). In dieser Situation kann eine effektive Bekämpfung von Schwarzarbeit nicht mehr durch das Verhalten von Einzelpersonen, sondern nur noch durch engmaschige staatliche Kontrollen und spürbare Sanktionierungen von Arbeit- und Auftraggebern bei Verstößen erreicht werden.
57
(2) Ein ernsthaftes Risiko einer erniedrigenden Behandlung besteht auch dann nicht, falls eine Familie mit minderjährigen Kindern auf finanzielle Hilfen angewiesen sein sollte. In diesem Fall werden die erforderlichen finanziellen Mittel voraussichtlich durch den italienischen Staat bereitgestellt werden.
58
Nach Art. 28 der Qualifikationsrichtlinie (RL 2004/83/EG), die mit Gesetzesdekret No. 18/2014 in Italien umgesetzt worden ist, ist international anerkannten Schutzberechtigten der gleiche Zugang zum Sozialsystem wie italienischen Staatsangehörigen garantiert. Die gleiche Vorgabe enthält Art. 29 der Anerkennungsrichtlinie (RL 2011/95/EU). Der Umfang der Sozialleistungen ist in Italien – wie auch in vielen anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union – im Vergleich zu denen in Deutschland deutlich geringer. Das zentralstaatliche italienische Sozialsystem war traditionell auf eine Unterstützung durch Familienstrukturen aufgebaut. Allerdings betreibt Italien seit einigen Jahren einen Ausbau von Sozialleistungen. Zum März 2022 wird das „assegno unico“ (Kindergeld) eingeführt. Dieses wird auf Antrag ab Geburt eines Kindes bis zum 18. Lebensjahr monatlich gezahlt. Die Höhe richtet sich nach dem Familieneinkommen und der Anzahl der Kinder und kann bis zu 175,00 Euro pro Kind betragen (BAMF, Beantwortung Zusatzfragen des OVG Sachsen vom 29.09.2021, 4. Februar 2022, S. 7). Des Weiteren wurde bereits im Jahr 2019 als allgemeine existenzsichernde Sozialhilfeleistung ein Bürgereinkommen eingeführt. Anspruchsberechtigte sind bedürftige Italiener, EU-Bürger, Drittstaatsangehörige mit Daueraufenthaltserlaubnis und Personen mit internationalem Schutz. Weitere Voraussetzung ist ein mindestens zehnjähriger Aufenthalt in Italien, davon die letzten zwei Jahre ununterbrochen (BFA, Länderinformationsblatt Italien, Stand: 11. November 2020, S. 24).
59
Darüber hinaus kann sich ein Leistungsanspruch für Familien mit minderjährigen Kindern unmittelbar aus dem Unionsrecht ergeben. Nach Art. 1 GRCh (Menschenwürde), Art. 7 GrCh (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) und Art. 24 GRCh (Rechte des Kindes) sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, sich rechtmäßig im Mitgliedstaat aufhaltenden Familien mit minderjährigen Kindern zu ermöglichen, unter würdigen Bedingungen zu leben (vgl. EuGH, Urt. v. 15. Juli 2021 – C-709/20 –, juris Rn. 85). Die Ablehnung von Sozialhilfe ist deshalb nur möglich, wenn solche Bedingungen trotzdem gewährleistet sind (vgl. EuGH, a. a. O., juris Rn. 93).
60
Es ist nicht ersichtlich, dass Italien diese unionsrechtliche Vorgabe missachtet. Das italienische Sozialrecht ist einer unionsrechtskonformen Anwendung nicht von vornherein unzugänglich. Zwar stellt die normierte Voraussetzung der Mindestaufenthaltsdauer für die Bewilligung des Bürgergelds auf ein Kriterium ab, das nicht an die Bedürftigkeit anknüpft. Zudem erfüllen viele international Schutzberechtigte diese Voraussetzung unmittelbar nach der Schutzanerkennung nicht (BFA, a. a. O., S. 24; SFH/Pro Asyl, Anfragebeantwortung vom 29. Oktober 2020, S. 6; Romer, Asylmagazin 2021, 207 [212]). Allerdings muss dies nicht zwingend zu einer Versagung des Bürgergeldes führen. Denn bei der behördlichen Entscheidung über die Bewilligung kann die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs berücksichtigt werden. Dieser hat bezogen auf andere Sozialleistungen ein Erfordernis einer Mindestwohnzeit für unvereinbar mit Unionsrecht erachtet (vgl. zur Gewährung von Behindertenbeihilfe, Altersmindesteinkommen und Mindestlebensunterhalt an Arbeitnehmer aus anderen EU-Staaten: EuGH, Urt. v. 10. November 1992 – C-326/90 –, juris). Im Übrigen würde eine Ablehnung der Bewilligung des Bürgergeldes nicht zwingend dazu führen, dass existenzsichernde Leistungen staatlicherseits nicht zur Verfügung gestellt werden. Die erforderlichen Mittel können auf anderer Grundlage bereitgestellt werden. Beispielsweise bieten die Regionen und Kommunen weitere Sozialleistungen an (BFA, Länderinformationsblatt Italien, Stand: 11. November 2020, S. 24 f.). Eine drohende Versagung erforderlicher Mittel kann des Weiteren nicht aus der Verwaltungspraxis der italienischen Behörden bei der Anwendung des Sozialrechts geschlossen werden. Es liegen keine Anhaltspunkte vor, dass Familien mit minderjährigen Kindern in einer signifikanten Anzahl von Fällen unter unwürdigen Bedingungen leben müssen, da ihnen staatliche Leistungen versagt wurden.
61
cc) Der Zugang zu einer erforderlichen Krankenversorgung ist für international Schutzberechtigte ebenfalls grundsätzlich gewährleistet. Hinsichtlich der regulären Gesundheitsversorgung sind international Schutzberechtigte nach erfolgter Registrierung beim nationalen Gesundheitsdienst italienischen Staatsangehörigen gleichgestellt; das gilt nach der Rechtsprechung des italienischen Verfassungsgerichtshofs unabhängig von der Dauer des Aufenthalts in Italien (Chiaromonte/Federico, The Labour Market Needs Them, 2021, S. 197). Das Recht auf Grund- und Notfallversorgung besteht unabhängig von einer Registrierung (vgl. SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, 2020, S. 77 ff.; AIDA, Country Report Italy 2019, S. 160).“
62
3. Es liegen jedoch im Fall der Klägerin besondere einzelfallbezogene Umstände vor, die eine von der grundsätzlichen Bewertung der Situation von Familien mit Kindern abweichende Bewertung bedingen (eine Ausnahmesituation ebenfalls annehmend: VG Ansbach, U.v. 31.1.2023 – AN 14 K 19.50935, von der Klagepartei vorgelegt).
63
Im Fall der Klägerin ist davon auszugehen, dass nach der insoweit anzustellenden „realistischen Rückkehrprognose“ von einer Rückkehr der Klägerin zusammen mit ihrem am … … 2019 geborenen Sohn auszugehen ist (BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45.18 – BVerwGE 166, 113, juris Rn. 16).
64
Nachdem die Klägerin angegeben hat, dass sie in Italien „obdachlos“ gewesen sei und auf der Straße gelebt habe, wäre für die Klägerin wohl grundsätzlich eine Aufnahme in eine Zweitaufnahmeeinrichtung (SAI) möglich. Dort würde sie versorgt und könnte auf Integrationsleistungen zurückgreifen. Allerdings ist der Aufenthalt dort auf maximal eineinhalb Jahre begrenzt. Danach muss die Klägerin den Lebensunterhalt für sich und ihren dann sechsjährigen Sohn erwirtschaften. Dabei ist auch in den Blick zu nehmen, dass die Klägerin über keine Berufsausbildung verfügt und daher keine qualifizierte Berufstätigkeit ausüben könnte. Es blieben ihr allenfalls schlecht bezahlte Hilfstätigkeiten u.U. im Bereich der Schattenwirtschaft.
65
Dabei ist sie aber durch die notwendige Beaufsichtigung ihres als sehr verhaltensauffälligen Sohnes stark eingeschränkt. Nach dem Bericht des sozialpädiatrischen Zentrums vom … März 2023 leide der am … … 2019 geborene Sohn der alleinerziehenden Klägerin an massiven Auffälligkeiten in der sprachlich und sozial-emotionalen Entwicklung. Zwar wurde dieser Bericht erst mit Schriftsatz vom 21. April 2023 und damit später als eine Woche nach Zugang der Ladung am 27. Februar 2023 vorgelegt (§ 87b Abs. 3 VwGO). In der Ladung war die Klagepartei aufgefordert worden, u.a. sämtliche Tatsachen und Beweismittel binnen einer Woche nach Zugang der Ladung vorzulegen, soweit das noch nicht geschehen ist. Trotz der verspäteten Vorlage kann der Bericht des sozialpädiatrischen Zentrums berücksichtigt werden, da dessen Berücksichtigung zu keiner Verzögerung des Rechtsstreits führt (§ 87b Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 VwGO). Dort ist angegeben, dass das Kind eine massive motorische Unruhe zeige, eine stark reduzierte Aufmerksamkeitsspanne und einen sozial-emotionalen Entwicklungsrückstand. Er benötige permanente Beaufsichtigung und klare Führung, um selbst- und fremdgefährdendes Verhalten zu vermeiden. Der Sohn der Klägerin wird im Anamnesegespräch als distanzlos und ungehalten, trotzig geschildert. Eine Unterbringung in einer Regeleinrichtung wie Schule oder Kindergarten wird aufgrund des berichteten Verhaltens nach kurzer Zeit abgebrochen werden müssen. Da nach dem Bericht ein dringender heilpädagogischer Förderbedarf bei dem Jungen vorliegt, muss eine entsprechende Einrichtung gefunden werden und die Unterbringen dort auch praktisch bewerkstelligt werden (insbesondere Bringen und Holen). Das wird in Italien auf die (mindestens) gleichen Schwierigkeiten hinsichtlich der Verfügbarkeit solcher speziellen Betreuungseinrichtungen stoßen wie in Deutschland. Aufgrund der massiven Auffälligkeiten des Kindes wird es der Klägerin kaum möglich sein, die Aufsicht an andere Personen abzugeben.
66
Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass die Klägerin als alleinerziehende Mutter bei der Betreuung des Sohnes völlig auf sich allein gestellt ist und von vornherein nicht auf die Unterstützung durch einen Partner setzen kann. Damit kann nicht erwartet werden, dass die Klägerin durch eine Beschäftigung die Mittel für die grundlegenden Bedürfnisse den Lebensunterhalt für sich und ihren Sohn bestreiten kann. Auch wenn ergänzend freiwillige Leistungen von sozialen und karitativen Organisationen zur Verfügung stehen, so decken diese nur ergänzend den Bedarf ab. Soweit die Klägerin auf staatliche Sozialleistungen angewiesen ist, muss sie diese möglicherweise erst durchsetzen, da sie die Voraussetzung eines zehnjährigen Aufenthalts in Italien, davon die letzten zwei Jahre ununterbrochen, formal nicht erfüllt und auf eine unionsrechtskonforme Anwendung der Bewilligungsvoraussetzungen dringen muss. Das wird der alleinerziehenden Klägerin mit ihrem massiv verhaltensauffälligen Sohn schwerfallen.
67
Zudem wird die alleinstehende Klägerin mit ihrem dann sechsjährigen Sohn erhebliche Schwierigkeiten haben, nach dem Verlassen der Zweitaufnahmeeinrichtung eine Wohnung zu finden. Wenn das OVG Sachsen im oben zitierten Urteil (U.v. 22.3.2022 – 4 A 389/20.A – juris Rn. 50 ff.) darauf hinweist, dass es bereits Familien mit Kindern schwerfallen wird, auf dem freien Wohnungsmarkt eine Wohnung zu finden, gilt das für die alleinerziehende Klägerin in ihrer besonderen Situation mit dem massiv verhaltensauffälligen Sohn, die in ihrer Erwerbstätigkeit durch die Beaufsichtigung des Kindes sehr eingeschränkt ist und wohl im Wesentlichen auf staatliche Sozialleistungen angewiesen sein wird, in verschärfter Weise. Unterstützung und Rückhalt durch einen Partner fehlen bei ihr völlig. Auch für die Zuweisung einer staatlich geförderten Wohnung ist eine Wartezeit von ungewisser Dauer zu überbrücken. Ebenso ist sehr fraglich, ob die Klägerin in der dargestellten speziellen Situation eine Unterkunft durch Kirchen und Hilfsorganisationen erhalten kann.
68
Damit ist zu besorgen, dass für die Klägerin bei einer Rückkehr nach Italien in ihrer besonderen Situation als Alleinerziehende mit einem massiv verhaltensauffälligen Kind ein ernsthaftes Risiko besteht, die existenziellen Bedürfnisse für sich und ihren Sohn (insbesondere Unterkunft) nicht befriedigen zu können und damit einer gegen Art. 4 GRCh, Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung ausgesetzt zu sein.
69
Die Nummern 2 bis 4 des streitgegenständlichen Bescheids sind wegen der Aufhebung der Unzulässigkeitsentscheidung des Antrags in Nr. 1 des Bescheids ebenfalls aufzuheben.
70
4. Die Beklagte hat als unterlegene Beteiligte nach § 154 Abs. 1 VwGO die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens (§ 83b AsylG) zu tragen.
71
Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr, 11, 711 Zivilprozessordnung/ZPO.