Inhalt

VG München, Beschluss v. 26.06.2023 – M 4 K 21.2609
Titel:

rechtmäßiger Verlust des Freizügigkeitsrechts

Normenketten:
VwGO § 166
ZPO § 114 Abs. 1 S. 1
FreizügG/EU § 2 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 6, § 5 Abs. 4
Freizügigkeits-RL Art. 7 Abs. 1 lit. b
Leitsätze:
1. Die Feststellung des Verlusts des Freizügigkeitsrechts ist (nur) bis zur Entstehung des Daueraufenthaltsrechts möglich. Maßgeblicher Zeitpunkt ist insoweit der Zeitpunkt der Behördenentscheidung. (Rn. 49 – 50) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen begründet nicht automatisch den Verlust des Freizügigkeitsrechts; erforderlich ist vielmehr eine unangemessene Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen. Ob eine unangemessene Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen vorliegt, ist danach zu beurteilen, welche Belastung dem nationalen Sozialhilfesystem in seiner Gesamtheit aus der Gewährung dieser Leistung nach Maßgabe der individuellen Umstände, die für die Lage des Betroffenen kennzeichnend sind, konkret entstünde. (Rn. 65) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Prozesskostenhilfe, FreizügG/EU, Drittstaatsangehöriger Familienangehöriger eines Unionsbürgers, Administrative Verlustfeststellung., Verlustfeststellung, Daueraufenthaltsrecht, RL 2004/38/EG, Sozialhilfeleistungen
Fundstelle:
BeckRS 2023, 17160

Tenor

Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung des Bevollmächtigten wird abgelehnt.

Gründe

I.
1
Der Kläger begehrt die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für seine Klage gegen die Feststellung des Verlusts seines Rechts auf Einreise und Aufenthalt im Bundesgebiet gemäß § 2 Abs. 1 FreizügG/EU durch die Beklagte mit Bescheid vom 26. April 2021.
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Der im ... 1951 in … geborene Kläger ist … Staatsangehöriger und seit 1974 mit einer 1956 in … geborenen … Staatsangehörigen verheiratet.
3
Die Beklagte bescheinigte der Ehefrau des Klägers am ..., dass sie Staatsangehörige eines Mitgliedstaats der Europäischen Union und nach Maßgabe des Freizügigkeitsgesetzes/EU zur Einreise und zum Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland berechtigt ist (Bl. 4), nachdem sie am selben Tag gegenüber der Ausländerbehörde angegeben hatte, seit dem ... in … zu wohnen und bei der … … unselbständig beschäftigt zu sein.
4
Ab dem ... war die Ehefrau als Reinigungskraft in einem geringfügigen, nicht versicherungspflichtigen Arbeitsverhältnis mit einem Arbeitsumfang von zwei Stunden pro Tag befristet bis zum ... bei einer Reinigungsfirma beschäftigt und bezog ab demselben Tag ausweislich der Anlage zur Wartezeitauskunft der Deutschen Rentenversicherung vom ... ALG II-Leistungen.
5
Der Kläger reiste – nach Angaben der Beklagten im Bescheid – spätestens am ... – nach seinen Angaben im Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels vom ... (Bl. 3) – am ... erstmals ins Bundesgebiet ein und bezog seit diesem Zeitpunkt ausweislich seines Versicherungsverlaufs bei der Deutschen Rentenversicherung vom ... bis zu seinem Altersrenteneintritt am ... Leistungen nach dem ALG II, bis zum ... in vollem Umfang und ging in diesem Zeitraum für 38 Monate einer geringfügigen nicht versicherungspflichtigen Beschäftigung nach.
6
Am ... beantragte der Kläger die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis und gab an, sich aus … in … kommend dauerhaft zum Familiennachzug und zur Arbeitsplatzsuche im Bundesgebiet aufhalten zu wollen. Seinen Lebensunterhalt sichere er mit Einkommen seiner Ehefrau und Arbeitslosengeld II. Am ... legte er der Beklagten zusammen mit dem Antrag u.a. eine Verlängerungsabrede zum befristeten Arbeitsvertrag seiner Ehefrau bis zum ... vor. Die Beklagte bescheinigte dem Kläger daraufhin am ... mit dreimonatiger Gültigkeit, dass sie seine Freizügigkeitsberechtigung gemäß § 2 Abs. 1 FreizüG/EU prüfe und erteilte ihm am ... eine bis zum ... gültige Aufenthaltskarte (Familienangehöriger EU) mit Gestattung der Erwerbstätigkeit.
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Der Arbeitsvertrag der Ehefrau des Klägers endete aufgrund Befristung am ... Im Anschluss ging die Ehefrau keiner Erwerbstätigkeit mehr nach.
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Zum ... nahm der Kläger erstmals eine Beschäftigung als Reinigungskraft in einem Umfang von zunächst durchschnittlich zehn Wochenstunden auf.
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Am ... beantragte der Kläger die Ausstellung einer Aufenthaltskarte und gab im Hinblick auf seine Ehefrau, von der er sein Freizügigkeitsrecht ableite, an, dass diese arbeitssuchend sei (Bl. 33).
10
Am ... stellte die Beklagte dem Kläger eine Aufenthaltskarte (Familienangehöriger EU) mit Gültigkeit vom ... bis zum ... aus (Bl. 50).
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Mit Schreiben vom ... informierte das Sozialreferat der Beklagten die Ausländerbehörde, dass der Kläger seit dem ... Grundsicherung (4. Kapitel SGB XII) in Anspruch nehme. Die Beklagte forderte den Kläger daraufhin mit Schreiben vom ... auf, bis zum ... eine Kopie des Bescheids des Sozialbürgerhauses über die Grundsicherung und eine Arbeitgeberbestätigung seiner Ehefrau mit der Angabe der wöchentlichen Arbeitszeit zu übersenden.
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Daraufhin übermittelte der Kläger eine Arbeitgeberbestätigung seines Arbeitgebers vom ... über seine unbefristete Beschäftigung als Reinigungskraft seit dem ... mit einem Umfang von zehn Wochenstunden, einen Bescheid des Sozialreferats vom 5. Dezember 2017 über die Bewilligung von Leistungen nach SGB XII sowie eine ärztliche Bestätigung vom ... für seine Ehefrau, dass diese „weiterhin“ arbeitsunfähig mit Gefährdung der Erwerbsfähigkeit ist, einen ärztlichen Befundbericht für den ärztlichen Dienst der ... für seine Ehefrau vom ... sowie eine Bewilligung des Jobcenters München vom ... über die Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für seine Ehefrau. Die Beklagte forderte den Kläger erneut mit Schreiben vom ... auf mitzuteilen, ob und ggf. in welchem Umfang seine Ehefrau erwerbstätig ist, da sich ein Freizügigkeitsrecht gemäß § 3 Abs. 1 FreizügG/EU nur bei einer Erwerbstätigkeit seiner Ehefrau ergeben könne.
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Zum 5. Juni 2018 erhöhte der zu diesem Zeitpunkt 66-jährige Kläger seine Arbeitszeit auf 19,60 Stunden pro Woche; gleichzeitig wurde sein Stundenlohn erhöht.
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Mit Wartezeitauskunft vom ... (Bl. 67 ff.) teilte die Deutsche Rentenversicherung der Ehefrau des Klägers mit, dass eine Auskunft über die Höhe der Rente wegen voller Erwerbsminderung bzw. der Regelaltersrente nicht erteilt werden könne, weil die Wartezeit nicht erfüllt sei. Die Regelaltersgrenze werde am 27. Juni 2022 erreicht.
15
Mit Bescheid vom 8. November 2018 stellte das Versorgungsamt auf Antrag eine Behinderung der Ehefrau des Klägers und einen Grad der Behinderung von 40 „ab 2018 unbefristet“ fest.
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Mit Schreiben vom 28. Januar 2019 gab die Beklagte dem Kläger Gelegenheit zur Stellungnahme zur beabsichtigten Verlustfeststellung bis zum 30. Juli 2019 (Bl. 75 f.).
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Mit Schreiben vom 11. September 2019 bestellte sich der Bevollmächtigte und nahm mit Schreiben vom ... Stellung. Er trug vor, der Kläger gehe einer Erwerbstätigkeit nach und sei nur ergänzend auf Sozialhilfe angewiesen. Die Ehefrau des Klägers sei freizügigkeitsberechtigt und der Kläger als Familienangehöriger i.S.v. § 3 FreizügG/EU wegen der Begleitung seiner Ehefrau aufenthaltsberechtigt. Ergänzender Sozialhilfebezug sei unschädlich.
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Ab dem 19. November 2019 bescheinigte die Beklagte dem Kläger zunächst fortlaufend jeweils für drei Monate, dass seine Freizügigkeitsberechtigung gemäß § 2 Abs. 1 FreizügG/EU geprüft werde.
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Mit Schreiben vom 10. Februar 2020 teilte der Bevollmächtigte der Beklagten mit, dass ein Amtsarzt bei der Ehefrau des Klägers am ... dauerhafte Arbeitsunfähigkeit und volle Erwerbsminderung festgestellt habe, weshalb für diese die Voraussetzungen des § 4a Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 Buchst. b) FreizügG/EU erfüllt seien.
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Mit Rentenbescheid vom ... bewilligte die Deutsche Rentenversicherung dem Kläger ab dem ... eine Regelaltersrente i.H.v. monatlich 4,03 €.
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Mit Änderungsbescheid vom 23. September 2020 stellte das Versorgungsamt bei der Ehefrau des Klägers ab dem 25. Juni 2020 einen Grad der Behinderung von 60 und das Merkzeichen G fest.
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Seit dem ... beträgt die Regelaltersrente des Klägers monatlich 4,18 €.
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Am 30. Dezember 2020 bescheinigte die Beklagte dem Kläger letztmals für drei Monate, dass seine Freizügigkeitsberechtigung gemäß § 2 Abs. 1 FreizügG/EU geprüft werde.
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Mit Bescheid vom 26. April 2021 stellte die Beklagte den Verlust des Rechts des Klägers auf Einreise und Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland fest (Nr. 1) und drohte unter Setzung einer Ausreisefrist von einem Monat nach Bestandskraft die Abschiebung nach … oder einen anderen zur Rückübernahme verpflichteten oder aufnahmebereiten Staat an (Nr. 2). Die Feststellung wurde auf § 5 Abs. 4 FreizügG/EU gestützt. Auf die Begründung des Bescheids wird verwiesen. Der Bescheid wurde dem Bevollmächtigten gegen Empfangsbekenntnis am 29. April 2021 zugestellt.
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Mit Bescheid vom selben Tag stellte die Beklagte auch gegenüber der Ehefrau des Klägers den Verlust des Rechts auf Einreise und Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland fest.
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Mit Schriftsatz vom 13. Mai 2021 erhob der Prozessbevollmächtigte des Klägers unter Ankündigung der Klagebegründung „in den kommenden Tagen“ mit gesondertem Schreiben
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Klage gegen den Bescheid vom 26. April 2021
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und beantragte unter Ankündigung der Nachreichung der Erklärung des Klägers über seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse zugleich,
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dem Kläger Prozesskostenhilfe im ersten Rechtszug zu bewilligen und ihm Rechtsanwalt … als Prozessbevollmächtigten beizuordnen.
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Der Kläger gehe einer Erwerbstätigkeit nach, beziehe jedoch ergänzende Leistungen nach dem SGB XII. Der Kläger verfüge weder über Vermögen noch über Forderungen.
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Die Ehefrau des Klägers ließ ebenfalls Klage gegen den sie betreffenden Bescheid erheben und die Bewilligung von Prozesskostenhilfe beantragen (M 4 K …*).
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Am 26. Mai 2021 legte der Prozessbevollmächtigte die Erklärung des Klägers über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse vor.
33
Mit Schriftsatz vom 20. Juli 2021 übermittelte die Beklagte die Behördenakten des Klägers und seiner Ehefrau in elektronischer Form und beantragte unter Verweis auf die Begründung des angefochtenen Bescheids,
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die Klage abzuweisen.
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Mit Beschluss vom 21. Juni 2023 lehnte das Gericht den Antrag der Ehefrau des Klägers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe mangels hinreichender Erfolgsaussichten ab.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes nimmt das Gericht Bezug auf die Gerichtsakte, auch der Ehefrau des Klägers (M 4 K …*), und die vorgelegten Behördenakten, auch im Verfahren der Ehefrau des Klägers.
II.
37
Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung des Prozessbevollmächtigten hat keinen Erfolg.
38
1. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe ist abzulehnen, weil die beabsichtigte Rechtsverfolgung nicht die erforderliche hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet.
39
Nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO ist einer Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder in Raten aufbringen kann, Prozesskostenhilfe zu bewilligen, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Hinsichtlich der Erfolgsaussichten dürfen die Anforderungen nicht überspannt werden. Eine überwiegende Wahrscheinlichkeit in dem Sinn, dass der Prozesserfolg schon gewiss sein muss, ist nicht erforderlich, sondern es genügt bereits eine sich bei summarischer Überprüfung ergebende Offenheit des Erfolgs. Die Prüfung der Erfolgsaussichten soll nicht dazu dienen, die Rechtsverfolgung oder -verteidigung selbst in das summarische Verfahren der Prozesskostenhilfe zu verlagern und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten zu lassen. Das Prozesskostenhilfeverfahren will den Rechtsschutz, den der Rechtsstaatsgrundsatz erfordert, nämlich nicht selbst bieten, sondern ihn erst zugänglich machen (stRspr. d. BVerfG, vgl. B.v. 4.8.2016 – 1 BvR 380/16 – juris Rn. 12).
40
Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der hinreichenden Erfolgsaussichten ist der Zeitpunkt der Bewilligungs- oder Entscheidungsreife des Prozesskostenhilfeantrags (stRspr; vgl. BayVGH, B.v. 10.1.2016 – 10 C 15.724 – juris Rn. 14 m.w.N.). Die Entscheidungsreife tritt regelmäßig nach Vorlage der vollständigen Prozesskostenhilfeunterlagen sowie nach einer Anhörung der Gegenseite mit angemessener Frist zur Stellungnahme (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 118 Abs. 1 Satz 1 ZPO) ein (vgl. BVerwG, B.v. 12.9.2007 – 10 C 39.07 u.a. – juris Rn. 1; BayVGH, B.v. 10.1.2016 – 10 C 15.724 – juris Rn. 14). Vorliegend ist auch nicht ausnahmsweise auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts abzustellen, weil sich im Zeitraum zwischen dem Eintritt der Bewilligungsreife und dem Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts keine Änderungen der Sach- und Rechtslage zugunsten des Klägers ergeben haben.
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Gemessen hieran hat die Rechtsverfolgung in der Hauptsache nach summarischer Überprüfung der Erfolgsaussichten im Zeitpunkt der Bewilligungsreife keine hinreichende Aussicht auf Erfolg i.S.v. § 166 VwGO i.V.m. §§ 114 ff. ZPO. Die Klage ist zulässig, aber unbegründet. Der Bescheid der Beklagten vom 26. April 2021 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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Die Klage ist zwar zulässig, denn sie bezeichnet Kläger, Beklagten und den Klagegegenstand (§ 82 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Dass sie trotz anwaltlicher Vertretung entgegen der Soll-Vorschrift des § 82 Abs. 2 Satz 2 VwGO keinen Antrag enthält und – entgegen der Ankündigung des Prozessbevollmächtigten – nicht begründet wurde, führt nicht zur Unzulässigkeit. Die Klage bietet aber nicht die erforderliche hinreichende Aussicht auf Erfolg, weil sie sich bei summarischer Prüfung als nicht begründet erweist.
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1.1. Die Verlustfeststellung in Nr. 1 des Bescheids vom 26. April 2021 ist rechtmäßig.
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Die Beklagte konnte den Verlust des Rechts auf Einreise und Aufenthalt (§ 2 Abs. 1 FreizügG/EU) nach § 5 Abs. 4 FreizügG/EU feststellen. Der Kläger hatte im – insoweit maßgeblichen – Zeitpunkt des Erlasses des streitgegenständlichen Bescheids noch kein Daueraufenthaltsrecht gemäß § 4a Abs. 1 FreizügG/EU erworben (1.1.1.). Im – insoweit maßgeblichen – Zeitpunkt der Bewilligungsreife bestand kein Recht des Klägers nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU mehr (1.1.2.). Die Entscheidung der Beklagten ist ermessensfehlerfrei, insbesondere ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt (1.1.3.).
45
1.1.1. Die Beklagte war nicht gehindert, den Verlust des Freizügigkeitsrechts gemäß § 5 Abs. 4 FreizügG/EU festzustellen, weil der Kläger im – insoweit maßgeblichen – Zeitpunkt der Verlustfeststellung noch kein Daueraufenthaltsrecht gemäß § 4a FreizügG/EU erworben hatte.
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Rechtsgrundlage für die im Bescheid vom 26. April 2021 getroffene Feststellung, dass der Kläger sein Recht auf Einreise und Aufenthalt in der Bundesrepublik verloren hat, ist § 5 Abs. 4 Satz 1 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU). Danach kann der Verlust des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU festgestellt werden, wenn dessen Voraussetzungen innerhalb von fünf Jahren nach Begründung des ständigen Aufenthalts im Bundesgebiet entfallen sind oder nicht vorliegen.
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Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung der Feststellung des Nichtbestehens des Freizügigkeitsrechts ist grundsätzlich die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts. Insoweit gilt das Gleiche wie für andere aufenthaltsrechtliche Entscheidungen, die Grundlage einer Aufenthaltsbeendigung sein können (BVerwG, U.v. 16.7.2015 – 1 C 22/14 – juris Rn. 11; BayVGH, B.v. 9.7.2019 – 10 CS 19.1165 – BeckRS 2019, 15161 Rn. 11; U.v. 18.7.2017 – 10 B 17.339 – BeckRS 2017, 122965 Rn. 24). Für die Frage, ob eine Verlustfeststellung nach § 5 Abs. 4 FreizügG/EU grundsätzlich in Betracht kommt, ist daher die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung bzw. der Entscheidung des Tatsachengerichts maßgebend.
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1.1.1.1. Die Möglichkeit zur Feststellung des Verlusts des Freizügigkeitsrechts gemäß § 5 Abs. 4 FreizügG/EU erlischt mit dem Entstehen eines Daueraufenthaltsrechts (BVerwG, U.v. 16.7.2015 – 1 C 22.14 – juris Rn. 16).
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Zwar bezieht sich die Fünfjahresfrist des § 5 Abs. 4 FreizügG/EU unmittelbar auf das Entfallen bzw. Nichtentstehen der Voraussetzungen eines Freizügigkeitsrechts und nicht auf die Feststellung des Verlusts des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU. Weil aber nach Ablauf eines rechtmäßigen fünfjährigen ununterbrochenen Aufenthalts im Bundesgebiet (Art. 16 Abs. 1 RL 2004/38/EG) ein Daueraufenthaltsrecht erworben wird, ist die Fünfjahresfrist des § 5 Abs. 4 FreizügG/EU in Bezug auf das Entstehen des Daueraufenthaltsrechts zu sehen. Dies bedeutet, dass ein Verlust der Freizügigkeitsvoraussetzung (nur) bis zur Entstehung des Daueraufenthalts möglich ist und durch eine Entscheidung auf der Grundlage des § 5 Abs. 4 FreizügG/EU festgestellt werden kann (BayVGH, U.v. 18.7.2017 – 10 B 17.339 – BeckRS 2017, 122965 Rn. 26).
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Eine rechtmäßige Verlustfeststellung setzt somit voraus, dass im Zeitpunkt des Erlasses des Verlustfeststellungsbescheids noch kein Daueraufenthaltsrecht entstanden ist. Maßgeblich für die Beurteilung der Frage, ob ein Daueraufenthaltsrecht entstanden ist, das der administrativen Verlustfeststellung entgegensteht, ist deshalb – abweichend vom o.g. Grundsatz – die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt des Bescheidserlasses.
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1.1.1.2. Die Beklagte konnte im Zeitpunkt des Bescheidserlasses am 26. April 2021 den Verlust des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU feststellen, weil der Kläger zu diesem Zeitpunkt noch kein Daueraufenthaltsrecht nach § 4a FreizügG/EU i.V.m. Art. 16 oder Art. 17 RL 2004/36/EG erworben hatte.
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Der Kläger hat bis zum Bescheidserlass im April 2021 kein Daueraufenthaltsrecht als Familienangehöriger gemäß § 4a Abs. 1 FreizügG/EU erworben.
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Der Kläger hielt sich zwar im Zeitpunkt des Bescheidserlasses im April 2021 bereits seit mehr als sieben Jahren – soweit ersichtlich – ständig als Familienangehöriger (§ 1 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. a) FreizügG/EU) eines Unionsbürgers im Bundesgebiet auf und lebte mit seiner Ehefrau in München. Dass der Kläger erst später zu seiner Ehefrau in die Bundesrepublik nachgezogen ist, ist unschädlich. Rechte als Familienangehöriger eines Unionsbürgers setzen keinen gleichzeitigen Umzug voraus (BeckOK AuslR/Tewocht FreizügG/EU § 3 Rn. 6). Der ständige Aufenthalt im Bundesgebiet wird in der Regel durch die Wohnsitznahme im Bundesgebiet begründet. Der Zeitpunkt der Begründung des ständigen Aufenthalts wird am einfachsten mit der Bescheinigung über die polizeiliche Anmeldung nachgewiesen. Hat der Betroffene es versäumt, sich polizeilich anzumelden, kann er die Aufenthaltsdauer aber auch mit jedem anderen üblichen Beweismittel nachweisen (BayVGH, U.v. 18.7.2017 – 10 B 17.339 – BeckRS 2017, 122965 Rn. 30). Eine polizeiliche Anmeldung des Klägers findet sich nicht in der Akte und wurde vom Kläger auch im gerichtlichen Verfahren nicht vorgelegt. Die Beklagte geht – obwohl sich hierfür in der vorgelegten Behördenakte keine Stütze findet – von einem Zuzug des Klägers zum ... aus. Der Kläger selbst hat den ... als Zuzugsdatum angegeben. Ausweislich des Versicherungsverlaufs der Deutschen Rentenversicherung des Klägers vom ... bezog der Kläger ab dem ... ALG II-Leistungen. Selbst wenn man zugunsten des Klägers den frühestmöglichen Zeitpunkt am ... zugrunde legt, war der Aufenthalt des Klägers weder ab dem ... für fünf Jahre rechtmäßig noch für einen anderen ununterbrochenen fünfjährigen Zeitraum bis zum Bescheidserlass im April 2021.
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Auch der Familienangehörige muss sich ständig rechtmäßig seit fünf Jahren mit dem Unionsbürger im Bundesgebiet aufgehalten haben. Seit der Ergänzung von § 4a Abs. 1 FreizügG/EU durch Satz 2 mit dem Gesetz zur Änderung des Freizügigkeitsgesetzes/EU und anderer aufenthaltsrechtlicher Vorschriften am 29. Januar 2013, der der Umsetzung von Art. 16 Abs. 2 RL 2004/38/EG diente, ist klargestellt, dass sich auch der Familienangehörige nicht nur überhaupt fünf Jahre lang im Bundesgebiet aufgehalten haben muss, sondern dass auch sein Aufenthalt über diesen Zeitraum rechtmäßig gewesen sein muss. Dies ist vorliegend nicht der Fall. Der Aufenthalt des Klägers war maximal bis zum 30. September 2017 unionsrechtlich rechtmäßig und damit weniger als fünf Jahre.
55
1.1.1.2.1. Aus der Ausstellung einer Aufenthaltskarte (Familienangehöriger EU) durch die Beklagte am ... für den Zeitraum vom ... bis zum ... folgt nicht die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts des Klägers in diesem Zeitraum. Die gemäß § 5 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU ausgestellte Aufenthaltskarte hat keine konstitutive Wirkung, weil auch das Freizügigkeitsrecht des drittstaatsangehörigen Familienangehörigen eines Unionsbürgers unmittelbar im Gemeinschaftsrecht wurzelt (BeckOK AuslR/Kurzidem FreizügG/EU § 5 Rn. 5). Der deklaratorischen Aufenthaltskarte kommt die Funktion eines Nachweismittels für das Bestehen des Freizügigkeitsrechts und damit verbunden der Möglichkeit der Ausübung einer Erwerbstätigkeit zu (HessVGH, B.v. 7.8.2014 – 7 B 1216/14 – BeckRS 2014, 56295 Rn. 11).
56
1.1.1.2.2. Dass der Aufenthalt des Klägers nur in dem zeitlichen Umfang rechtmäßig war, in dem auch der Aufenthalt der Ehefrau als Unionsbürgerin rechtmäßig war – vorliegend also bis längstens zum ... –, folgt daraus, dass die Rechtsstellung des Familienangehörigen grundsätzlich eine akzessorische ist. Das bedeutet, dass der Bestand seines Freizügigkeitsrechts vom Bestand des Freizügigkeitsrechts des Unionsbürgers und dem Fortbestehen der familiären Bindung abhängig ist (BeckOK AuslR/Tewocht FreizügG/EU § 3 Rn. 5).
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Weder die Vertragsbestimmungen über die Unionsbürgerschaft noch die RL 2004/38/EG verleihen dem drittstaatsangehörigen Familienangehörigen eines Unionsbürgers eigenständige Rechte. Die etwaigen Rechte von Drittstaatsangehörigen sind Rechte, die daraus abgeleitet werden, dass ein Unionsbürger sein Recht auf Freizügigkeit ausgeübt hat (EuGH, U.v. 8.11.2012 – C-40/11, Iida – NVwZ 2013, 357 Rn. 66 f.). Für die Rechte von Drittstaatsangehörigen, die aus der nationalen Umsetzung des Gemeinschaftsrechts durch das FreizügG/EU verliehen werden, gilt nichts Anderes. Die Rechtsstellung des Familienangehörigen ist somit nur dann – ausnahmsweise – unabhängig von der des Unionsbürgers, wenn der Familienangehörige selbst die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt, was vorliegend nicht der Fall ist, oder seinerseits bereits ein Daueraufenthaltsrecht erlangt hat, was ebenfalls nicht zutrifft.
58
1.1.1.2.2.1. Das bedeutet, dass der Aufenthalt des Klägers grundsätzlich nur in dem zeitlichen Umfang rechtmäßig i.S.v. § 4a Abs. 1 FreizügG/EU gewesen sein kann, in dem seine Ehefrau als Unionsbürgerin freizügigkeitsberechtigt war. Die Freizügigkeitsberechtigung der Ehefrau des Klägers bestand aufgrund § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU zwar im Zeitpunkt des Nachzugs des Klägers Ende 2013/Anfang 2014, weil sie zu diesem Zeitpunkt Arbeitnehmerin gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU war. Ihr Aufenthalt war jedoch – unter Zugrundelegung mehrfacher Annahmen zugunsten der Ehefrau des Klägers – maximal bis zum ... rechtmäßig (bis zum 30.9.2015 gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU, vom 1.10.2015 bis zum 31.3.2016 gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 1 Buchst. a) FreizügG/EU bzw. vom 1.10.2015 bis zum 30.9.2017 gemäß § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 bzw. Nr. 2 FreizügG/EU). Dies hat das Gericht im Beschluss vom 21. Juni 2023 (M 4 K 21.2606) für Zwecke des Prozesskostenhilfeverfahrens der Ehefrau des Klägers zu Grunde gelegt. Dieselben Annahmen legt das Gericht für Zwecke des vorliegenden Prozesskostenhilfeverfahrens des Klägers zugrunde. Damit endete auch die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts des Klägers als Familienangehöriger gemäß § 3 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU spätestens am 30. September 2017 und damit vor Ablauf von fünf Jahren seit der Einreise. Der Kläger hat somit kein Daueraufenthaltsrecht gemäß § 4a Abs. 1 FreizügG/EU erworben.
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1.1.1.2.2.2. Der Erwerb des Daueraufenthaltsrecht gemäß § 4a Abs. 4 FreizügG/EU durch den Kläger scheidet aus, weil die Ehefrau des Klägers ein Daueraufenthaltsrecht gemäß § 4a Abs. 2 FreizügG/EU nicht bereits vor Ablauf von fünf Jahren erworben hat, weil weder die Voraussetzungen von § 4a Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 FreizügG/EU noch von § 4a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU erfüllt sind. Das Gericht hat mit Beschluss vom 21. Juni 2023 im Prozesskostenhilfeverfahren der Ehefrau des Klägers (M 4 K 21.2606) entschieden, dass im maßgeblichen Zeitpunkt der Bewilligungsreife eine volle Erwerbsminderung nicht nachgewiesen war. Für die Beurteilung der Erfolgsaussichten der vorliegenden Klage legt das Gericht keine andere rechtliche Bewertung zu Grunde.
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Der Kläger hatte somit im Zeitpunkt der Verlustfeststellung noch kein dieser entgegenstehendes Daueraufenthaltsrecht gemäß § 4a FreizügG/EU erworben.
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1.1.2. Der Kläger ist auch nicht im – insoweit nach den allgemeinen Grundsätzen maßgeblichen – Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts bzw. der Bewilligungsreife im Verfahren der Prozesskostenhilfe freizügigkeitsberechtigter Familienangehöriger eines Unionsbürgers gemäß § 2 Abs. 1 FreizüG/EU.
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Der Kläger ist nicht gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 6 FreizügG/EU als Familienangehöriger freizügigkeitsberechtigt.
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1.1.2.1. Eine Freizügigkeitsberechtigung des Klägers gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 6 i.V.m. § 3 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU als Familienangehöriger eines in § 2 Abs. 2 Nr. 1 bis 5 FreizügG/EU genannten Unionsbürgers scheitert daran, dass die mittlerweile im SGB XII-Leistungsbezug stehende Ehefrau des Klägers nicht mehr unionsrechtlich freizügigkeitsberechtigt ist: Sie ist weder Arbeitnehmerin (§ 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU), noch arbeitssuchend (§ 2 Abs. 2 Nr. 1 Buchst. a) FreizügG/EU). Eine Freizügigkeitsberechtigung als niedergelassene selbständige Erwerbstätige (§ 2 Abs. 2 Nr. 3 FreizügG/EU), als Erbringerin von Dienstleistungen (§ 2 Abs. 2 Nr. 3 FreizügG/EU) oder als Empfängerin von Dienstleistungen (§ 2 Abs. 2 Nr. 4 FreizügG/EU) scheidet ebenfalls ersichtlich aus.
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1.1.2.2. Der Kläger ist auch nicht gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 6 i.V.m. § 3 Abs. 1 Satz 2 FreizügG/EU i.V.m. § 4 FreizügG/EU als Familienangehöriger eines nicht erwerbstätigen Unionsbürgers (§ 2 Abs. 2 Nr. 5 FreizügG/EU) freizügigkeitsberechtigt. Gemäß § 3 Abs. 1 Satz 2 FreizügG/EU müssen Familienangehörige, die zu nicht erwerbstätigen Unionsbürgern i.S.v. § 2 Abs. 2 Nr. 5 FreizügG/EU nachziehen oder diese begleiten, zusätzlich die Voraussetzungen des § 4 FreizügG/EU erfüllen. Gemäß § 4 Satz 1 FreizügG/EU muss der Nachweis erbracht werden, dass für den Familienangehörigen ausreichende Existenzmittel zur Verfügung stehen und ein ausreichender Krankenversicherungsschutz besteht. Diesen Nachweis hat der Kläger, der nach seinen Angaben – trotz gerichtlicher Aufforderung nicht bezifferte – Leistungen nach dem SGB XII und nach Aktenlage eine monatliche Regelaltersrente i.H.v. eines einstelligen Betrags bezieht, über monatliche Nettoeinkünfte zwischen ca. 690 € (Februar 2021), 246 € (März 2021) und 758 € (April 2021) verfügt und die Bewilligung von Prozesskostenhilfe beantragt hat, nicht erbracht. Der Kläger ist nach Angaben seines Prozessbevollmächtigten vermögenslos.
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Nach Art. 7 Abs. 1 Buchst. b) RL 2004/38/EG sind ausreichende Existenzmittel solche, die sicherstellen, dass der Freizügigkeitsberechtigte die Sozialhilfe des Aufnahmemitgliedsstaats nicht in Anspruch nehmen muss. Allerdings begründet die Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union nicht automatisch einen Verlust des Freizügigkeitsrechts. Erforderlich ist vielmehr eine unangemessene Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen. Die Feststellung des Verlusts des Freizügigkeitsrechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU führt ebenso wie die Ausweisung zur Beendigung des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts und zur Verlassenspflicht des Unionsbürgers und unterliegt damit dem Erfordernis der Verhältnismäßigkeit, wie es der Gerichtshof der Europäischen Union in seiner Rechtsprechung entwickelt hat. Zwar kann der Umstand, dass ein nicht erwerbstätiger Unionsbürger zum Bezug von Sozialhilfeleistungen berechtigt ist, einen Anhaltspunkt dafür darstellen, dass er nicht über ausreichende Existenzmittel verfügt. Die in Art. 7 Abs. 1 Buchst. b) RL 2004/38/EG genannte Voraussetzung soll vor allem verhindern, dass die hierin genannten Personen die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats unangemessen in Anspruch nehmen. Zur Beurteilung der Frage, ob ein Unionsbürger Sozialhilfeleistungen in unangemessener Weise in Anspruch nimmt, ist, wie aus dem 16. Erwägungsgrund der RL 2004/38/EG hervorgeht, zu prüfen, ob der Betreffende vorübergehende Schwierigkeiten hat, und die Dauer des Aufenthalts, die persönlichen Umstände des Betreffenden und der ihm gewährte Sozialhilfebetrag zu berücksichtigen. Von einer unangemessenen Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen kann zudem nicht ohne eine umfassende Beurteilung der Frage ausgegangen werden, welche Belastung dem nationalen Sozialhilfesystem in seiner Gesamtheit aus der Gewährung dieser Leistung nach Maßgabe der individuellen Umstände, die für die Lage des Betroffenen kennzeichnend sind, konkret entstünde (vgl. zum Ganzen: BVerwG, U.v. 16.7.2015 – 1 C 22/14 – juris Rn. 20 f.).
66
Eine Gesamtbetrachtung aller Umstände führt vorliegend zu dem Ergebnis, dass die Inanspruchnahme der Sozialleistungen durch den Kläger unangemessen ist. Der Kläger hat ersichtlich nicht nur vorübergehende Schwierigkeiten, seinen Lebensunterhalt ohne Inanspruchnahme von Sozialleistungen zu bestreiten: Der Kläger steht seit dem ... – soweit ersichtlich – in durchgehendem Sozialleistungsbezug. Eine geringfügige nicht sozialversicherungspflichtige Teilzeiterwerbstätigkeit als Reinigungskraft nahm der Kläger erst nach mehr als eineinhalbjährigem ausschließlichem Bezug von ALG II-Leistungen auf. Auch nach zwischenzeitlicher Aufstockung des Arbeitsumfangs von zunächst 10 Wochenstunden auf 19,60 Wochenstunden zum Juni 2018 ergab sich kein Ende des Sozialleistungsbezugs. Die Schwierigkeiten sind ersichtlich nicht nur vorübergehender Natur. Über Vermögen verfügt der Kläger nicht. Insgesamt muss davon ausgegangen werden, dass der Kläger im Fall des Fortbestehens seines Freizügigkeitsrechts dauerhaft vollständig oder jedenfalls zur weit überwiegenden Deckung ihres Lebensbedarfs auf Sozialleistungen angewiesen wäre. Der Kläger begründete seinen Aufenthalt im Bundesgebiet mit 62 Jahren erst in einem Alter, in dem mit einer nachhaltigen wirtschaftlichen Integration nicht mehr zu rechnen war. Der Kläger ging nach seiner Einreise Ende 2013/Anfang 2014 einer Erwerbstätigkeit über einen beträchtlichen Zeitraum bis zum 1. Oktober 2015 zunächst überhaupt nicht und danach bis zum Juni 2018 nur in geringem Umfang in einem nicht sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis in Teilzeit nach. Die seit dem Juni 2018 aufgestockte Teilzeitbeschäftigung genügt offensichtlich nicht zur Sicherung des Lebensunterhalts, denn der Kläger bezieht weiter Grundsicherungsleistungen nach dem SGB XII. Der Kläger hält sich im Zeitpunkt der Bewilligungsreife – im Verhältnis zu seinem Lebensalter erst – seit etwa acht Jahren im Bundesgebiet auf. Es ist damit zu rechnen, dass der Kläger, der im Zeitpunkt der Bewilligungsreife im Sommer 2021 fast 70 Jahre alt war, auf unabsehbare Zeit zur Existenzsicherung auf die Gewährung von Sozialleistungen angewiesen sein wird. Der Umfang des gewährten Sozialleistungsbezugs ist auch erheblich. Der Kläger nimmt Sozialleistungen unangemessen in Anspruch und verfügt damit nicht über ausreichende Existenzmittel i.S.v. § 4 FreizügG/EU.
67
1.1.2.3. Der Kläger ist schließlich auch nicht gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 7 FreizügG/EU als daueraufenthaltsberechtigter Unionsbürger freizügigkeitsberechtigt, weil er sich auch im – insoweit maßgeblichen – Zeitpunkt der Bewilligungsreife nicht seit fünf Jahren ständig rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat. Der Aufenthalt des Klägers war maximal vom ... bis zum ... rechtmäßig (s.o.).
68
Nach dem Wirksamwerden des Verlustfeststellungsbescheids durch Bekanntgabe kann der Betroffene nicht mehr allein durch den weiteren Aufenthalt und die auf dem Unionsbürgerstatus beruhende Freizügigkeitsvermutung in den Status des Daueraufenthaltsberechtigten hineinwachsen, weil durch die Verlustfeststellung die Rechtmäßigkeit seines Aufenthalts endet. Die Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt führt bereits mit ihrer Wirksamkeit (vgl. Art. 43 BayVwVfG), also mit ordnungsgemäßer Bekanntgabe der jeweiligen Entscheidung, zum Entstehen der Ausreisepflicht. Auf die Rechtmäßigkeit der Feststellungsentscheidung kommt es für das Entstehen der Ausreisepflicht nicht an. Dass für die Beendigung der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts nicht die Unanfechtbarkeit der Feststellungsentscheidung nach § 5 Abs. 4 FreizügG/EU maßgeblich ist, sondern nur deren Wirksamkeit, ergibt sich schon aus der Entstehungsgeschichte des § 7 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU. Die Fassung dieser Vorschrift vom 30. Juli 2004 sah das Entstehen der Ausreisepflicht erst mit der Unanfechtbarkeit der Feststellungsentscheidung vor. Mit dem ersten Richtlinienumsetzungsgesetz (vom 19.8.2007, BGBl. I S. 1970) wurde das Erfordernis der Unanfechtbarkeit vom Gesetzgeber bewusst gestrichen (BT-Drs. 16/5065, S. 211). Die Ausreisepflicht bleibt bestehen, solange sie nicht erfüllt und die zugrundeliegende Feststellung wirksam ist (BayVGH, U.v. 18.7.2017 – 10 B 17.339 – a.a.O., Rn. 27). Mit der Bekanntgabe des Bescheids vom 26. April 2021 war der Kläger somit ausreisepflichtig und konnte sich nicht mehr auf die auf dem Unionsbürgerstatus beruhende Vermutung, wonach ein Unionsbürger sich rechtmäßig im jeweils anderen Mitgliedstaat aufhält, berufen.
69
Eine Freizügigkeitsberechtigung hat der Kläger nach Erlass des Verlustfeststellungsbescheids nicht erworben, so dass der Erwerb eines Daueraufenthaltsrechts ersichtlich ausscheidet.
70
Damit liegen die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Verlustfeststellung gemäß § 5 Abs. 4 FreizügG/EU vor.
71
1.1.2. Die Entscheidung der Beklagten, den Verlust des Rechts auf Einreise und Aufenthalt festzustellen, ist ermessensfehlerfrei erfolgt. Insbesondere ist die Verlustfeststellung verhältnismäßig. Die Beklagte hat bei ihrer Entscheidung Art. 14 Abs. 3 RL 2004/38/EG hinreichend beachtet.
72
Zunächst hat die Beklagte das ihr zustehende Ermessen bei der Entscheidung erkannt. Sie hat es auch ordnungsgemäß ausgeübt, insbesondere hat sie bei ihren Erwägungen etwaige familiäre Bindungen des Klägers (zu seiner Ehefrau) sowie unter das Recht auf Privatleben nach Art. 8 EMRK fallende sonstige persönliche Bindungen und Umstände ausreichend berücksichtigt. So hat sie auf Seiten des Klägers in Rechnung gestellt, dass der Kläger sich – im Verhältnis zu seinem Lebensalter – erst verhältnismäßig kurz im Bundesgebiet aufhält, er mit den Lebensverhältnissen sowohl in … als auch … vertraut ist, er sein bisheriges Leben in … und … verbracht hat und erst im Alter von 62 Jahren in das Bundesgebiet eingereist, ihm eine wirtschaftliche Integration in diesem Zeitraum nicht gelungen ist und für seine Ehefrau ebenfalls mit Bescheid vom 26. April 2021 der Verlust des Freizügigkeitsrechts festgestellt wurde. Sie durfte berücksichtigen, dass der Kläger seit dem ... in vollem oder ergänzendem Sozialleistungsbezug stand und infolge des Alters des Klägers nicht abzusehen ist, dass er seinen Lebensunterhalt durch Erwerbstätigkeit wird sichern können, sondern voraussichtlich bis zu seinem Lebensende auf Sozialleistungen zum Lebensunterhalt und Krankenversicherungsschutz angewiesen sein wird. Dies durfte die Beklagte im Rahmen des öffentlichen Interesses berücksichtigen. Die persönlichen Interessen des Klägers wurden in die Entscheidung eingestellt, jedoch ohne Ermessensfehler als weniger gewichtig bewertet.
73
Damit erweist sich die Verlustfeststellung in Nr. 1 des streitgegenständlichen Bescheids als rechtmäßig.
74
1.2. Auch in Bezug auf die Ausreisefrist und die Abschiebungsandrohung nach … stellt sich der Bescheid vom 26. April 2021 bei summarischer Prüfung als rechtmäßig dar.
75
Die in Nr. 2 des Bescheids vom 26. April 2021 gesetzte Ausreisefrist von einem Monat ab Bestandskraft des Bescheids begegnet keinen rechtlichen Bedenken, da sie den Anforderungen des § 7 Abs. 1 Satz 3 FreizügG/EU entspricht. Rechtsgrundlage für die Festsetzung der einmonatigen Ausreisefrist sowie die Abschiebungsandrohung ist § 7 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. Abs. 1 Satz 1, Satz 3 FreizügG/EU. Anhaltspunkte, die die Beklagte hinsichtlich der Verbindung der Abschiebungsandrohung mit der Verlustfeststellung Ermessen eröffnet hätten (Vorliegen eines atypischen Falls), da es sich bei § 7 Abs. 1 Satz 2 FreizügG/EU um eine „Soll“-Vorschrift handelt, sind nicht ersichtlich. An die Vorgabe des § 7 Abs. 1 Satz 3 FreizügG/EU einer Ausreisefrist von mindestens einem Monat hat die Beklagte sich ebenfalls gehalten.
76
Auch die auf § 7 Abs. 1 Satz 2 FreizügG/EU gestützte Abschiebungsandrohung in Nr. 3 des Bescheids erweist sich als rechtmäßig. Dem Erlass der Abschiebungsandrohung stehen Abschiebungsverbote oder sonstige Gründe für die vorübergehende Aussetzung der Abschiebung gemäß § 11 Abs. 14 Satz 2 FreizügG/EU i.V.m. § 59 Abs. 3 Satz 1 AufenthG nicht entgegen.
77
Nach alledem war der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe mangels hinreichender Erfolgsaussichten der Klage abzulehnen.
78
2. Infolge der Ablehnung der Bewilligung von Prozesskostenhilfe war auch der Antrag auf Beiordnung des Prozessbevollmächtigten abzulehnen, §§ 166 VwGO, 121 Abs. 2 ZPO.
79
Die Entscheidung ergeht gerichtskostenfrei.