Inhalt

VG Würzburg, Urteil v. 11.05.2023 – W 5 K 22.260
Titel:

Klage der Gemeinde gegen Erteilung einer Baugenehmigung für zwei Mehrfamilienhäuser unter Ersetzung des gemeindlichen Einvernehmens

Normenketten:
VWGO § 113 Abs. 1
BauGB § 34 Abs. 1 S. 1, Abs. 2, § 36 Abs. 2 S. 3
BayBO Art. 59, Art. 67 Abs. 1 S. 1, Art. 68 Abs. 1 S. 1
Leitsätze:
1. Ein fehlendes gemeindliches Einvernehmen darf die Baugenehmigungsbehörde nach § 36 Abs. 2 S. 3 BauGB iVm Art. 67 Abs. 1 S. 1 BayBO nur ersetzen, wenn es zu Unrecht verweigert worden ist, weil das Vorhaben nach den § 31 und § 33 bis § 35 BauGB zulässig ist. Der materielle Prüfungsrahmen ist entsprechend auf das Bauplanungsrecht reduziert, unterliegt jedoch mit Blick auf die aus der Selbstverwaltungsgarantie (Art. 28 Abs. 2 S. 1 GG, Art. 11 Abs. 2 S. 2 BV) abzuleitende gemeindliche Planungshoheit – anders als bei privaten Dritten – keiner weiteren Einschränkung. (Rn. 23)  (redaktioneller Leitsatz)
2. Da die Gemeinde ihr Einvernehmen nur aus den in § 36 Abs. 2 S. 1 BauGB genannten Gründen versagen darf, sind die Voraussetzungen der § 31, § 33 bis § 35 BauGB auf das Rechtsmittel der Gemeinde hin in vollem Umfang nachzuprüfen (hier Rechtmäßigkeit der Ersetzung des Einvernehmens bejaht, da das Bauvorhaben "Neubau eines 5-Familienwohnhauses und eines 3-Familienwohnhauses mit Carport" im hier vorliegenden unbeplanten Innenbereich bauplanungsrechtlich zulässig ist). (Rn. 24 – 27) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Baugenehmigung für ein 5-Familienwohnhaus und ein 3-Familienwohnhaus, Klage der Gemeinde wegen Ersetzung des gemeindlichen Einvernehmens, Einfügen nach dem Maß der baulichen Nutzung, kumulierende Betrachtung von Grundfläche und Höhe, Grundfläche, Gebäudehöhe bei Hangbebauung, mittlere Firsthöhe, mittlere Traufhöhe, Anfechtungsklage, Baugenehmigung, Gemeinde, Ersetzung des gemeindlichen Einvernehmens, unbeplanter Innenbereich, zwei Mehrfamilienhäuser, Einfügen, Maß der baulichen Nutzung
Fundstelle:
BeckRS 2023, 17146

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Die Beigeladene trägt ihre außergerichtlichen Aufwendungen selbst.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher in gleicher Höhe Sicherheit leistet.

Tatbestand

1
Der Kläger wendet sich gegen die vom Landratsamt W. der Beigeladenen mit Bescheid vom 13. Januar 2022 erteilte Baugenehmigung für den „Neubau eines 5-Familienwohnhauses und eines 3-Familienwohnhauses mit Carport“ auf dem Grundstück Fl.Nr. …6 der Gemarkung H. …, R. … … in H. … (Baugrundstück), durch die gleichzeitig sein gemeindliches Einvernehmen ersetzt wurde.
1.
2
Das 1.485 m² große Baugrundstück befindet sich im unbeplanten Innenbereich von H. … und ist mit einem Einfamilienhaus bebaut. Es grenzt im Norden (hangabwärts) an die Erschließungsstraße A. … S. … und im Süden (hangaufwärts) an den R. … an.
2.
3
Mit Bauantrag vom 25. Juni 2021 / 19. August 2021, eingegangen beim Landratsamt W. am 30. Juni 2021 bzw. am 24. August 2021, begehrte die Beigeladene die baurechtliche Genehmigung für das Bauvorhaben „Neubau eines 5-Familienwohnhauses und eines 3-Familienwohnhauses mit Carport“ auf dem Baugrundstück.
4
Der Markt H. versagte in der Sitzung seines Bau- und Umweltausschusses vom 13. Juli 2021 sein gemeindliches Einvernehmen mit der Begründung, dass sich das Vorhaben nach Art und Maß der baulichen Nutzung, der Bauweise und der Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, nicht in die Eigenart der näheren Umgebung einfüge. Das geplante Bauvorhaben sei nach Auffassung des Marktes H. städtebaulich nicht vertretbar, auch unter Würdigung der nachbarlichen Interessen und der öffentlichen Belange.
5
Mit Schreiben vom 4. November 2021 informierte das Landratsamt W. den Markt H. darüber, dass die vorliegende Planung aus Sicht der Baugenehmigungsbehörde genehmigungsfähig sei und beabsichtigt sei, die beantragte Baugenehmigung zu erteilen sowie das gemeindliche Einvernehmen zu ersetzen. Dem Kläger wurde zugleich Gelegenheit gegeben, neu über das gemeindliche Einvernehmen zu entscheiden.
6
Auch in der erneuten Beschlussfassung vom 16. November 2021 verweigerte der Bau- und Umweltausschuss des Klägers das gemeindliche Einvernehmen. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass der Markt H. an seiner Beschlussfassung vom 13. Juli 2021 festhalte und sein Einvernehmen zum vorgelegten Bauvorhaben nicht erteile, da weiterhin die Auffassung vertreten werde, dass sich dieses aufgrund Art und Maß der baulichen Nutzung nicht in die Eigenart der näheren Umgebung einfüge.
3.
7
Mit Bescheid vom 13. Januar 2022 erteilte das Landratsamt W. der Beigeladenen die begehrte Baugenehmigung (Ziff. 1) unter Ersetzung des gemeindlichen Einvernehmens (Ziff. 3).
8
Zur Begründung wurde ausgeführt: Die im Verfahren vorgebrachten Einwendungen von Seiten des Klägers seien geprüft worden. Diese seien hinsichtlich der Zu- und Abfahrt zum Gebäude als auch im Bereich der Zufahrt zur Tiefgarage durch Umplanung behoben worden. Das gemeindliche Einvernehmen sei gemäß Art. 67 Abs. 1 Satz 1 BayBO zu ersetzen gewesen, weil dessen Verweigerung rechtswidrig erfolgt sei und ein Rechtsanspruch auf Erteilung der Genehmigung bestehe. Nach § 36 Abs. 2 Satz 1 BauGB dürfe es nur aus den sich aus den §§ 31, 33, 34 und 35 BauGB ergebenden Gründen versagt werden. Nach Auffassung des Landratsamtes füge sich insbesondere auch das nördliche Wohngebäude (Haus A) mit seiner starken Fassadengliederung im Sinne des § 34 BauGB ein. Es handele sich vorliegend um zwei Wohngebäude, weshalb die Art der baulichen Nutzung offensichtlich eingehalten sei. Hinsichtlich des Maßes der baulichen Nutzung sei anzuführen, dass auch die Anzahl der Wohneinheiten nicht zu beanstanden sei. Hinsichtlich der überbauten Grundstücksfläche seien in der näheren Umgebung bereits auf den Grundstücken Fl.Nrn. …9 und …1 vergleichbare Baukörper vorhanden und genehmigt. Insbesondere das erst kürzlich genehmigte Wohngebäude auf Grundstück Fl.Nr. …9, welches seitens der Gemeinde auch befürwortet worden sei, könne hier als Vergleichsfall herangezogen werden.
4.
9
Gegen den Bescheid vom 13. Januar 2022, ihm zugestellt gegen Postzustellungsurkunde am 21. Januar 2022, ließ der Kläger durch seine Bevollmächtigten am 18. Februar 2022 bei Gericht Klage erheben mit dem
A n t r a g,
den Bescheid des Landratsamts W. vom 13. Januar 2022 zur Baumaßnahme „Neubau eines 5-Familienwohnhauses und eines 3-Familienwohnhauses mit Carport auf dem Baugrundstück R. … … in … H. … (Grundstück Flur-Nr. …6“ aufzuheben.
10
Zur Begründung ließ der Kläger im Wesentlichen Folgendes vortragen: Aus Sicht des Klägers füge sich das streitgegenständliche Bauvorhaben nicht nach § 34 Abs. 1 S. 1 BauGB in die Umgebung ein, weil es nach dem Maß der baulichen Nutzung und der überbauten Grundstücksfläche über den Rahmen bzw. die Eigenart der tatsächlich vorhandenen näheren Umgebungsbebauung hinausgehe. Aus der Begründung zur Einvernehmensersetzung werde ersichtlich, dass der Beklagte die für die Prüfung des Merkmals des sog. „Einfügens“ maßgebliche Umgebung(sbebauung) nach § 34 Abs. 1 BauGB gar nicht ermittelt habe. Stattdessen stelle der Beklagte bei seiner Begründung nur auf zwei Baukörper ab. Wenn auf den Baukörper auf dem Grundstück Fl.Nr. …1 verwiesen werde, halte der Kläger diesen Baukörper für einen „Fremdkörper“ in dem sonst locker bebauten Bereich des R. … Der genehmigte Baukörper auf dem Grundstück Fl.Nr. …9 könne zur Bestimmung der Eigenart der Umgebung/Umgebungsbebauung schon deshalb nicht herangezogen werden, weil dieser Baukörper zum Zeitpunkt der Einvernehmensersetzung noch gar nicht vorhanden gewesen sei, noch nicht einmal mit dem Bau begonnen worden sei. Nach der Rechtsprechung dürfe nur auf tatsächlich vorhandene Baukörper abgestellt werden. Für die Ermittlung der maßgeblichen Umgebung(sbebauuung) sei zunächst einmal klarzustellen, dass es sich bei dem streitgegenständlichen Vorhaben um zwei Vorhaben handele. Denn es sei auf dem Baugrundstück die Errichtung von zwei separaten Gebäuden geplant. Für jedes der beiden Gebäude sei eine separate Prüfung des Einfügens durchzuführen.
11
Die an das Baugrundstück angrenzenden Grundstücke (R. …,, …, …, …, A. … S. …, …, …, ….) seien nur mit ein- bis zweigeschossigen Ein- und Zwei-Familienhäusern bebaut, die nur 8,4% bis 23% der überbauten Grundstücke einnähmen. Es ergebe sich folgender Rahmen für das Einfügen: Ein- bis Zweifamilienhaus, Grundfläche des Hauses zwischen 85,60 m² und 220,03 m², GRZ von 0,084 bis 0,234, überbaute Grundstücksfläche von 87,13 m² bis 220,03 m² sowie Einhaltung eines Grenzabstandes im Norden von 6,20 m bis 51,00 m, im Osten von 3,00 m bis 24,50 m, im Süden von 3,80 m bis 13,50 m und im Westen von 5,50 m bis 9,50 m. Dieser Rahmen werde durch das Bauvorhaben überschritten: Hier handele es sich um ein Drei-Familien-Wohnhaus und ein Fünf-Familien-Wohnhaus. Die Grundfläche des „Hauses A“ betrage 235,83 m² und des „Hauses B“ 211,43 m², die GRZ II betrage 0,45, die überbaute Grundstücksfläche 669,88 m². Es ergebe sich hinsichtlich des „Hauses A“ ein Grenzabstand im Norden von 1,95 m, im Osten von 1,57 m und im Westen von 3,54 m und hinsichtlich des „Hauses B“ im Süden ein solcher von 15,70 m, im Osten von 7,90 m und im Westen im KG/EG von 0,50 m und im OG von 3,50 m. Hier handele es sich um ein 5-geschossiges Gebäude und ein 2-geschossiges Gebäude, welche höher und größer seien als die Gebäude der Umgebung und in geringerem Abstand zu den Nachbargebäuden stehen sollten als die Gebäude der Umgebungsbebauung. Nach Ermittlung der maßgeblichen Umgebungsbebauung komme man zu dem Ergebnis, dass sich sowohl das „Gebäude B“ als auch das „Gebäude A“ nicht in die Umgebungsbebauung einfüge, weil die Gebäude den Rahmen hinsichtlich des Maßes der baulichen Nutzung als auch der überbaubaren Grundstücksfläche überschreiten würden.
5.
12
Das Landratsamt W. stellte für den Beklagten den
A n t r a g,
die Klage abzuweisen.
13
Zur Begründung wurde vorgetragen: Die Klage sei nicht begründet. Der Kläger werde durch die angefochtene Genehmigung unter Ersetzung seines Einvernehmens nicht in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO) und habe keinen Anspruch auf die von ihm begehrte Aufhebung der der Beigeladenen erteilten Baugenehmigung. Die seitens des Beklagten erteilte Baugenehmigung sei formell und materiell rechtmäßig. Der Beklagte habe den sich aus § 36 Abs. 1 BauGB ergebenden Rechten des Klägers auf Beteiligung am Verfahren vollumfänglich Rechnung getragen. Die Gemeinde dürfe ihr Einvernehmen nach § 36 Abs. 2 Satz 1 BauGB nur aus den sich daraus ergebenden bauplanungsrechtlichen Gründen nach §§ 31, 33, 34 und 35 BauGB verweigern. Solche Gründe, das Einvernehmen zu verweigern, hätten im streitgegenständlichen Fall jedoch nicht vorgelegen. Es sei daher gemäß Art. 67 Abs. 1 Satz 1 BayBO zu ersetzen gewesen, weil dessen Verweigerung rechtswidrig erfolgt sei und ein Rechtsanspruch seitens der Beigeladenen auf Erteilung der Genehmigung bestanden habe. Die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit richte sich vorliegend nach § 34 BauGB, so dass sich die Zulässigkeit des Bauvorhabens danach bemesse, ob es sich nach Art und Maß der baulichen Nutzung, der Bauweise und der Grundstücksfläche, die überbaut werden solle, in die Eigenart der näheren Umgebung einfüge und die Erschließung gesichert sei. Hinsichtlich der Art der Nutzung entspreche das streitgegenständliche Vorhaben als Wohnnutzung der Eigenart der näheren Umgebung, bei der es sich um ein faktisches allgemeines Wohngebiet i.S.v. § 34 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 4 BauNVO handele. Das Bauvorhaben füge sich auch nach Maß der baulichen Nutzung sowie der überbaubaren Grundstückfläche in die Eigenart der näheren Umgebung ein. Hinsichtlich des Maßes der baulichen Nutzung komme es ausschlaggebend auf die von außen wahrnehmbare Erscheinung des Gebäudes im Verhältnis zu seiner Umgebungsbebauung an. Innerhalb des sich aus dieser Umgebung tatsächlich ergebenden und den Rahmen bildenden Maßes der baulichen Nutzung seien Vorhaben grundsätzlich zulässig. Dies sei vorliegend jeweils gegeben: Der klägerischen Behauptung, dass es sich auf der Fl.Nr. …1 um einen „Fremdkörper“ handele, könne nicht gefolgt werden. Mit den Bauvorhaben „Neubau eines Zweifamilienwohnhauses mit einem Kellergeschoss sowie zwei Doppelgaragen“ auf Fl.Nr. …9 solle nach schriftlicher Aussage des Bauherrn vom 27. Februar 2022 aktuell begonnen werden. Insoweit sei nach Lage der Dinge mit einer prägenden Wirkung des Vorhabens alsbald zu rechnen, sodass das Bauvorhaben insoweit mit heranzuziehen sei. Für dieses habe der Kläger sein gemeindliches Einvernehmen im Übrigen erteilt. Auch auf der Fl.Nr. …2 sei mit Bescheid vom 11. Juli 2019 der „Neubau von 2 Mehrfamilienhäusern mit je 6 Wohneinheiten, Tiefgarage und 12 Stellplätzen“ genehmigt worden. Das Vorhaben befinde sich derzeit zwar noch im Bau, der Rohbau sei bereits fertiggestellt. Gleiches gelte für das Wohngebäude auf Fl.Nr. …6. Es liege auch kein Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot vor; eine erdrückende Wirkung des Gebäudes B sei weder von Klägerseite dargetan noch sonst ersichtlich.
6.
14
Die Beigeladene äußerte sich – ohne einen Antrag zu stellen – wie folgt: Die Klage sei unbegründet. Die angefochtene Baugenehmigung sei formell und materiell rechtmäßig ergangen und verletze den Kläger daher auch nicht in eigenen subjektiv-öffentlichen Rechten, § 113 Abs. 1 VwGO. Insbesondere habe der Beklagte das gemeindliche Einvernehmen i.S.d. § 36 Abs. 1, 2 BauGB zu Recht ersetzt. Die Entscheidung des Klägers, das gemeindliche Einvernehmen zu versagen, sei offensichtlich aufgrund politischer Erwägungen getroffen worden. Versagungsgründe i.S.d. § 36 Abs. 2 BauGB lägen jedenfalls nicht vor. Zwischen den Parteien sei unstreitig, dass sich das streitbefangene Bauvorhaben hinsichtlich der Art der Nutzung in das umliegende Baugebiet einfüge. Das streitgegenständliche Bauvorhaben füge sich jedoch auch nach dem Maß der baulichen Nutzung, der Bauweise und der Grundstücksfläche, die überbaut werden solle, in die Eigenart der näheren Umgebung ein. Im Hinblick auf die absolute Größe der Grundfläche, der Geschosszahl, der Wand- und Firsthöhe sowie der wahrnehmbaren Erscheinung des Gebäudes im Verhältnis zu seiner Umgebungsbebauung nehme sich das streitbefangene Bauvorhaben der Beigeladenen im Vergleich zu den beklagtenseits bezeichneten Bauvorhaben sogar noch zurück. Entgegen den klägerischen Ausführungen sei auch nicht verkannt worden, dass es sich bei dem Vorhaben der Beigeladenen um zwei getrennte Wohngebäude handele. Insofern die Klägervertreter grob überschlägig Grundflächenzahlen aus der Nachbarschaft ermittelt hätten und sodann meinten, dass das Bauvorhaben der Beigeladenen diese Grundflächen überschreite, würden die Klägervertreter Äpfel mit Birnen vergleichen. Ohnehin seien diese Rechenbeispiele unbehelflich, denn es komme im Rahmen des Einfügens i.S.v. § 34 Abs. 1 BauGB lediglich auf die von außen wahrnehmbare Erscheinung des Gebäudes im Verhältnis zu seiner Umgebungsbebauung an. Der Ansatz der Klägervertreter ignoriere, dass es für die Zulässigkeit von Bauvorhaben im nicht überplanten Innenbereich auf die – nicht sichtbaren und daher nicht zur maßstabsbildendenden Umgebung gehörenden – Grundstücksgrenzen nicht ankomme. Wenn man daher – zutreffend – lediglich vom äußeren Erscheinungsbild des streitgegenständlichen Bauvorhabens ausgehe, so füge sich dieses hier nahtlos in die Umgebungsbebauung ein.
7.
15
Aufgrund Beschlusses vom 14. Dezember 2022 hat die Kammer Beweis erhoben durch die Einnahme eines Augenscheins über die örtlichen und baulichen Verhältnisse im Bereich des Baugrundstücks am 16. März 2023. Insoweit wird auf das Protokoll über den Augenscheintermin verwiesen. Anlässlich dieses Termins erklärten sich alle Beteiligten mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.
16
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichts- und Behördenakten (nicht nur des Baugrundstücks, sondern auch weiterer Grundstücke in der Umgebung) Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

17
Die Klage, über die mit Einverständnis der Beteiligten ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung entschieden werden konnte (vgl. § 101 Abs. 2 VwGO), ist zulässig, aber nicht begründet.
18
Der streitgegenständliche Bescheid vom 13. Januar 2022, mit dem sowohl die Baugenehmigung für den Neubau eines 5-Familienwohnhauses und eines 3-Familienwohnhauses mit Carport erteilt (Ziff. 1) als auch das gemeindliche Einvernehmen ersetzt wurde (Ziff. 3), ist rechtmäßig. Der Kläger wird hierdurch nicht in seiner durch Art. 28 Abs. 2 GG und Art. 11 Abs. 2 BV geschützten und einfachgesetzlich durch § 36 Abs. 1 Satz 1 BauGB gewährleisteten kommunalen Planungshoheit verletzt (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Die verfahrensrechtlichen Vorgaben des Art. 67 Abs. 3 Satz 1 und Abs. 4 BayBO wurden gewahrt. In materiell-rechtlicher Hinsicht hält die angefochtene Baugenehmigung die im vereinfachten Baugenehmigungsverfahren nach Art. 59 Satz 1 Nr. 1 a BayBO zu prüfenden bauplanungsrechtlichen Zulässigkeitsvorschriften – auf deren Verletzung sich der Kläger allein berufen kann – in vollem Umfang ein.
1.
19
Die formellen Voraussetzungen für die Ersetzung des Einvernehmens des Klägers hat das Landratsamt W. eingehalten.
20
Der Kläger wurde durch Schreiben des Landratsamts W. vom 4. November 2022 zur geplanten Ersetzung des Einvernehmens angehört und es wurde ihm Gelegenheit gegeben, sich hierzu zu äußern. Der Kläger hat daraufhin in der Sitzung des Bau- und Umweltausschusses am 16. November 2022 erneut sein gemeindliches Einvernehmen versagt. Der Kläger ist damit entsprechend Art. 67 Abs. 4 Satz 1 und 2 BayBO angehört und ihm ist Gelegenheit gegeben worden, binnen angemessener Frist erneut über das gemeindliche Einvernehmen zu entscheiden.
21
Eine Begründung gemäß Art. 67 Abs. 3 Satz 1 Hs. 2 BayBO zur Ersetzung des Einvernehmens erfolgte im streitgegenständlichen Bescheid. Das Landratsamt hat insoweit in der Begründung ausgeführt, dass der Kläger sein Einvernehmen rechtswidrig versagt habe und der Beigeladenen ein Rechtsanspruch auf Erteilung der Baugenehmigung zustehe, da das Bauvorhaben den zu prüfenden öffentlich-rechtlichen Vorschriften nicht entgegenstehe. Die gegebene Begründung entspricht den formell-rechtlichen Anforderungen des Art. 67 Abs. 3 Satz 1 Hs. 2 BayBO i.V.m. Art. 39 BayVwVfG, da sie die wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Gründe enthält, die die Behörde zu ihrer Entscheidung bewogen haben. Im Übrigen spricht einiges dafür, dass in Fällen, in denen es sich – wie vorliegend – um eine gebundene Entscheidung der Genehmigungsbehörde handelt (s. hierzu unter 2.2.), eine etwa fehlende oder fehlerhafte Begründung unbeachtlich wäre (vgl. dazu Dirnberger in Busse/Kraus, BayBO, Stand 149. Erg. Lief. Jan. 2023, Art. 67 Rn. 126).
2.
22
Die Ersetzung des Einvernehmens ist auch in materiell-rechtlicher Hinsicht nicht zu beanstanden, da das Bauvorhaben der Beigeladenen im hier vorliegenden unbeplanten Innenbereich bauplanungsrechtlich zulässig ist (§ 34 Abs. 1 und 2 BauGB).
23
Über die Zulässigkeit von Bauvorhaben nach den §§ 31, 33 bis 35 BauGB wird im bauaufsichtlichen Verfahren von der Baugenehmigungsbehörde im Einvernehmen mit der Gemeinde entschieden (§ 36 Abs. 1 Satz 1 BauGB). Das Erfordernis des gemeindlichen Einvernehmens dient dabei der Sicherung der in Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG und in Art. 11 Abs. 2 Satz 2 BV verankerten gemeindlichen Planungshoheit. Das gemeindliche Einvernehmen ist ein als Mitentscheidungsrecht ausgestattetes Sicherungsinstrument des Baugesetzbuchs, mit dem die Gemeinde als sachnahe und fachkundige Behörde und als Trägerin der Planungshoheit in Genehmigungsverfahren mitentscheidend an der Beurteilung der bauplanungsrechtlichen Zulässigkeit des Vorhabens beteiligt wird (BVerwG, U.v. 14.4.2000 – 4 C 5/99 – juris). Entspricht ein zulässiges Vorhaben nicht den planerischen Vorstellungen der Gemeinde, kann diese den Maßstab für die Zulässigkeitsprüfung durch Aufstellung oder Änderung eines Bebauungsplans ändern und planungssichernde Maßnahmen ergreifen. Ein fehlendes Einvernehmen darf die Baugenehmigungsbehörde nach § 36 Abs. 2 Satz 3 BauGB i.V.m. Art. 67 Abs. 1 Satz 1 BayBO nur ersetzen, wenn es zu Unrecht verweigert worden ist, weil das Vorhaben nach den §§ 31 und 33 bis 35 BauGB zulässig ist. Der materielle Prüfungsrahmen ist entsprechend auf das Bauplanungsrecht reduziert, unterliegt jedoch mit Blick auf die aus der Selbstverwaltungsgarantie (Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG, Art. 11 Abs. 2 Satz 2 BV) abzuleitende gemeindliche Planungshoheit – anders als bei privaten Dritten – keiner weiteren Einschränkung (OVG des Saarlandes, B.v. 2.8.2018 – 2 B 170/18 – juris Rn. 17).
24
Da die Gemeinde ihr Einvernehmen nur aus den in § 36 Abs. 2 Satz 1 BauGB genannten Gründen versagen darf, sind die Voraussetzungen der §§ 31, 33 bis 35 BauGB auf das Rechtsmittel der Gemeinde hin in vollem Umfang nachzuprüfen (BVerwG, U.v. 1.7.2010 – 4 C 4.08 – BVerwGE 137, 247 Rn. 32). Für diese Prüfung ist maßgeblich auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt des Erlasses des mit der Ersetzung des gemeindlichen Einvernehmens verbundenen Bescheids abzustellen (BVerwG, U.v. 1.7.2010 – 4 C 4.08 – BVerwGE 137, 247 Rn. 17, 24; U.v. 9.8.2016 – 4 C 5.15 – NVwZ-RR 2017, 717 Rn. 12; Jeromin in Kröninger/Aschke/Jeromin, Baugesetzbuch 4. Aufl. 2018, § 36 Rn. 17; Rieger in Schrödter, Baugesetzbuch, 9. Aufl. 2019, § 36 Rn. 40). Erweist sich danach die Ersetzung als rechtswidrig, hat die Anfechtungsklage der Gemeinde Erfolg. Ob der Bauherr im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung einen Anspruch auf die Baugenehmigung hat, ist dagegen irrelevant. Denn der Gesetzgeber hat in dem Konflikt zwischen Planungshoheit und Baufreiheit eine eindeutige Regelung getroffen, der zufolge gegen den Willen der Gemeinde in den Fällen des § 36 Abs. 1 Satz 1 BauGB bis zu einer gerichtlichen Klärung der Genehmigungsfähigkeit eines Vorhabens auf die Verpflichtungsklage des Bauherrn hin keine Baugenehmigung erteilt werden darf (BVerwG, U.v. 26.3.2015 – 4 C 1.14 – juris Rn. 17 m.w.N.). Der Bundesgesetzgeber wollte mit der Einvernehmensregelung erreichen, dass die Gemeinde sich mit ihren Vorstellungen auch gegenüber einem etwaigen Rechtsanspruch des Bauherrn durchsetzt (BVerwG, B.v. 5.3.1999 – 4 B 62.98 – juris Rn. 13).
25
Vorliegend hält die angefochtene Baugenehmigung, die zugleich als Ersatzvornahme i.S.v. Art. 113 GO bezüglich der Ersetzung des gemeindlichen Einvernehmens gilt (Art. 67 Abs. 3 Satz 1 BayBO), (schon zum maßgeblichen Zeitpunkt der Bescheidserteilung) die bauplanungsrechtlichen Zulässigkeitsvorschriften in vollem Umfang ein.
26
Die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit des Vorhabens ist nach § 34 BauGB zu beurteilen, da für das Baugrundstück (und die Umgebungsbebauung) kein Bebauungsplan existiert und es auch nicht dem Außenbereich i.S.v. § 35 BauGB zuzuweisen ist.
27
Nach § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB muss sich das Vorhaben nach Art und Maß der baulichen Nutzung, der Bauweise und der Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, in die Eigenart der näheren Umgebung einfügen. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts gehört die Beachtung des nachbarschützenden Gebots der Rücksichtnahme zum Bestandteil des Einfügens i.S.v. § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB. Wenn die Eigenart der näheren Umgebung einem der Baugebiete, die in der Baunutzungsverordnung bezeichnet sind, entspricht, beurteilt sich nach § 34 Abs. 2 BauGB die Zulässigkeit des Vorhabens nach seiner Art allein danach, ob es nach der Baunutzungsverordnung in dem Baugebiet allgemein zulässig wäre. § 34 Abs. 2 BauGB kommt über die Gleichsetzung faktischer Baugebiete mit den festgesetzten Baugebieten nachbarschützende Wirkung zu (BVerwG, U.v. 16.9.1993 – 4 C 28/91 – BVerwGE 94, 151; Dirnberger in Busse/Kraus, BayBO, Stand 149. Erg. Lief. Jan. 2023, Art. 66 Rn. 346 und 395; Söfker in Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, Baugesetzbuch, 148. Erg. Lief. Okt. 2022, § 34 BauGB Rn. 50a). Nach diesen Kriterien ist das Bauvorhaben der Beigeladenen bauplanungsrechtlich zulässig i.S.v. § 34 BauGB. Im Einzelnen:
2.1.
28
Das Bauvorhaben ist – entgegen der Meinung der Klägerseite, wie sie in dem Beschluss des Bau- und Umweltausschusses zum Tragen kommt („Bauantrag wird nicht zugestimmt, da er sich nach Art … der baulichen Nutzung … nicht in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt“) – seiner Art nach zulässig.
29
Im vorliegenden Fall gehen das Landratsamt W. wie auch die Beigeladene von einem faktischen allgemeinen Wohngebiet aus, während der Kläger (wohl) hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung das Einfügungsgebot des § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB zur Anwendung bringen möchte (s.o.). Unter Zugrundelegung der Erkenntnisse der am 16. März 2023 durch die berufsmäßigen Kammermitglieder durchgeführten Inaugenscheinnahme des Baugrundstücks und seiner näheren Umgebung und der Weitergabe dieser Erkenntnisse auch mittels der damals gefertigten Lichtbilder an die ehrenamtlichen Richter sowie unter Heranziehung der in der Gerichts- und in den Behördenakten vorhandenen Lagepläne, Lichtbilder und Luftbilder ist das Gericht zu der Überzeugung gelangt, dass es sich bei dem Umgriff des Baugrundstücks um ein faktisches allgemeines Wohngebiet im Sinne von § 4 BauNVO handelt.
30
Vorliegend befinden sich sowohl innerhalb des Straßengevierts um das Baugrundstück, das im Norden bis zur Straße A. … S. …, im Süden bis zum R. …, im Westen bis zur Einmündung des R. … in die Straße A. … S. … und im Osten bis zum Verbindungsweg (Fl.Nr. …1) zwischen der Straße A. … S. … und dem R. … reicht, als auch – darüber hinaus – nämlich auf der Nordseite der Straße A. … S. … wie auch auf der Südseite der Straße R. … (nahezu) ausschließlich Wohnhäuser als Ein-, Zwei- oder Mehrfamilienwohnhäuser. In dem so beschriebenen Umgriff beurteilt sich die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit des streitgegenständlichen Vorhabens – entgegen der Ansicht der Klägerseite – nach § 34 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 4 BauNVO als allgemeines Wohngebiet (wenn nicht gar als reines Wohngebiet). Das auf Errichtung von zwei Mehrfamilienhäusern gerichtete Wohnbauvorhaben der Beigeladenen ist nach § 34 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 4 Abs. 2 Nr. 1 BauNVO hinsichtlich seiner Art zulässig.
31
Es würde sich aber auch unter Zugrundelegung des von der Klägerseite in Ansatz gebrachten § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB seiner Art nach in die Eigenart der näheren Umgebung einfügen.
2.2.
32
Die beiden streitgegenständlichen Mehrfamilienwohnhäuser der Beigeladenen fügen sich aber auch nach dem Maß der baulichen Nutzung in die Eigenart der näheren Umgebung ein, § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB. Im Einzelnen:
2.2.1.
33
Vorab bleibt festzuhalten, dass soweit von Klägerseite die Überschreitung der Geschossflächenzahl und der Grundflächenzahl gerügt wird, die Obergrenzen des § 17 BauNVO im Rahmen des § 34 BauGB nicht maßgeblich sind, da es allein auf die tatsächlichen Verhältnisse ankommt (vgl. BayVGH, B.v. 19.3.2015 – 9 CS 14.2441; U.v. 7.1.1992 – 2 B 90.1394; beide juris; Söfker in Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, Baugesetzbuch, 148. Erg. Lief. Okt. 2022, § 34 BauGB Rn. 45 und § 17 BauNVO Rn. 3, 15). Bei der Bestimmung des Maßes der baulichen Nutzung ist nämlich weniger auf die sog. Verhältniszahlen als auf die Kriterien für die absolute Größe abzustellen (vgl. BayVGH, B.v. 27.11.2002 – 1 CS 02.2424 – juris).
2.2.2.
34
Maßgeblicher Beurteilungsrahmen für das Vorhaben ist die nähere Umgebung. Berücksichtigt werden muss hier die Umgebung einmal insoweit, als sich die Ausführung des Vorhabens auf sie auswirken kann, und zum anderen insoweit, als die Umgebung ihrerseits den bodenrechtlichen Charakter des Baugrundstücks prägt oder doch beeinflusst. Welcher Bereich als „nähere Umgebung“ anzusehen ist, hängt davon ab, inwieweit sich einerseits das geplante Vorhaben auf die benachbarte Bebauung und andererseits sich diese Bebauung auf das Baugrundstück prägend auswirken kann (vgl. BayVGH, U.v. 18.7.2013 – 14 B 11.1238 – juris Rn. 19 m.w.N.). Wie weit diese wechselseitige Prägung reicht, ist eine Frage des Einzelfalls. Die Grenzen der näheren Umgebung lassen sich nicht schematisch festlegen, sondern sind nach der städtebaulichen Situation zu bestimmen, in die das für die Bebauung vorgesehene Grundstück eingebettet ist. Prägend für das Baugrundstück kann nicht nur die Bebauung wirken, die gerade in dessen unmittelbarer Nachbarschaft überwiegt, sondern auch die der weiteren Umgebung. Zur maßgeblichen Umgebung gehört dabei allein, was an Bebauung tatsächlich bereits vorhanden ist (BVerwG, U.v. 26.5.1978 – 4 C 9/77 – BVerwGE 55, 369 – BeckRS 1978, 109137). Dabei ist der Umkreis der zu beachtenden vorhandenen Bebauung bei der Bestimmung des Maßes der baulichen Nutzung eines Grundstücks in aller Regel enger zu begrenzen als etwa bei der Ermittlung des Gebietscharakters (vgl. BVerwG, U.v. 8.12.2016 – 4 C 7.15 – juris Rn. 9; B.v. 13.5.2014 – 4 B 38.13 – juris Rn. 7). Bei einem inmitten eines Wohngebiets gelegenen Vorhaben – wie hier – kann als Bereich gegenseitiger Beeinflussung und Prägung grundsätzlich das Straßengeviert und die dem Baugrundstück gegenüberliegende Straßenseite angenommen werden (vgl. BayVGH, B.v. 27.9.2010 – 2 ZB 08.2775 – juris Rn. 4; OVG Koblenz, U.v. 8.3.2017 – 8 A 10695/16.OVG – BeckRS 2017, 104256 Rn. 30).
35
Der rahmenbildende Einzugsbereich der näheren Umgebung bestimmt sich hinsichtlich des Maßes der baulichen Nutzung hier durch das Straßengeviert, in dem das Baugrundstück gelegen ist. Dieser reicht vorliegend im Norden bis zur Straße A. … S. …, im Süden bis zum R. …, im Westen bis zur Einmündung des R. … in die Straße A. … S. … und im Osten bis zum Verbindungsweg (Fl.Nr. …1) zwischen der Straße A. … S. … und dem R. … Zu dieser Wertung ist die Kammer aufgrund der zu den Akten genommenen Lagepläne, Lichtbilder und Luftbilder und des durchgeführten Augenscheintermins und der Weitergabe dieser Erkenntnisse auch mittels der anlässlich dieses Termins gefertigten Lichtbilder an die ehrenamtlichen Richter gelangt. Der Auffassung der Klägerseite, dass der maßgebliche Umgriff in östlicher Richtung nur auf die nächsten vier Grundstücke und in westlicher Richtung auf fünf weitere Grundstücke zu beschränken sei, ist nicht zu folgen. Der insoweit als maßgeblich erachtete Umgebungsbereich weist gegenüber dem übrigen Geviert keine planungsrechtlich relevanten Besonderheiten auf, die es rechtfertigen würden, dieses Areal als Gebiet mit eigenständiger Prägung aus der gesamten Umgebungsbebauung herauszunehmen und dem Vorhaben der Beigeladenen als ausschließlich prägende Umgebung zuzuordnen. So hat sich zwar insbesondere beim Augenscheintermin gezeigt, dass die an das Baugrundstück sich in westlicher aber auch in östlicher Richtung anschließenden Grundstücke als ältere Ein- oder Zweifamilienwohnhäuser sowohl nach ihrer Grundfläche als auch nach Höhe und Geschossigkeit deutlich hinter der neueren Bebauung zurückbleiben, die sich in dem oben skizzierten Geviert im hangabwärts gelegenen Bereich an der Straße A. … S. …, aber auch im hangaufwärts gelegenen Bereich weiter östlich des Baugrundstücks an der Straße R. … (auf dem Grundstück Fl.Nr. …2) befindet. Allerdings kann aus der Abfolge zwischen älteren kleinteiligen und neueren größeren Baukörpern kein Kriterium abgeleitet werden, das eine gesonderte Betrachtung der unterschiedlichen Bereiche rechtfertigen würde. Denn diese Abfolge ist nicht Ausdruck städtebaulich nachvollziehbarer Überlegungen oder Entwicklungen, die ihren Niederschlag in der vorhandenen Bebauung gefunden hätten, sondern wird von dem mehr oder minder zufälligen Umstand bestimmt, auf welchen Grundstücken die alte, kleinere Bebauung durch eine neue, den jetzigen Notwendigkeiten entsprechende größere Bebauung ersetzt wurde. Demgemäß befinden sich in dem hier maßgeblichen Straßengeviert (wie in auch in anderen faktischen Wohngebieten) neben kleinteiligen älteren Wohnhäusern an vielen Stellen Baukörper, die nach Grundfläche und Zahl der Geschosse deutlich darüber hinausgehen.
2.2.3.
36
Für das Einfügen in die Eigenart der – so bestimmten – näheren Umgebung nach dem Maß der baulichen Nutzung sind die vorhandenen Gebäude in der näheren Umgebung zueinander in Beziehung zu setzen. Gebäude prägen ihre Umgebung nicht durch einzelne Maßbestimmungsfaktoren i.S.d. § 16 Abs. 2 BauNVO, sondern erzielen ihre optische maßstabsbildende Wirkung durch ihr gesamtes Erscheinungsbild. Maßgeblich ist insofern für das Einfügen primär die äußere Kubatur des Vorhabens, gemessen an der von außen erkennbaren Gebäudegeometrie, die durch die Gebäudehöhe (First und Traufe) bestimmt wird; hierbei ist kumulierend auf die absolute Größe der Gebäude nach Grundfläche, Geschosszahl und Höhe abzustellen (BVerwG, U.v. 8.12.2016 – 4 C 7/15 – juris Rn. 20; Jeromin in Kröninger/Jaschke/Jeromin, Baugesetzbuch, 4. Aufl. 2018, § 34 Rn. 28; s.a. Söfker in Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, Baugesetzbuch, 148. Erg. Lief. Okt. 2022, § 34 BauGB Rn. 40). Die Übereinstimmung von Vorhaben und Referenzobjekten nur in einem Maßfaktor genügt nicht, weil sie dazu führen könnte, dass durch eine Kombination von Bestimmungsgrößen, die einzelnen Gebäuden in der näheren Umgebung jeweils separat entnommen werden, Baulichkeiten entstehen, die in ihrer Dimension kein Vorbild in der näheren Umgebung haben. Da das Erfordernis des Einfügens nicht zur Uniformität zwingt, ist es nicht notwendig, dass ein streitiges Vorhaben den aus der Umgebung abzuleitenden Rahmen exakt einhält. Es können sich deshalb auch solche Vorhaben hinsichtlich in Rede stehender Beurteilungsmaßstäbe einfügen, die über den vorhandenen Rahmen unwesentlich hinausgehen. Erst bei einer wesentlichen Überschreitung des Rahmens schließt sich die Frage an, ob sich ein Vorhaben dennoch einfügt, weil es nicht geeignet ist, bodenrechtlich beachtliche Spannungen zu begründen oder vorhandene Spannungen zu erhöhen (BVerwG, U.v. 8.12.2016 – 4 C 7/15 – juris Rn. 20 f.). Dabei ist die von außen wahrnehmbare Erscheinung des Gebäudes im Verhältnis zur Umgebungsbebauung nicht auf den Blick von der Erschließungsstraße aus zu reduzieren (OVG Lüneburg, B.v. 12.2.2019 – 1 ME 151.18 – BeckRS 2019, 3087 Rn. 10; Söfker in Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, Baugesetzbuch, 148. Erg. Lief. Okt. 2022, § 34 BauGB Rn. 40). Hierbei ist auf die Maße abzustellen, die einerseits bei dem hinzutretenden Bauvorhaben und andererseits bei der maßgeblichen Umgebungsbebauung nach außen wahrnehmbar in Erscheinung treten. Dabei kommt es vornehmlich auf die in § 16 Abs. 2 BauNVO genannten absoluten Größenmaße des Baukörpers an; dazu zählen die Länge und Breite der Grundfläche, die Geschosszahl und die Höhe der Gebäude.
37
Zum Einfügen eines Vorhabens nach dem Maß der baulichen Nutzung mit kumulierender Berücksichtigung von Grundfläche und Höhe ist wegen der Höhenmaße auf die Verhältnisse auf den jeweiligen Baugrundstücken abzustellen, wobei bei Hangbebauung die mittlere Wandhöhe maßgebend ist (Jeromin in Kröninger/Aschke/Jeromin, Baugesetzbuch, 4. Aufl. 2018, § 34 Rn. 28; Söfker in Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, Baugesetzbuch, 148. Erg. Lief. Okt. 2022, § 34 BauGB Rn. 40). Was die Gebäudehöhe betrifft, kann sowohl die Trauf- als auch die Firsthöhe entscheidend sein. Maßgebend dafür sind die jeweiligen örtlichen Gegebenheiten (vgl. BVerwG, B.v. 26.7.2006 – 4 B 55.06 – BeckRS 2006, 25026 Rn. 6; Rieger in Schrödter, Baugesetzbuch, 9. Aufl. 2019, § 34 Rn. 57; Spannowsky in BeckOK BauGB Spannowsky/Uechtritz, 58. Edit. 1.5.2022, § 34 Rn. 39.1). Liegt die zur Bebauung anstehende Grundstücksfläche tiefer als die Flächen der bebauten Grundstücke in der näheren Umgebung, wäre es verfehlt, für das zulässige Höhenmaß auf die Höhe der Nachbarbebauung bezogen auf das – tiefer liegende – Niveau des Baugrundstücks abzustellen. Hinsichtlich der Firsthöhe bemisst sich daher das in der Umgebungsbebauung vorhandene Maß nach dem Abstand des Firstes zu der im Lot darunter befindlichen Geländeoberfläche. Will man darüber hinaus auf die Traufseite abstellen, würde das Maß des Hinausragens der Bestandsbebauung über die natürliche Geländeoberfläche bei einer Hangbebauung nicht korrekt erfasst, wenn man lediglich auf die Höhe der talseitig in Erscheinung tretenden Gebäudeteile abstellte. Um das Höhenmaß einer Hangbebauung zutreffend zu erfassen, ist es vielmehr sachgerecht, eine Mittelung der unterschiedlich hohen Traufseiten vorzunehmen – „mittlere Wandhöhe“ (vgl. OVG Koblenz, U.v. 8.3.2017 – 8 A 10695/16.OVG – BeckRS 2017, 104256 Rn. 37).
38
In der oben abgegrenzten näheren Umgebung des Baugrundstücks finden sich mindestens zwei Referenzobjekte, die bei einer wertenden Betrachtung von Grundfläche, Höhe und Geschosszahl und – sowie bei der hier gegebenen offenen Bebauung – auch nach dem Verhältnis zur Freifläche vergleichbar sind. Dies gilt jedenfalls für die beiden Mehrfamilienwohnhäuser (mit je sechs Wohneinheiten) auf dem Grundstück Fl.Nr. …2 der Gemarkung H. …, A. … S. … … und R. … … Im Einzelnen:
39
Ausweislich der genehmigten Planunterlagen soll das Haus A der Beigeladenen ein Grundmaß von ca. 15 m auf ca. 15 m und eine Grundfläche von 236 m², das Haus B ein Grundmaß von ca. 11 m auf ca. 19 m und eine Grundfläche von 211 m² aufweisen. Die beiden Referenzobjekte auf dem Grundstück Fl.Nr. …2 weisen bei einem Grundmaß von ca. 14 m auf ca. 16 m jeweils eine Grundfläche von 231 m² und damit eine geringfügig (5 m²) kleinere bzw. etwas (20 m²) größere Grundfläche auf. Damit befinden sich auf dem Referenzgrundstück zwei Wohngebäude, die hinsichtlich der überbauten Grundfläche das von der Beigeladenen geplante Maß überschreiten bzw. unwesentlich unterschreiten.
40
Legt man die vg. rechtlichen Maßstäbe zugrunde, kommt es für die Ermittlung des in der Umgebungsbebauung vorhandenen Höhenmaßes der Bebauung auf die Höhe der Gebäude bezogen auf die Geländehöhe der jeweiligen Grundstücke an. Dies ist insb. von Bedeutung, wenn das Grundstück – wie hier – (stark) hängig ist. Hinsichtlich der Firsthöhe bemisst sich das Maß nach dem Abstand des Firstes zu der im Lot darunter befindlichen Geländeoberfläche. Stellt man darüber hinaus auf die Traufseite ab, ist es sachgerecht, eine Mittelung der unterschiedlich hohen Traufseiten vorzunehmen. Danach ergibt sich für das Haus A auf dem Baugrundstück eine (gemittelte) Firsthöhe, bezogen auf das im Lot darunter befindliche Gelände von 7,90 m (im Westen 7,00 m, im Osten 8,80 m) und das Haus B eine Firsthöhe von 10,50 m. Das Haus am R. … auf dem Grundstück Fl.Nr. …2 weist eine (gemittelte) Firsthöhe von 11,90 m (im Osten 11,80 m, im Westen 12,00 m) und das Mehrfamilienhaus an der A. … S. … eine (gemittelte) Firsthöhe von 11,60 m (im Osten 11,70 m, im Westen 11,50 m) auf. Damit ergeben sich insoweit hinsichtlich der beiden Bezugsobjekte Werte, die deutlich über den von den beiden Bauvorhaben beabsichtigten mittleren Firsthöhen liegen. Legt man noch die Traufseiten zugrunde, so zeigt sich beim Haus A eine gemittelte Firsthöhe von 9,35 m (im Norden 13,20 m und im Süden 5,50 m) sowie eine gemittelte Traufhöhe von 5,75 m (im Norden 9,50 m und im Süden 1,70 m). Das Haus B zeigt sich in den genehmigten Plänen auf den Traufseiten mit einer gemittelten Firsthöhe von 10,05 m (im Westen 8,60 m, im Osten 11,50 m) sowie einer gemittelten Traufhöhe von 4,90 m (im Westen 3,50 m, im Osten 6,30 m). Die beiden Mehrfamilienhäuser auf dem Referenzgrundstück weisen jeweils auf den Traufseiten eine gemittelte Firsthöhe von 10,75 m (im Norden jeweils 12,50 m, im Süden jeweils 9,00 m) auf und liegen damit über dem jeweiligen Wert der beiden streitgegenständlichen Bauvorhaben. Betrachtet man insoweit die Traufhöhen, zeigt sich bei dem Haus am R. … eine (gemittelte) Traufhöhe von 4,30 m und beim Haus an der A. … S. … eine solche von 4,70 m (im Norden 6,30 m, im Süden 3,10 m). Letzteres liegt damit nur um 20 cm bzw. um 1,05 m unterhalb der Traufhöhe der beiden streitgegenständlichen Bauvorhaben.
41
Wenn man noch – nachrangig – auf die Geschossigkeit sowie die äußere Kubatur abstellen möchte, zeigt sich kein anderes Bild: Die Geschosszahl richtet sich ebenfalls nach der in der Umgebung vorhandenen Geschosszahl. Allerdings sind die Bindungen hier differenziert zu beurteilen. Zum einen kommt es nicht auf die Feinheiten des landesrechtlichen Vollgeschossbegriffs (vgl. § 20 Abs. 1 BauNVO) an (BVerwG, U.v. 23.3.1994 – 4 C 18.92 – BeckRS 1994, 21292; Söfker in Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, Baugesetzbuch, 148. Erg. Lief. Okt. 2022, § 34 BauGB Rn. 44). Zum anderen bedeutet der Vorrang des nach außen wahrnehmbar in Erscheinung tretenden Baukörpers, dass die Zahl der Vollgeschosse als Zulassungsmerkmal hinter dem der Höhe baulicher Anlagen zurücktreten muss (Söfker in Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, Baugesetzbuch, 148. Erg. Lief. Okt. 2022, § 34 BauGB Rn. 44).
42
Vorliegend zeigen sich die beiden Referenzobjekte von drei Seiten (Norden, Osten und Westen) mit vier Geschossen und in der Südansicht mit zwei Geschossen. Das Haus A auf dem Baugrundstück erscheint von drei Seiten (Norden, Osten und Westen) ebenfalls mit vier Geschossen und in der Südansicht mit maximal zwei Geschossen, das Haus B von drei Seiten (Norden, Osten und Süden) mit drei Geschossen und aus Westen mit zwei Geschossen. Hinsichtlich des Hauses A ist insoweit auch noch zu berücksichtigen, – worauf schon das Landratsamt W. im Rahmen der Bescheidserteilung abgestellt hat – dass durch die starke Fassadengliederung der Baukörper deutlich weniger wuchtig wirkt (als die beiden Baukörper auf dem Referenzgrundstück, die keinerlei Fassadengliederung aufweisen). Wird noch die Baumasse als grober Anhaltspunkt für die (äußere) Kubatur herangezogen, zeigt sich das Haus A mit einem Bruttorauminhalt von 2.107 m³ und das Haus B mit 2.111 m³ deutlich kleiner als die beiden Referenzobjekte mit 3.042 m³ (Haus an der A. … S. ….) und 2.670 m³ (Haus am R. ….).
43
Was schließlich die Freiflächen anbelangt, zeigt sich das Bild, dass Baugrundstück und Referenzgrundstück eine ähnliche Struktur aufweisen: Das Baugrundstück hat eine Grundstücksfläche von 1.485 m², das Grundstück Fl.Nr. …2 eine solche von 1.783 m² bei einer Grundfläche i.S.v. § 19 Abs. 2 BauNVO von 485 m² für das Baugrundstück und 508 m² für das Referenzgrundstück (GRZ II: 670 m² für Baugrundstück und 911 m² für Referenzgrundstück).
44
Nach allem zeigt sich bei der gebotenen kumulierenden Betrachtungsweise, dass die beiden Referenzobjekte auf dem Grundstück Fl.Nr. …2 hinsichtlich des Maßes der baulichen Nutzung die beiden streitgegenständlichen Bauvorhaben teilweise überschreiten, jedoch zumindest erreichen und sich das Haus A und das Haus B mithin insoweit in die Eigenart der näheren Umgebung einfügen.
2.2.4.
45
Wie bereits oben ausgeführt (unter 2.2.2.), kann prägend für das Baugrundstück nur sein, was in der näheren Umgebung tatsächlich vorhanden ist (vgl. BVerwG, U.v. 26.5.1987 – 4 C 9.77 – BVerwG 55.369 – BeckRS 1978, 109137). Die Kammer hat keine rechtlichen Bedenken, die beiden Mehrfamilienhäuser auf dem Grundstück Fl.Nr. …2, mit deren Bau ausweislich der Baubeginnsanzeige am 8. Juni 2020 begonnen wurde, als Referenzobjekte heranzuziehen.
46
Dadurch, dass der Begriff der „Eigenart“ der näheren Umgebung auf das vorgefundene, städtebaulich Prägende abstellt, kommt es bei der Beurteilung der Eigenart auf das Vorhandene an (Söfker in Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, Baugesetzbuch, 148. Erg. Lief. Okt. 2022, § 34 BauGB Rn. 35, unter Verweis auf die st. Rspr. des Bundesverwaltungsgerichts, so bspw. U.v. 27.8.1998 – 4 C 5.98 – juris). Einzubeziehen sind in die Betrachtung mithin – die zum Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung (s.o. unter 2.) – tatsächlich vorhandenen baulichen Anlagen. Allerdings können künftige bauliche Entwicklungen – im begrenzten Umfang – berücksichtigt werden, etwa wenn sich diese bereits in der vorhandenen Bebauung niedergeschlagen haben (BVerwG, U. v. 29.11.1974 – 4 C 10.73). Grundsätzlich ist vielmehr davon auszugehen, dass bloß beabsichtigte, aber ungenehmigte und noch nicht errichtete Bauvorhaben unberücksichtigt bleiben; das Gleiche gilt grundsätzlich auch für genehmigte, aber noch nicht errichtete Bauvorhaben (Söfker in Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, Baugesetzbuch, 148. Erg. Lief. Okt. 2022, § 34 BauGB Rn. 35 unter Verweis auf BVerwG, U.v. 26.11.1976 – 4 C 69.74). Etwas anderes kommt jedoch in Betracht, wenn mit dem Bau genehmigter Gebäude begonnen worden ist und dementsprechend nach Lage der Dinge mit einer prägenden Wirkung alsbald zu rechnen ist (Söfker in Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, Baugesetzbuch, 148. Erg. Lief. Okt. 2022, § 34 BauGB Rn. 35b).
47
Von einer prägenden Wirkung der beiden Mehrfamilienwohnhäuser auf dem Grundstück Fl.Nr. …2 – die hier als Bezugsfälle angesetzt wurden – ist vorliegend auszugehen, da bereits eineinhalb Jahre vor dem maßgeblichen Zeitpunkt der Erteilung der streitgegenständlichen Baugenehmigung am 13. Januar 2022 mit deren Bau begonnen worden und der Rohbau zu diesem Zeitpunkt bereits fertiggestellt war.
2.3.
48
Die beiden streitgegenständlichen Mehrfamilienwohnhäuser der Beigeladenen fügen sich aber nicht nur hinsichtlich des Maßes der baulichen Nutzung, sondern auch nach der Bauweise und der überbaubaren Grundstücksfläche in die Eigenart der näheren Umgebung ein, § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB.
49
Soweit die Klägerseite vorbringt, dass sich hinsichtlich der überbauten Grundstücksfläche in der näheren Umgebung ein Rahmen von 87,13 m² bis 220,03 m² ergebe, der durch die Bauvorhaben überschritten werde, liegt dem ein unzutreffendes Verständnis der überbaubaren Grundstücksfläche zugrunde. Im unbeplanten Innenbereich kann hinsichtlich der Prüfungskriterien des § 34 BauGB grundsätzlich auf das Ordnungssystem der BauNVO abgestellt werden. Für das Zulässigkeitsmerkmal „überbaubare Grundstücksfläche“ kann auf die in § 23 BauNVO bezeichneten Begriffsbestimmungen von Baulinie, Baugrenze und Bebauungstiefe zurückgegriffen werden, sofern die Eigenart der näheren Umgebung faktisch hiervon geprägt wird (vgl. hierzu BayVGH, B.v. 12.1.2012 – 15 ZB 10.445 – juris und B.v. 28.1.2002 – 20 ZB 01.3161 – juris; Söfker in Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, Baugesetzbuch, 148. Erg. Lief. Okt. 2022, § 34 BauGB Rn. 47). Die darauf zu beziehende Eigenart der näheren Umgebung i.S.d. § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB geht aus von den in der näheren Umgebung tatsächlich vorhandenen Baulinien, Baugrenzen und Bebauungstiefen (Söfker in Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, Baugesetzbuch, 148. Erg. Lief. Okt. 2022, § 34 BauGB Rn. 47). So darf nach § 23 Abs. 3 BauNVO eine (faktische) Baugrenze durch bauliche Anlagen nicht überschritten werden. Im vorliegenden Fall ergeben sich im fraglichen Bereich jedoch keine feststehenden faktischen Baulinien, Baugrenzen bzw. Bebauungstiefen. Soweit es um die konkrete Größe der Grundfläche des in Frage stehenden Vorhabens geht, wurde bereits oben (unter 2.2.3.) dargelegt, dass insoweit Referenzobjekte vorhanden sind.
50
Hinsichtlich des Zulassungsmerkmals der Bauweise kann auf § 22 BauNVO zurückgegriffen werden, wonach zwischen offener und geschlossener Bauweise zu unterscheiden ist. Hier ist weder von Klägerseite gerügt noch sonst wie ein Verstoß gegen die vorgegebene Bauweise erkennbar. Die streitgegenständlichen Vorhaben sind in offener Bauweise geplant, die im Umgriff des Baugrundstücks (nahezu) durchgängig eingehalten ist.
2.4.
51
Soweit von Klägerseite gerügt wird, dass sich das Vorhaben nicht in die Eigenart der Umgebung einfüge, weil es sich nicht um ein Ein- oder Zweifamilienhaus handele und weil der Grenzabstand, den die anderen Wohnhäuser einhielten, unterschritten werde, bleibt darauf hinzuweisen, dass sich gemäß § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB das Vorhaben explizit nach der Art und dem Maß der baulichen Nutzung, der Bauweise und der überbaubaren Grundstücksfläche in die Eigenart der näheren Umgebung einfügen muss. Auf andere Faktoren als diese in § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB genannten, wie die von Klägerseite angeführten Abstände der Bauvorhaben zu Nachbargebäuden bzw. Grenzabstände, kommt es in diesem Zusammenhang nicht an.
52
Auch auf ein Einfügen in Bezug auf eine Ein- oder Zweifamilienhausbebauung kommt es nicht an. Denn die Anzahl der Wohnungen ist jedenfalls kein Kriterium zur Beurteilung der Frage, ob sich ein Vorhaben im Sinne des § 34 Abs. Absatz 1 BauGB einfügt (vgl. BVerwG, B.v. 24.4.1989 – 4 B 72/89 – juris Rn. 7; s.a. VG Würzburg, B.v. 14.3.2016 – W 4 S 16.179 – juris). Unabhängig davon sind im Umgriff des Bauvorhabens Mehrfamilienhäuser (jeweils zwei Sechs-Familienhäuser) als Referenzobjekte in Ansatz zu bringen.
2.5.
53
Letztlich kam es nicht mehr auf die zwischen den Beteiligten strittige Frage an, ob in der näheren Umgebung auch auf den Grundstücken Fl. Nr. …9 und …1 vergleichbare Baukörper vorhanden sind. Genauso wenig kam es darauf an, ob es sich hier insoweit um sog. „Fremdkörper“ handelt, wobei hierfür nicht das Geringste spricht.
2.6.
54
Schließlich wird auch das Gebot der Rücksichtnahme durch die streitgegenständliche Baugenehmigung nicht verletzt.
55
Das baurechtliche Gebot der Rücksichtnahme ist unabhängig davon zu beachten, nach welcher Vorschrift das Bauvorhaben der Beigeladenen bauplanungsrechtlich zu beurteilen ist. Richtet sich die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit – wie hier – nach § 34 Abs. 2 BauGB, weil die Eigenart der näheren Umgebung einem der in der BauNVO genannten Baugebiete, hier einem allgemeinen (oder reinen) Wohngebiet, entspricht, ergibt sich die Verpflichtung zur Rücksichtnahme aus § 34 Abs. 2 BauGB in Verbindung mit § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO (BVerwG, U.v. 12.12.1991 – 4 C 5/88 – juris). Nach § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO sind Anlagen auch unzulässig, wenn von ihnen Belästigungen oder Störungen ausgehen können, die nach der Eigenart des Baugebiets im Baugebiet oder in dessen Umgebung unzumutbar sind, oder wenn sie solchen Belästigungen oder Störungen ausgesetzt werden.
56
Das Gebot der Rücksichtnahme (grundlegend BVerwG, U.v. 25.2.1977 – IV C 22/75 – BVerwGE 52, 122) soll einen angemessenen Interessenausgleich gewährleisten. Die an das Gebot der Rücksichtnahme zu stellenden Anforderungen hängen im Wesentlichen von den konkreten Umständen des Einzelfalls ab. Die vorzunehmende Interessenabwägung hat sich daran zu orientieren, was dem Rücksichtnahmebegünstigten und dem Rücksichtnahmeverpflichteten jeweils nach Lage der Dinge zuzumuten ist. Dies beurteilt sich nach der jeweiligen Situation der benachbarten Grundstücke. Je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung des Rücksichtnahmeberechtigten ist, desto mehr kann er an Rücksichtnahme verlangen. Je verständlicher und unabweisbarer die Interessen des Bauherrn sind, die er mit dem Vorhaben verfolgt, desto weniger muss er Rücksicht nehmen (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 13.3.1981 – 4 C 1/78 – juris). Das Gebot der Rücksichtnahme ist demnach nur dann verletzt, wenn die dem Nachbarn aus der Verwirklichung des geplanten Vorhabens resultierenden Nachteile das Maß dessen übersteigen, was ihm billigerweise noch zumutbar ist (vgl. Mitschang/Reidt in Battis/Krautzberger/Löhr, BauGB, 15. Aufl. 2022, § 35 Rn. 78). In der Rechtsprechung ist zudem anerkannt, dass eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots auch dann in Betracht kommt, wenn durch die Verwirklichung des genehmigten Vorhabens ein in der unmittelbaren Nachbarschaft z.B. befindliches Wohngebäude „eingemauert“ oder „erdrückt“ wird (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 13.3.1981 – 4 C 1/78; B.v. 20.9.1984 – 4 B 181/84; U.v. 23.5.1986 – 4 C 34/85 – alle juris). Ob dies der Fall ist, hängt ganz wesentlich von der konkreten Situation im Einzelfall ab.
57
Dass das Bauvorhaben der Beigeladenen den Nachbarn gegenüber erdrückende Wirkung entfalten würde, ist nicht zu sehen. Das anzunehmen kommt nur in Ausnahmefällen in Betracht, wenn die genehmigte Anlage das Nachbargrundstück aufgrund einer außergewöhnlichen Dimension regelrecht abriegelt, d. h. dort ein Gefühl des „Eingemauertseins“ oder eine „Gefängnishofsituation“ hervorruft, und das „erdrückte“ Gebäude oder Grundstück nur noch oder überwiegend wie eine von einem „herrschenden“ Gebäude dominierte Fläche ohne eigene baurechtliche Charakteristik wahrgenommen wird; dem Grundstück muss gleichsam die „Luft zum Atmen“ genommen werden (vgl. OVG Lüneburg, B.v. 18.2.2009 – 1 ME 282/08 – NordÖR 2009, 179; B.v. 15.1.2007 – 1 ME 80/07 – BauR 2007, 758; OVG Münster, U.v. 9.2.2009 – 10 B 1713/08 – NVwZ-RR 2009, 374). Eine solche Wirkung hat die Rechtsprechung vor allem bei nach Höhe und Volumen „übergroßen“ Baukörpern in geringem Abstand zu benachbarten Wohngebäuden angenommen (vgl. BayVGH, B.v. 8.8.2007 – 14 AS 07.1855 – juris), so bei einem zwölfgeschossigen Hochhaus in Entfernung von 15 m zum zweigeschossigen Nachbarwohnhaus (vgl. BVerwG, U.v. 13.3.1981 – 4 C 1/78 – juris).
58
Auch sonst spricht hier nichts für eine Verletzung des nachbarlichen Rücksichtnahmegebots.
3.
59
Der Kläger hat sein Einvernehmen nach § 36 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 BauGB damit zu Unrecht verweigert. Das Landratsamt W. hat das rechtswidrig verweigerte Einvernehmen zu Recht ersetzt, weil der Beigeladenen ein Anspruch auf Erteilung der beantragten Baugenehmigung zusteht (Art. 68 Abs. 1 Satz 1 Hs. 1 BayBO).
60
Nach alldem war die Klage mit der sich aus § 154 Abs. 1 VwGO ergebenden Kostenfolge abzuweisen. Da die Beigeladene keinen Antrag gestellt und sich somit nicht am Kostenrisiko beteiligt hat, trägt sie ihre außergerichtlichen Kosten selbst (§ 162 Abs. 3 VwGO). Der Ausspruch über die sofortige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.