Inhalt

VG München, Beschluss v. 29.06.2023 – M 18 S 23.3110
Titel:

Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs (Stattgabe), Inobhutnahme, Selbstmelder

Normenketten:
SGB VIII § 42
VwGO § 80
Schlagworte:
Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs (Stattgabe), Inobhutnahme, Selbstmelder
Fundstelle:
BeckRS 2023, 17151

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung des am 23. Juni 2023 eingelegten Widerspruchs gegen die Inobhutnahme der Tochter der Antragstellerin wird wiederhergestellt und der Antragsgegner zur unverzüglichen Übergabe der Tochter an die Antragstellerin verpflichtet.
II. Der Antragsgegner trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Gründe

I.
1
Die Antragstellerin wendet sich gegen die Inobhutnahme ihrer Tochter L.S.
2
Die Antragstellerin hat gemeinsam mit ihrem geschiedenen Ehemann das Sorgerecht für ihre Tochter L.S., geb. am 31. März 2011. Die Eltern wurden am 28. April 2023 geschieden, L.S. lebt bei der Antragstellerin. Hinsichtlich der Umgangskontakte mit dem Kindsvater gab es mehrfach mündliche Verhandlungen vor dem Amtsgericht Fürstenfeldbruck – Familiengericht. In der (wohl) letzten Sitzung vor dem Familiengericht am 14. November 2022 berichtete die Verfahrensbeiständin, dass sich L.S. auch wegen der Frage des Lebensmittelpunktes in einem massiven Loyalitätskonflikt befinde. Das Geschehen hierzu stelle sich als ein einziges Ziehen um das Kind dar, was im letzten Jahr leider nicht besser geworden sei. L.S. habe ihre Lösung so dargestellt, dass sie, wenn sie bei der Mama sei, sage, dass sie bei der Mama leben möchte und wenn sie beim Papa sei, sage, dass sie beim Papa leben möchte. Dies sei aktuell eine Lösung die sich L.S. für sich so zurechtgelegt habe, lasse jedoch massive negative Auswirkungen auf die Entwicklung L.S. für die Zukunft nicht ausschließen. Die Eltern sollten auf L.S. schauen und jeder Elternteil daran arbeiten, was in seinem Einflussbereich liege. In der geschlossenen Vereinbarung wurden insbesondere die Umgangskontakte des Kindsvaters detailliert geregelt und zudem vereinbart, dass die Eltern in Anwesenheit von L.S. nicht schlecht über den jeweils anderen reden werden und die Frage des Lebensmittelpunktes aktuell mit L.S. nicht diskutiert werde.
3
In dem Abschlussbericht einer Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtung vom 8. November 2023 über den stationären Aufenthalt von L.S. vom 12. Oktober bis 9. November 2022 wurden eine Anpassungsstörung (ICD-10 F43.2), einfache Aktivität- und Aufmerksamkeitsstörung (ICD-10 F90.0), Lese- und Rechtschreibstörung (ICD-10 F81.0) sowie familiäre Konflikte (ICD-10 Z63) diagnostiziert. Sie habe regelmäßig an der ADHS-Austauschgruppe teilgenommen. Es sei der Eindruck entstanden, dass sie noch wenig über ADHS wisse. Bei der Ergotherapie habe der Schwerpunkt in der Stärkung ihres Selbstwertgefühls und dem Thema „Umgang mit der Trennung“ gelegen. Es sei deutlich, dass beide Elternteile für sie wichtig seien und die gemeinsame Zeit genieße.
4
Am 27. März 2023 schlossen die Kindeseltern mit dem Antragsgegner ein Schutzkonzept nach § 8a SGB VIII in dem vereinbart wurde, dass beide Kindeseltern einer psychotherapeutischen Anbindung von L.S. zustimmen. Die Kindesmutter übernehme die Aufgabe der Therapieplatzsuche. Sollte Vereinbarungen nicht eingehalten werden, behalte sich der Antragsgegner vor, sich an das Amtsgericht Fürstenfeldbruck zur weiteren Klärung der Situation zu wenden und eine mögliche Inobhutnahme in die Wege zu leiten.
5
In einem Aktenvermerk des Antragsgegners vom 9. Mai 2023 wird festgehalten, dass der Schulsozialdienst mitgeteilt habe, dass L.S. einen extremen Redebedarf habe. Sie werde von der Kindesmutter beeinflusst, Dinge zu erzählen, die nicht wahr seien und wolle gern mehr Umgang mit dem Vater. Als vereinbarte Lösungsschritt wurde ein Termin mit L.S. in der Schule am 16. Mai 2023 vereinbart. Ein Aktenvermerk zu diesem Termin findet sich in der vorgelegten Behördenakte nicht.
6
In einer E-Mail vom 13. Juni 2023 wandte sich die Schulpsychologin an den Antragsgegner und teilte mit, dass L.S. das Gespräch mit ihr gesucht und unter Tränen über ihre derzeitige Lebenssituation berichtet habe. Sie möchte nicht mehr bei der Mutter wohnen. Die Mutter nötige sie, täglich viel zu viel zu lernen und lasse ihr keinen Raum. Sie habe das Gefühl erdrückt zu werden und fühle sich nicht verstanden. Die Schulpsychologen finde die Entwicklung von L.S. innerhalb eines Jahres bedenklich, L.S. wirke auf sie sehr belastet.
7
Die zuständige Fachkraft des Antragsgegners antwortete hierauf am 16. Juni 2023 per E-Mail, dass sie kürzlich mit L.S. bei dem Gespräch mit dem Schulsozialdienst gewesen sei und diese dort Ähnliches erzählt habe. Die Kindesmutter versuche gerade eine therapeutische Anbindung für L.S. zu finden; dies gestaltet sich allerdings äußerst schwierig. Aufgrund der Probleme der Lebensgefährtin des Kindsvaters sei der Umgang mit diesem weiterhin deutlich reduziert. Ein Umzug zu diesem daher eher schwierig, zumal dieser vermutlich wieder vor Gericht verhandelt werden müsse. Nach Einschätzung weiteren Gefährdungsmeldungen sei in der Gesamtschau der Situation vom Krisendienst davon abgesehen worden, eine Erörterung einer Kindeswohlgefährdung vor Gericht zu beantragen. Im Moment könne weiterhin nur Beratung angeboten und in den Gesprächen auf beide Elternteile eingewirkt werden.
8
Entsprechend dem Vermerk des Antragsgegners erfolgte am 21. Juni 2023 eine Gefährdungsmeldung durch den Schulsozialdienst. L.S. habe geäußert, sie wolle heute nicht mehr nach Hause, da die Mutter sie so unter Druck setzen würde. Sie sei psychisch sehr instabil, weinend zum Schulsozialdienst gekommen und habe geäußert, dass sie es zu Hause bei der Mutter nicht mehr aushalte. Sie wolle eine Auszeit von beiden Eltern. L.S. komme regelmäßig zum Schulsozialdienst und der Schulpsychologen. Die Gefährdung sei akut, da sie nicht mehr nach Hause wolle.
9
In der sich anschließenden Beurteilung durch den Antragsgegner wird festgehalten, dass ein sofortiger Besuch in der Schule erfolge, um mit L.S. zu sprechen und die aktuelle Situation zu klären. Gegebenenfalls erfolge eine Inobhutnahme und ein anschließendes Gespräch im Amt mit den Kindeseltern.
10
In dem Protokoll des Antragsgegners über das Gespräch mit L.S. wird festgehalten, dass diese gegenüber den Fachkräften angegeben habe, dass sie es zu Hause nicht mehr aushalte. Ihr Kopf sei sehr voll und würde fast platzen. Die Mutter würde sie sehr stark unter Druck setzen, dass sie mehr lernen solle. Auch wolle sie Abstand von den Streitigkeiten der Kindeseltern nehmen, sie würde viel zu viel mitbekommen und das mache sie fertig. Die Kindesmutter würde sie stark kontrollieren. Auf einer Skala von 1 bis 10 wie schlecht es ihr gehe, habe sie 1000 angegeben. Sie wolle eine Auszeit von den Eltern; während des Gespräches sei sie immer wieder weinend zusammengebrochen. Der Antragsgegner nahm L.S. daraufhin in Obhut und brachte sie in einer Pflegefamilie unter.
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Entsprechend dem weiteren Protokoll des Antragsgegners über das Gespräch mit den Kindeseltern wird festgehalten, dass die Kindesmutter angegeben habe, dass die letzten Tage zu Hause normal gewesen seien und sie sehr erschrocken darüber sei, dass sich L.S. in Obhut habe nehmen lassen. In der Früh sei sie noch fröhlich aus dem Haus gegangen. Es habe die letzten Wochen keine Streitigkeiten zwischen den Kindeseltern gegeben, auch die Übergaben seien normal und harmonisch gewesen. Sie würde L.S. nicht unter Druck setzen. Die Kindeseltern hätten sich ein gemeinsames Gespräch mit L.S. gewünscht, um die Unstimmigkeiten zu klären. Gemäß der Beurteilung des Antragsgegners hätten die Eltern keine realistische Einschätzung hinsichtlich der massiven psychischen Belastung von L.S. durch den Trennungskonflikt der Eltern. Der Kindesvater erklärte sich am 21. Juni 2023 mit der Inobhutnahme einverstanden, die Antragstellerin stimmte der Inobhutnahme nicht zu.
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Mit Schreiben vom 23. Juni 2023 beantragte der Antragsgegner bei dem Amtsgericht Fürstenfeldbruck – Familiengericht, den Sorgeberechtigten das Aufenthaltsbestimmungsrecht zu entziehen und einen Erörterungstermin anzuberaumen. Die Eilbedürftigkeit basiere darauf, dass die Kindsmutter der Inobhutnahme nicht zugestimmt habe, dem Verdacht auf chronische Kindeswohlgefährdung durch massive Einschränkung der Autonomieentwicklung, Kindeswohlgefährdung durch massive Elternkonflikte und den dadurch entstehenden Loyalitätskonflikt sowie kaum Mitwirkungsbereitschaft, an L.S Situation etwas zu verändern (Beratungszeitraum April 21 bis jetzt). Um den staatlichen Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung erfüllen zu können, sei eine Weiterführung der Inobhutnahme bis zur weiteren Klärung unumgänglich.
13
Ebenfalls mit Schreiben vom 23. Juni 2023 erklärte der Bevollmächtigte der Antragstellerin gegenüber dem Antragsgegner den Widerspruch gegen die Inobhutnahme, regte den Kontakt mit den behandelnden Therapeutinnen und Ärzten an und machte Ausführungen zur Sache. Zudem übersandte der Bevollmächtigte der Antragstellerin am 23. Juni 2023 eine Schutzschrift an das Amtsgericht Fürstenfeldbruck.
14
Das Amtsgerichts Fürstenfeldbruck – Familiengericht bestimmte einen Anhörungstermin auf den 7. Juli 2023.
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Mit Schriftsatz vom 26. Juni 2023 beantragte der Bevollmächtigte für die Antragstellerin beim Verwaltungsgericht München sinngemäß,
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die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 23. Juni 2023 gegen die Aufrechterhaltung der Inobhutnahme anzuordnen und den Antragsgegner zu verpflichten, der Antragstellerin das Kind herauszugeben.
17
Zur Begründung wurde insbesondere ausgeführt, dass das Jugendamt bislang keinen schriftlichen Bescheid erlassen, sondern die Inobhutnahme bereits vollzogen habe und aufrechterhalte. Die Anordnung sei bereits mangels hinreichender Begründung formal rechtswidrig und könne deshalb keinen Bestand haben. Darüber hinaus bestünden erhebliche Zweifel daran, ob im vorliegenden Verfahren die Voraussetzungen des § 42 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b SGB VIII tatsächlich erfüllt seien und eine familiengerichtliche Entscheidung nicht rechtzeitig vor der Inobhutnahme eingeholt hätte werden können. Die Antragstellerin sei stets Kooperation bereit und nehme alle denkbaren fachlichen Hilfen in Anspruch. L.S. verspüre schulischen Druck, was sowohl am Ende eines Schuljahres als auch unter ihren persönlichen Lernschwächen verständlich sei. Klassenkameraden hätten geschildert, dass L.S. am Tag der Selbstmeldung ihre Probe in Englisch nicht habe schreiben wollen, nachdem der Lehrer die Klasse geschimpft habe. Selbst bei Wahrunterstellung, dass die Antragstellerin die Kommunikation ihrer 12-jährigen Tochter in sozialen Medien kontrolliere, sei dies kein Grund für eine Inobhutnahme. Die pauschale Behauptung, dass bei einem weiteren Aufenthalt der Tochter bei der Mutter „seelische Gewalt nicht ausgeschlossen werden könne“, sei nicht geeignet, um eine erhebliche konkrete Gefährdung des Kindeswohls zu begründen. Dieser Vorhalt sei angesichts der intensiven therapeutischen und pädagogischen Anbindung der Tochter, die durch die Mutter erfolgt sei, auch substanzlos. Ergänzend wurden zahlreiche Unterlagen vorgelegt.
18
Mit Bescheid, datiert auf den 23. Juni 2023 den Bevollmächtigten der Antragstellerin übersandt mit Zuleitungsschreiben vom 27. Juni 2023, ordnete der Antragsgegner die Inobhutnahme von L.S. an und erklärte diese für sofort vollziehbar. Zur Begründung wurde insbesondere ausgeführt, dass der Wunsch auf Inobhutnahme mehrmals wiederholt worden sei. Auch bestehe durch die Familienkonstellation im Haushalt und durch das Verhalten der Kindesmutter eine Gefahr für das Wohl von L.S. Die Gefahr sei auch als dringend einzustufen, da bei ungehinderten weiteren Verbleib mit hoher Wahrscheinlichkeit ein psychischer und/oder physischer Schaden für L.S. zu erwarten sei. Auch der Kontrollzwang der Antragstellerin, der z.B. durch die installierte Ortungsapp auf dem Handy von L.S. dauerhaft bestehe, zeige, dass das Kindeswohl gefährdet sei. L.S. benötige eine Auszeit von der Mutter. Eine Entscheidung des Familiengerichts habe auf die Stelle nicht herbeigeführt werden können.
19
Die Anordnung des Sofortvollzuges wurde damit begründet, dass derzeit eine Kindeswohlgefährdung vorliege, sodass die Inobhutnahme bis zur Klärung des Gefährdungsrisikos zwingend aufrechtzuerhalten sei. Ebenso sei der Wille des Kindes zu berücksichtigen und stark ausschlaggebend.
20
Der Antragsgegner legte am 27. und 28. Juni 2023 dem Gericht (unvollständige) Behördenakten elektronisch vor.
21
Durch Beschluss der Kammer vom 28. Juni 2023 wurde der Rechtsstreit gemäß § 6 VwGO zu Entscheidung auf den Einzelrichter übertragen.
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Mit Schriftsatz vom 27. Juni 2023, eingegangen am 28. Juni 2023, beantragte der Antragsgegner,
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den Antrag abzuweisen.
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Zur Begründung wurde ausgeführt, dass derzeit eine Gefährdung des Kindeswohl bestehe. Dies begründe sich vor allem durch die Tatsache, dass L.S. eine massive psychische Belastung erleide und eine Auszeit von der Mutter brauche, um nicht aufgrund des enormen Drucks an einer psychischen oder physischen Erkrankung zu erkranken. Während der Inobhutnahme sollten Vorkehrungen getroffen und die Maßnahmen geplant werden, die das Leben in der eigenen Familie für das Kind möglich machen sollten.
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Die Bevollmächtigten der Antragstellerin nahmen mit Schriftsatz vom 28. Juni 2018 ergänzend Stellung und führten insbesondere aus, dass auch der nun eingegangene schriftliche Bescheid des Landratsamtes sowie die Stellungnahme vom 27. Juni 2023 keine ausreichende Begründung für die Aufrechterhaltung der Inobhutnahme enthieten. Der Antragsgegner verkenne, dass Schulleistungsprobleme sowie hyperaktives, ein stark ausgeprägtes impulsives und teils auch aggressives Verhalten ein typisches ADHS Syndrom darstellen würden. Kinder mit ADHS könnten sich selbst nicht so gut steuern, wie das anderen Kindern möglich sei. Deshalb müssten die Eltern diese Kinder mehr lenken, als das sonst notwendig sei. Ein wichtiges Mittel dabei sei möglichst klare Regeln zu setzen. Auch bei Selbstmelderfällen sei für die kurze Zeitspanne nach Beginn der Inobhutnahme bei Widerspruch eines Erziehungsberechtigten fortlaufend zu prüfen, ob die Voraussetzung der Inobhutnahme weiterhin vorliegen. Gründe, die für eine konkrete Gefährdung des Kindeswohls sprechen, würden auch in der schriftlichen Begründung nicht vorgetragen. Der Antragsgegner lege nicht dar, welche „verschiedenen Möglichkeiten durch den BVI“ mit L.S. erörtert worden seien. Die Meldungen zur Kindeswohlgefährdung aus dem Jahr 2022 würden aus der Sphäre des Kindesvaters und dessen Lebensgefährtin stammen und hätten sich als vollkommen haltlos herausgestellt. Welches Verhalten der Antragstellerin vorgeworfen werde, sei völlig unklar. Die Antragstellerin begleite ihre Tochter unter Zuhilfenahme kinderpsychiatrischer, heilpädagogischer, logopädischer und ergotherapeutischer Fachkräfte. Für die Sommerferien bemühe sie sich derzeit um einen ambulanten oder stationären Platz für die Tochter. Die Antragstellerin habe außerdem erfahren, dass ihre Tochter angeblich ab 7. Juli 2023 die Schule wechseln solle. Hiervon sei die Antragstellerin nicht einmal unterrichtet worden. Die Einflussnahme der Schulpsychologin, die mit Vehemenz durchsetzen möchte, dass L.S. die Ganztagesklasse besucht, werde nun offenkundig.
26
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der vorgelegten Behördenakten verwiesen.
II.
27
Der gemäß §§ 123, 88 VwGO im tenorierten Umfang auszulegende zulässige Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs sowie der Aufhebung der Vollziehung hat Erfolg.
28
Nach § 80 Abs. 5 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung eines Widerspruchs im Fall des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO ganz oder teilweise wiederherstellen. Das Gericht trifft dabei eine eigene Ermessensentscheidung. Es hat bei der Entscheidung über die Anordnung bzw. Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung abzuwägen zwischen dem von der Behörde geltend gemachten Interesse an der sofortigen Vollziehung ihres Bescheids und dem Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs. Bei dieser Abwägung sind auch die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens zu berücksichtigen. Ergibt die im Rahmen des Verfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO allein erforderliche summarische Prüfung, dass der Rechtsbehelf voraussichtlich erfolglos sein wird, tritt das Interesse des Antragstellers regelmäßig zurück. Erweist sich der Bescheid bei dieser Prüfung dagegen als rechtswidrig, besteht kein Interesse an dessen sofortiger Vollziehung. Ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens nicht hinreichend absehbar, verbleibt es bei einer allgemeinen Interessensabwägung. Sofern der Verwaltungsakt im Zeitpunkt der Entscheidung schon vollzogen ist, kann das Gericht die Aufhebung der Vollziehung anordnen, § 80 Abs. 5 Satz 3 VwGO.
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Der Antrag ist zulässig, insbesondere fehlt ihm auch nicht das Rechtsschutzbedürfnis. Auch bei gemeinsamem Sorgerecht kann jeder Elternteil für sich grundsätzlich i. S. d. – für die Frage der Antragsbefugnis entsprechend heranzuziehenden – § 42 Abs. 2 VwGO geltend machen, durch die Inobhutnahme seines (leiblichen) Kindes in seinem Elternrecht verletzt zu sein (OVG NW, B.v. 2.3.2023 – 12 E 102/23 – juris Rn. 6).
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Zudem ist der Antrag begründet.
31
Zum maßgeblichen Zeitpunkt des vorliegenden Verfahrens, dem Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (Hoppe in Eyermann, 16. Auflage 2022, § 80 Rn. 105), stellt sich die Anordnung der sofortigen Vollziehung der Inobhutnahme nach summarische Prüfung bereits mangels ausreichender Begründung als rechtswidrig dar, zudem bestehen erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Aufrechterhaltung der Inobhutnahme sodass die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs wiederherzustellen war. Da die Inobhutnahme bereits vollzogen ist, war darüber hinaus die Aufhebung der Vollziehung anzuordnen; ein Ermessen des Gerichts besteht insoweit nicht (Hoppe in Eyermann, VwGO, 16. Auflage 2022, § 80 Rn. 115 ff.).
32
Die Inobhutnahme stellt für die Antragstellerin einen belastenden Verwaltungsakt gemäß § 31 Satz 1 SGB X dar. Der Verwaltungsakt der Inobhutnahme wird gemäß §§ 37 Abs. 1, 39 Abs. 1 SGB X mit seiner Bekanntgabe an die Sorgeberechtigten, die gemäß § 33 Abs. 2 Satz 1 SGB X auch mündlich erfolgen kann, wirksam (vgl. Dürbeck in Wiesner/Wapler, SGB VIII, 6. Aufl. 2022, § 42 Rn. 67, 68a).
33
Im Rahmen der Inobhutnahme ist zwischen dem form- und fristfreien Widerspruch zur Zustimmung zur Inobhutnahme, der dazu führt, dass nach § 42 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 SGB VIII unverzüglich eine Entscheidung des Familiengerichts über die für die Zukunft erforderlichen Maßnahmen zum Wohl des Kindes oder des Jugendlichen herbeizuführen ist, und dem Widerspruch nach § 70 VwGO der zur Überprüfung der Inobhutnahme führt, zu unterscheiden.
34
Mit dem Schreiben des Bevollmächtigten der Antragstellerin vom 23. Juni 2023 wurde ein förmlicher Widerspruch nach § 70 VwGO eingelegt. Soweit hierbei ausschließlich auf § 42 Abs. 3 SGB XII (gemeint wohl SGB VIII) Bezug genommen wurde, erscheint dies unschädlich, denn aus dem Schreiben geht erkennbar hervor, dass damit der Inobhutnahme widersprochen wird und somit auch ein förmlicher Widerspruch gemäß § 70 VwGO vorliegt.
35
Gemäß § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO haben Widerspruch und Anfechtungsklage gegen Verwaltungsakte grundsätzlich aufschiebende Wirkung. Eine Inobhutnahme gemäß § 42 Abs. 1 SGB VIII wird vom Tatbestand des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1, 2 und 3 VwGO nicht umfasst, die aufschiebende Wirkung entfällt daher auch nicht ausnahmsweise kraft Gesetzes (vgl. VG München, B.v. 21.12.2020 – M 18 S 20.6711 – juris Rn. 22 ff. m.w.N.; Dürbeck in Wiesner/Wapler, SGB VIII, 6. Aufl. 2022, § 42 Rn. 67; Kepert in Kunkel/Kepert/Pattar, SGB VIII, 8. Aufl. 2022, § 42 Rn. 100).
36
Im Fall der Anordnung der sofortigen Vollziehung gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO hat gemäß § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO die Begründung schriftlich zu erfolgen (vgl. VG München, B.v. 21.12.2020 – M 18 S 20.6711 – juris Rn. 24; VG Würzburg, B.v. 5.6.2018 – W 3 S 18.745 – juris Rn. 23 m.w.N.; OLG Frankfurt, B.v. 22.1.2019 – 4 WF 145718 – juris – Leitsatz 2, Rn. 15). Erforderlich ist eine auf den konkreten Einzelfall abstellende Darlegung des besonderen öffentlichen Interesses dafür, dass ausnahmsweise die sofortige Vollziehbarkeit notwendig ist und dass hinter dieses erhebliche öffentliche Interesse das Interesse des Betroffenen zurücktreten muss, zunächst von dem von ihm bekämpften Verwaltungsakt nicht betroffen zu werden (Hoppe in Eyermann, 16. Auflage 2022, § 80 Rn. 54 ff.). Zwar mögen bei Maßnahmen die zur Abwehr von Gefahren für wichtige Gemeinschaftsgüter dienen und die grundsätzlich nur in akuten Gefährdungssituationen in Betracht kommen – wie der Inobhutnahme (vgl. OVG MV, B.v. 26.4.2018 – 1 LZ 238/17 – juris, Leitsatz, Rn. 6) – die Anforderungen zur Begründung des besonderen öffentlichen Vollzugsinteresses deutlich geringer sein, dennoch können sie nicht völlig entfallen.
37
Nachdem der Antragsgegner trotz Widerspruch der Antragstellerin an der Inobhutnahme ohne Bescheiderlass und insbesondere schriftliche Begründung des Sofortvollzugs festhielt, lag zunächst ein Fall des sogenannten faktischen Vollzuges vor, welcher ohne weiteres zur Rechtswidrigkeit der Verwaltungsmaßnahme führt (vgl. Schoch in Schoch/Schneider, VwGO, 42. EL Februar 2022, § 80 Rn. 352).
38
Zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung liegt zwar nunmehr ein schriftlicher Bescheid vor, in dem der Sofortvollzug angeordnet und begründet wurde. Diese Begründung genügt jedoch nicht den Anforderungen.
39
Denn die Begründung wiederholt lediglich formelhaft die bereits für die Inobhutnahme gegebene Begründung. Diese führt jedoch – neben dem zunächst erfolgen Wunsch der L.S. auf Inobhutnahme – lediglich die bereits seit langen bestehenden Belastungssituation für L.S. und der zukünftigen dringenden Gefahr eines Schadenseintritts an, ohne zusätzliche konkrete Anlässe für die Aufrechterhaltung der Inobhutnahme zu benennen. Für die Begründung des Sofortvollzuges hätte es daher darüber hinaus zumindest der konkreten Darlegung bedurft, welche kurzfristigen Gefährdungen für L.S. gesehen werden. Gleiches gilt für die in der Antragserwiderung gegebene Begründung.
40
Auch der Verweis auf den von L.S. am 21. Juni 2023 geäußerte Wunsch auf Inobhutnahme kann die Anordnung des Sofortvollzugs für die Zukunft nicht ohne weiteres begründen. Die Anordnung des Sofortvollzuges ist damit mangels hinreichende Begründung formal rechtswidrig und kann deshalb keinen Bestand haben.
41
Darüber hinaus hat das Gericht jedoch auch erhebliche Zweifel daran, ob zumindest zum vorliegend maßgeblichen Zeitpunkt die Voraussetzung des § 42 Abs. 1 SGB VIII noch erfüllt sind.
42
Gemäß § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII ist das Jugendamt berechtigt und verpflichtet, ein Kind oder einen Jugendlichen in seine Obhut zu nehmen, wenn eine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen die Inobhutnahme erfordert und eine familiengerichtliche Entscheidung nicht rechtzeitig eingeholt werden kann. Die Inobhutnahme stellt sich als wesentlicher Eingriff in das grundrechtlich gemäß Art. 6 Abs. 2 GG geschützte Elternrecht dar (vgl. BayVGH, B.v. 9.1.2017 – 12 CS 16.2181 – juris Rn. 4 ff.). Sie kommt bei Widerspruch der Personensorgeberechtigten nur in akuten Gefährdungssituationen in Betracht, die eine abwartende Entscheidung des Familiengerichts nicht erlauben; sie ist ultima ratio (vgl. OVG M-V, B.v. 26.4.2018- 1 LZ 238/17 – juris).
43
Das Jugendamt ist zwar gemäß § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VIII berechtigt und verpflichtet, ein Kind oder einen Jugendlichen in seine Obhut zu nehmen, wenn das Kind oder der Jugendliche um Obhut bittet.
44
Voraussetzung für eine solche Inobhutnahme eines „Selbstmelders“ ist danach zunächst der bloße subjektive Hilfebedarf des Kindes oder Jugendlichen. Die Bitte um Inobhutnahme muss ernst gemeint sein und freiwillig erfolgen und darf nicht (offensichtlich) rechtsmissbräuchlich sein (OVG NW, B.v. 7.2.2022 – 12 A 1402/18 – juris Rn. 91 m.w.N.). An diesen eindeutig geäußerten Wunsch sind keine weiteren formellen und/oder inhaltlichen Anforderungen zu stellen. Insbesondere darf die Inobhutnahme nicht von einer zusätzlichen Gefährdungseinschätzung entsprechend § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII abhängig gemacht werden (VG München, U.v. 14.12.2022 – M 18 K 18.1351 – juris Rn. 66 ff. m.w.N.).
45
Jedoch sorgt im Folgenden der gesetzlich zwingend vorgegebene weitere Verfahrensablauf, der die unverzügliche Einbeziehung der Personensorge- und Erziehungsberechtigten, die weitere Aufklärung des Gefährdungsrisikos und den Übergabeanspruch der Personensorge- und Erziehungsberechtigten vorsieht, für die Wahrung des verfassungsrechtlich geschützten Elternrechts.
46
Gemäß § 42 Abs. 2 SGB VIII muss die Situation, die zur Inobhutnahme geführt hat, geklärt und müssen Möglichkeiten der Hilfe und Unterstützung aufgezeigt werden. Im Falles eines Widerspruchs der Personensorge- oder Erziehungsberechtigten gegen die Inobhutnahme ist die Entscheidung des Jugendamtes, die Inobhutnahme bis zu einer familiengerichtlichen Entscheidung aufrecht zu erhalten, danach nur dann rechtmäßig, wenn ohne die Inobhutnahme die Gefahr einer Beeinträchtigung des Wohles des Kindes oder Jugendlichen besteht und die Eltern zu Abwehr dieser Gefährdung nicht bereit oder in der Lage sind. Auch bei Selbstmeldern genügt somit der ernsthaft, freiwillig und nicht rechtsmissbräuchlich geäußerte Wille des Kindes oder Jugendlichen allein nicht bzw. nur für eine kurze Zeitspanne zu Beginn der Inobhutnahme. Im Anschluss muss auch bei Selbstmelderfällen für eine weitere Aufrechthaltung der Inobhutnahme gegen den Willen der bzw. eines Erziehungsberechtigten umgehend eine Gefährdungseinschätzung im Sinne des § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII (Inobhutnahme wegen dringender Gefahr für das Wohl des Kindes) erfolgen (vgl. VG München, U.v. 14.12.2022 – M 18 K 18.1351 – juris Rn. 68 ff. m.w.N.).
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Die Inobhutnahme muss dementsprechend fortlaufend erforderlich sein. Erforderlich ist eine Maßnahme nur dann, wenn ein gleich wirksames, den betroffenen Bürger aber weniger beeinträchtigendes Mittel nicht zur Verfügung steht. Das bedeutet, dass unter mehreren gleich effektiven Mitteln dasjenige gewählt werden muss, welches den Bürger am wenigsten beeinträchtigt. Ebenso wie bei den „erforderlichen Maßnahmen“ nach § 1666 Abs. 1 BGB ist damit auch hier die Pflicht zur Prüfung angesprochen, ob es ein im Vergleich zur Inobhutnahme milderes, gleich geeignetes Mittel gibt. Zu fragen ist, ob die Kindeswohlgefährdung auch auf andere Weise, insbesondere durch öffentliche Hilfen, gleich effektiv abgewendet werden kann. Kommen Hilfen in Betracht, ist umgehend der Bedarf zu ermitteln und ein entsprechendes Hilfeplanverfahren einzuleiten (vgl. VG München, U.v. 14.12.2022 – M 18 K 18.1351 – juris Rn. 72 ff. m.w.N.).
48
Dementsprechend ist die Aufrechterhaltung einer Inobhutnahme ausschließlich mit dem Argument der Klärung des zukünftigen Aufenthaltsortes des Kindes und möglicher Hilfemaßnahmen im Rahmen eines (auch durch das Jugendamt eingeleitetes) familiengerichtlichen Verfahrens nicht zulässig. Vielmehr ist auch bis zur familiengerichtlichen Entscheidung konstant die konkrete Gefährdungssituation zu beurteilen.
49
Das Gericht hat vorliegend erhebliche Zweifel daran, ob überhaupt jemals eine konkrete Gefährdungssituation vorlag, die die zunächst auf Wunsch von L.S. erfolgte Inobhutnahme rechtfertigen konnte. Insoweit fehlt es an jeder konkreten Darstellung und insbesondere jeder weiteren Sachverhaltsklärung durch den Antragsgegner, so insbesondere auch der Kontaktaufnahme mit den behandelnden Ärzten wie von der Antragstellerin von Beginn an erbeten.
50
Außerhalb der Selbstmeldung der L.S., die im Übrigen hinsichtlich des Gesprächsverlaufs und konkreter Aussagen der Beteiligten ebenfalls detaillierter dokumentiert werden sollte, dürfte sich die Situation nicht wesentlich zu der seit langem bestehenden belasteten Situation geändert haben, die dem Antragsgegner (und auch dem Familiengerecht) seit langem bekannt ist. Dennoch hat der Antragsgegner noch in einer E-Mail vom 16. Juni 2023 an die Schulpsychologen mitgeteilt, dass man im Moment nur Beratung anbieten könne und in Gesprächen auf beide Elternteile einwirke.
51
Warum diese Situation nunmehr eine akute Gefährdungslage darstellt, die eine Inobhutnahme rechtfertigen könnte, erläutert der Antragsgegner nicht. Sofern der Antragsgegner davon ausgeht, dass die Gefährdung der L.S. aufgrund einer stetigen extremen Belastungssituation nunmehr – auch ohne Hinzutreten weiterer Ereignisse – zu einem akuten Handlungsbedarf führt, wäre es an dem Antragsgegner gewesen, sich frühzeitig an das Familiengericht zu wenden.
52
Denn eine Inobhutnahme kommt nur in Betracht, wenn eine familiengerichtliche Entscheidung nicht rechtzeitig eingeholt werden kann. Die Inobhutnahme ist ultima ratio und gegenüber Entscheidungen des Familiengerichts nachrangig. Vor der Inobhutnahme muss deshalb grundsätzlich versucht werden, eine Entscheidung des Familiengerichts einzuholen (siehe zum Richtervorbehalt ausführlich: vgl. VG München, GB v. 4.4.2023 – m 18 K 18.5285 – juris Rn. 69 ff. m.wN.; VG Hannover, B.v. 13.2.2023 – 3 B 446/23 – juris; AG Schwäbisch Hall, B.v. 8.9.2021 – 2 F 495/21 eA – juris Rn. 19 ff.).
53
Der Antragsgegner hat es daher fehlerhaft unterlassen, sich rechtzeitig an das Familiengericht zu wenden, um der dauerhaft bestehenden Belastungssituation für L.S. – an der auch das Gericht keinen Zweifel hat – Einhalt zu gebieten.
54
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
55
Das Verfahren ist gerichtskostenfrei nach § 188 Satz 2 VwGO.