Inhalt

VG München, Beschluss v. 28.06.2023 – M 10 S 23.50657
Titel:

Annahme systemischer Mängel in Kroatien

Normenkette:
AsylG § 34a Abs. 2 S. 1
Leitsätze:
1. Entgegen der überwiegenden Rechtsprechung ist nach der vorliegenden Erkenntnismittellage von ernstzunehmenden Anhaltspunkten für das Vorliegen systemischer Mängel im kroatischen Asylsystem auszugehen. (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)
2. Es ist zweifelhaft, ob auch Dublin-Rückkehrer von Pushbacks und Kettenabschiebungen betroffen sind. (Rn. 23) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Dublin-Verfahren (Zielstaat, Kroatien), Abschiebungsanordnung, Systemische Mängel (hinreichende Anhaltspunkte nach derzeitiger Kammerrechtsprechung angenommen), Kettenabschiebungen von Kroatien nach Bosnien und Herzegowina nach völkerrechtlichen Rückübernahmeabkommen (readmission agreements), Erstreckung von Kettenabschiebungen auf Dublin-Rückkehrer (aufklärungsbedürftige Tatsachenfrage), Beweiserhebung der Kammer im Verfahren M 10 K 22.50479, Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens, offene Erfolgsaussichten, Folgenabwägung, Dublin-Verfahren, systemische Mängel, Kettenabschiebungen
Fundstelle:
BeckRS 2023, 17145

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Klage vom 23. Juni 2023 (M 10 K 23.50652) gegen die Abschiebungsanordnung in Nummer 3 des Bescheid der Antragsgegnerin vom 20. Juni 2023 (Gesch.-Z.: … * …*) wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Gründe

I.
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Der Antragsteller begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen die angeordnete Überstellung nach Kroatien im Rahmen des sog. „Dublin-Verfahrens“.
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Der Antragsteller, ein nicht ordnungsgemäß ausgewiesener Staatsangehöriger Afghanistans, reiste am 30. Mai 2023 in das Bundesgebiet ein und äußerte ein Asylgesuch, von dem das Bundesamt durch behördliche Mitteilung vom 5. Juni 2023 Kenntnis erlangt hat. Der förmliche Asylantrag datiert vom 12. Juni 2023. Der Antragsteller hat im Zuge des Aufgriffs durch die Bundespolizei u.a. angegeben, über Serbien, Bosnien und Herzegowina nach Kroatien eingereist zu sein.
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Nach den der Antragsgegnerin vorliegenden EURODAC-Ergebnismitteilungen lagen Anhaltspunkte für die Zuständigkeit eines anderen Staates nach der VO (EU) 604/2013 (Dublin III-VO) vor. In der dem Gericht vorliegenden Behördenakte befinden sich zwei unterschiedliche Ergebnismitteilungen: Die Ergebnismitteilung vom 30. Mai 2023 nennt einen EURODAC-Treffer der Kategorie 1 für Kroatien vom 20. Mai 2023 (vgl. BA S. 41), während eine undatierte Ergebnismitteilung auf S. 112 der Behördenakte zwei Treffermeldungen für Kroatien aufführt, welche das gleiche Datum (20.5.2023) und den gleichen Ort (Cetingrad), aber unterschiedliche Treffer-Kategorien aufweisen (sowohl Kategorie 1 und 2). Am 5. Juni 2023 richtete die Antragsgegnerin ein auf Art. 18 Abs. 1 Buchst. b Dublin III-VO gestütztes Übernahmeersuchen an Kroatien. Die kroatischen Behörden antworteten hierauf mit Schreiben vom 19. Juni 2023 wie folgt:
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„Your request for taking back, dated on 05/06/2023, which you have based on Article 18(1b) European Parliament and Council Regulation (EC) No 604/2013, is accepted by the Republic of Croatia according to Article 20(5) in order to continue to determine responsibility for the person mentioned above.“
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Mit Bescheid der Antragsgegnerin vom 20. Juni 2023, dem Antragsteller zugestellt am 21. Juni 2023, wurde der Asylantrag des Antragstellers als unzulässig abgelehnt und festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nrn. 1 und 2). Die Abschiebung nach Kroatien wurde angeordnet (Nr. 3). Das angeordnete Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde auf 19 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 4). Auf die Begründung des Bescheids wird Bezug genommen.“
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Der Antragsteller hat am 23. Juni 2023 gegen den Bescheid vom 20. Juni 2023 Klage erhoben. Ferner beantragt er mit am 26. Juni 2023 bei Gericht gesondert eingegangenen Schriftsatz,
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die aufschiebende Wirkung seiner Klage anzuordnen.
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Zur Begründung wird neben weiterer Einwände zu seiner Altersfeststellung im Wesentlichen ausgeführt, dass in Kroatien systemische Mängel des Asylverfahrens bestünden. Die Rahmenbedingungen des kroatischen Asylsystems seien sehr schlecht, er vermute, dass er dort wieder sehr schlecht behandelt würde. Er sei dort voraussichtlich Pushbacks und Polizeigewalt ausgesetzt. Die Verantwortlichen dieser Menschenrechtsverletzungen seien meist straflos und es bestünden gravierende Lücken im kroatischen Asylsystem. Die Eigenschaft als Dublin-Rückkehrer räume ihm keinen rechtlichen Sonderstatus ein, sondern er sei nach Art. 18 Abs. 2 Dublin III-VO wie ein Erstantragsteller zu behandeln.
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Die Antragsgegnerin beantragt mit Schriftsatz vom 27. Juni 2023,
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den Antrag abzulehnen.
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Zur Begründung bezieht sie sich auf die angefochtene Entscheidung.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte, auch im Verfahren M 10 K 23.50652, sowie die beigezogene Behördenakte Bezug genommen.
II.
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Der Antrag gemäß § 34a Abs. 2 Satz 1 Asylgesetz (AsylG) i.V.m. § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage ist zulässig und begründet.
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1. Entfaltet ein Rechtsbehelf – wie hier (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 75 Abs. 1 AsylG) – von Gesetzes wegen keine aufschiebende Wirkung, kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO anordnen. Das Gericht trifft dabei eine eigene Ermessensentscheidung, bei der es abzuwägen hat zwischen dem sich aus § 75 AsylG ergebenden öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung des Bescheids und dem Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfes. Dabei sind insbesondere die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens zu berücksichtigen. Ergibt die im Eilverfahren gebotene summarische Prüfung, dass die Klage voraussichtlich erfolglos sein wird, tritt das Interesse des Antragstellers regelmäßig zurück. Sofern die Klage dagegen bei summarischer Prüfung voraussichtlich erfolgreich sein wird, tritt das Interesse an der sofortigen Vollziehung zurück. Bei offenen Erfolgsaussichten verbleibt es bei einer allgemeinen Interessenabwägung, bei der jedoch die gesetzgeberische Entscheidung, die aufschiebende Wirkung einer Klage auszuschließen, zu berücksichtigen ist.
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2. Gemessen an diesen Maßstäben sind nach summarischer Prüfung die Erfolgsaussichten der Klage der Antragsteller gegen die Abschiebungsanordnung im streitgegenständlichen Bescheid offen. An der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsanordnung bestehen bei summarischer Prüfung im hier maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG) jedenfalls Zweifel.
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Zwar ist die Antragsgegnerin im Ausgangspunkt zutreffend von einer Zuständigkeit Kroatiens nach Art. 18 Abs. 1 Buchst. b Dublin III-VO ausgegangen. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund der offenbar zuerst vorliegenden EURODAC-Ergebnismitteilung vom 30. Mai 2023, die lediglich die Treffermitteilung der Kategorie 1 für Kroatien enthielt.
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a) Aber vorliegend sind die Erfolgsaussichten der Klage in Bezug auf die Frage offen, ob die Zuständigkeit gemäß Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 3 Dublin III-VO auf die Antragsgegnerin übergegangen ist, weil eine Überstellung an Kroatien als den zuständigen Mitgliedstaat an Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO scheitern würde. Denn der Aspekt, ob das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Kroatien systemische Schwachstellen im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) mit sich bringen, ist in der Rechtsprechung umstritten. Deswegen erhebt die Kammer diesbezüglich in einem anderen Verfahren Beweis; die Beweiserhebung ist noch nicht abgeschlossen.
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b) Nach dem Prinzip der normativen Vergewisserung (vgl. BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1938/93 und 2 BvR 2315/93 – juris) bzw. dem Prinzip des gegenseitigen Vertrauens (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011 – C-411/10 und C-493/10 – juris) gilt die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat der Europäischen Union den Vorschriften der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), der Europäischen Konvention für Menschenrechte (EMRK) und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union entspricht. Allerdings ist diese Vermutung nicht unwiderleglich. Vielmehr obliegt den nationalen Gerichten die Prüfung, ob es im jeweiligen Mitgliedstaat Anhaltspunkte für systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber gibt, welche zu einer Gefahr für den Antragsteller führen, bei Rückführung in den zuständigen Mitgliedstaat einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh ausgesetzt zu werden (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011, a.a.O.). Die Vermutung ist aber nicht schon bei einzelnen einschlägigen Regelverstößen der zuständigen Mitgliedstaaten widerlegt. An die Feststellung systemischer Mängel sind vielmehr hohe Anforderungen zu stellen. Von systemischen Mängeln ist daher nur dann auszugehen, wenn das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber regelhaft so defizitär sind, dass zu erwarten ist, dass dem Asylbewerber im konkret zu entscheidenden Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht (vgl. BVerwG, B.v. 17.1.2022 – 1 B 66.21 – juris Rn. 18 ff.; BVerwG, B.v. 19.3.2014 – 10 B 6.14 – juris Rn. 9; VGH BW, U.v. 16.4.2014 – A 11 S 1721/13 – juris Rn. 41; grundlegend EuGH, U.v. 21.12.2011 – C-411/10, „Abdullahi“ – NVwZ 2012, 417, Rn. 80 ff.). Dabei ist nach der zwischenzeitlich ergangenen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu berücksichtigen, dass der Begriff der systemischen Schwachstellen nicht notwendigerweise gesamtbezogen auf das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen im Überstellungsstaat insgesamt zu verstehen ist, sondern auch Teilbereiche hiervon erfasst sein können, die mit individuellen Umständen des Asylbewerbers verknüpft sind (EuGH, U.v. 16.2.2017 – C-578/16 PPU – juris Rn. 70 ff. = NVwZ 2017, 691 ff., im Hinblick auf das Gesundheitssystem in Kroatien). Demnach ist mittlerweile geklärt, dass auch die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verletzung von Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK eine Überstellung i.S.v. Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO unmöglich machen kann, selbst wenn diese Rechtsverletzung nicht die Konsequenz aus der Existenz systemischer Schwachstellen im zuständigen Mitgliedstaat ist (EuGH, U.v. 16.2.2017 – C-578/16 PPU – juris Rn. 91). Erforderlich, aber auch ausreichend ist daher, wenn auf Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben dem Gericht Anhaltspunkte für Schwachstellen vorliegen, welche eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen und den Antragsteller betreffen. Diese besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit ist (auch) erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass sich eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Bedürfnissen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen (BVerwG, B.v. 17.1.2022 – 1 B 66.21 – juris Rn. 18; EuGH, U.v. 19.3.2019 – C 297/17 „Ibrahim“ u.a. – juris Rn. 89 ff. und C-163/17, „Jawo“ – juris Rn. 91 ff.).
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In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist dabei geklärt, dass es sowohl verfassungsrechtlich als auch europa- und konventionsrechtlich geboten sein kann, dass sich die zuständigen Behörden und Gerichte vor der Rückführung eines Asylsuchenden in einen anderen Staat über die dortigen Verhältnisse informieren und gegebenenfalls Zusicherungen der zuständigen Behörden einholen. Soweit entsprechende Erkenntnisse und Zusicherungen im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht vorliegen und nicht eingeholt werden können, ist es zur Sicherung effektiven Rechtsschutzes geboten, die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen (BVerfG, B.v. 10.10.2019 – 2 BvR 1380/19 – juris Rn. 16). Dies gilt jedenfalls in solchen Fällen, in denen die Auskunftslage im Eilverfahren nicht hinreichend eindeutig erscheint und eine weitere Sachaufklärung im Hauptsacheverfahren naheliegt (BVerfG, B.v. 21.4.2016 – 2 BvR 273/16 – juris Rn. 14). Dabei ist auch in den Blick zu nehmen, dass die Ablehnung des Antrags nach § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG i.V.m. § 80 Abs. 5 VwGO ungeachtet sich stellender komplexer Rechts- oder Tatsachenfragen im Hauptsacheverfahren die Rechtsweggarantie eines Antragstellers aus Art. 19 Abs. 4 GG in rechtlich unzulässiger Weise abschneiden kann (BVerfG, B.v. 20.11.2018 – 2 BvR 80/18 – juris Rn. 8, mit Verweis auf § 80 AsylG).
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c) Gemessen an diesen Vorgaben ist nach der vorliegenden Erkenntnismittellage jedenfalls von ernstzunehmenden Anhaltspunkten für das Vorliegen systemischer Mängel im kroatischen Asylsystem auszugehen, hinsichtlich derer auch hinreichend wahrscheinlich erscheint, dass sie den Antragsteller treffen können.
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Zwar verneint die überwiegende Meinung in der Rechtsprechung das Vorliegen systemischer Mängel (vgl.: VGH BW, U.v. 11.5.2023 – A 4 S 2666/22 – juris; NdsOVG, B.v. 22.2.2023 – 10 LA 12/23 – juris; VG Ansbach, B.v. 21.12.2022 – AN 14 S 22.50376 – juris; VG Leipzig, B.v. 6.12.2022 – 6 L 678/22.A – juris; VG Hannover, B.v. 21.11.2022 – 4 B 4791/22 – juris; VG Stuttgart, U.v. 30.9.2022 – A 13 K 4446/22 – juris; VG Aachen, B.v. 12.9.2022 – 6 L 551/22.A – juris; VG Göttingen, B.v. 8.7.2022 – 4 B 110/22 – juris; VG Düsseldorf, B.v. 4.2.2022 – 12 L 59/22.A – juris; VG Chemnitz, B.v. 10.12.2021 – 4 L 519/21.A – juris). Dies wird trotz der von den kroatischen Behörden vorgenommenen Pushbacks und Kettenabschiebungen angenommen. Hauptargument ist hierbei, dass Dublin-Rückkehrer von diesen Maßnahmen nicht betroffen seien.
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Dagegen bejaht aber ein nicht unerheblicher Teil der Rechtsprechung das Vorliegen systemischer Mängel (vgl. VG Braunschweig, U.v. 8.5.2023 – 2 A 269/22 – juris; VG Braunschweig, U.v. 24.5.2022 – 2 A 26/22 – juris; im Anschluss hieran: VG Freiburg, B.v. 26.7.2022 – A 1 K 1805/22 – juris; VG Hannover, B.v. 7.9.2022 – 15 B 3250/22 – juris; VG Stuttgart, B.v. 2.9.2022 – A 16 K 3603/22 – juris; offenlassend als grundsätzlich bedeutsame Tatsachenfrage i.S.d. § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG: VG Karlsruhe, B.v. 21.2.2023 – A 19 K 304/23 – juris Rn. 38 ff.). Diese Auffassung beruft sich unter Auswertung aktueller Erkenntnismittel darauf, dass es in Kroatien nicht nur an der EU-Außengrenze seit Langem und in erheblichem Umfang zu gewaltsamen Pushbacks, d.h. irregulären Abschiebungen von Asylsuchenden über die kroatische EU-Außengrenze nach Serbien und Bosnien-Herzegowina, komme. Vielmehr seien auch Kettenabschiebungen nach Bosnien-Herzegowina von Österreich, Italien oder Slowenien hinreichend belegt. Folglich sei nicht sichergestellt, dass im Wege des Dublin-Verfahrens von Deutschland an Kroatien rücküberstellte Asylsuchende nicht ebenfalls Opfer von Kettenabschiebungen nach Bosnien-Herzegowina oder Serbien werden könnten und ihr Recht auf Asylantragstellung dadurch vereitelt würde (vgl. zusammenfassend: VG Freiburg, B.v. 26.7.2022, a.a.O., Rn. 14).
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d) Das Hauptargument der überwiegenden Rechtsprechung, dass Dublin-Rückkehrer von Pushbacks und Kettenabschiebungen nicht betroffen seien, ist bei summarischer Bewertung und unter Zugrundelegung des gegenwärtigen Erkenntnisstands jedenfalls zweifelhaft: Die Eigenschaft als Dublin-Rückkehrer räumt den Geflüchteten keinen rechtlichen Sonderstatus ein, sondern Dublin-Rückkehrer sind nach Art. 18 Abs. 2 Dublin III-VO zu behandeln wie Erstantragsteller. Wenn sie Kroatien vor Abschluss des Asylverfahrens verlassen, wird ihr Verfahren ausgesetzt, und sie müssen nach ihrer Rückkehr erneut einen Antrag stellen, um das Asylverfahren fortzusetzen oder neu einzuleiten. Eine Differenzierung, wie etwa zwischen anerkannten international Schutzberechtigten und Asylbewerbern, ist damit nicht angezeigt. Die Gruppe der Dublin-Rückkehrer von den sonstigen Asylsuchenden in Kroatien abzuspalten und als eigenständige (privilegierte) Kategorie zu betrachten, wäre nur dann gerechtfertigt, wenn es gelänge, positiv zu belegen, dass Dublin-Rückkehrern die Gefahren, denen sämtliche andere Asylbewerber in Kroatien ausgesetzt sind, nicht drohen (vgl. hierzu: VG Braunschweig, U.v. 8.5.2023 – 2 A 269/22 – juris LS 3 und Rn. 54, 56).
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Diese Annahme wird entgegen der überwiegenden Rechtsprechung auch nicht mit dem pauschalen Verweis auf den unionsrechtlichen Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens („mutual trust“) in Zweifel gezogen (so aber insbesondere NdsOVG, B.v. 22.2.2023 – 10 LA 12/23 – juris Rn. 8). Die in der überwiegenden Rechtsprechung wiederholt anzutreffende Argumentation, der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens wäre erst dann widerlegt, wenn Kettenabschiebungen von Dublin-Rückkehrern in faktischer Hinsicht eindeutig (d.h. sinngemäß durch Strengbeweismittel) nachgewiesen seien, dürfte die Darlegungsanforderungen für die Widerlegung des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens – jedenfalls in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes – wohl überspannen. Denn die Annahme, dass Dublin-Rückkehrer einen rechtlichen Sonderstatus innehätten, der sie vor einer Kettenabschiebung etwa nach Bosnien und Herzegowina bewahren würde, führt nicht nur zu der nicht vertretbaren methodischen Konsequenz, dass einem Dublin-Rückkehrer so eine nähere Aufklärung der genannten Kettenabschiebungen bezogen auf eine individualisierte Prüfung der beachtlichen Wahrscheinlichkeit einer Verletzung von Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK entzogen wird, während zugleich aufgrund der Unanfechtbarkeit im Eilverfahren praktisch kaum mehr rückgängig zu machende Fakten geschaffen werden (BVerfG, B.v. 10.10.2019 – 2 BvR 1380/19 – juris Rn. 15; BVerfG, B.v. 21.4.2016 – 2 BvR 273/16 – juris Rn. 14). Bei dieser Betrachtungsweise wird nämlich gerade auch der rechtliche Kontext der in der Erkenntnismittellage beschriebenen Kettenabschiebungen, der auf der nationalen und völkervertragsrechtlichen Ebene liegt, ausgeblendet. Mit den maßgeblichen völkerrechtlichen Abkommen (dazu sogleich) wird losgelöst vom Dublin-System ein Parallelregime implementiert, das tatbestandsmäßig Dublin-Rückkehrer im Anwendungsbereich gerade nicht ausdrücklich ausschließt (vgl. auch hinsichtlich der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung zum Mitgliedstaat Ungarn und der damaligen Frage von Kettenabschiebungen nach Serbien nach dem entsprechenden Rückführungsabkommen: HessVGH, U.v. 1.9.2017 – 4 A 2987/16.A – juris Rn. 51; NdsOVG, U.v. 20.12.2016 – 8 LB 184/15 – juris Rn. 52). Ein derartiger aus dem Grundsatz des „mutual trust“ abgeleiteter gerichtlicher Kontrollverzicht lässt sich jedenfalls im Eilverfahren dann nicht mehr legitimieren, wenn sich nach dem nationalen Recht des Zielstaats oder von diesem geschlossenen völkerrechtlichen Abkommen unter Berücksichtigung von deren Vollzugspraxis die hinreichende Wahrscheinlichkeit einer Rechtsverletzung aus Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK im Einzelfall ergibt (vgl. auch allg. zum Grundsatz des „mutual trust“ und der Schwelle der hinreichenden Wahrscheinlichkeit: Lübbe, NVwZ 2017, 674 [678 f.]). Hinsichtlich der in der Erkenntnismittellage vielfach thematisierten Kettenabschiebungen nach Bosnien und Herzegowina (vgl. dazu beispielhaft: AIDA, Country Report Report Croatia, Update 2021, S. 24 m.w.N; Report of the Special Rappoteur on the human rights of migrants, Felipe González Morales: Human rights violations at international borders: trends, prevention and accountability [26.4.2022] – UN Doc. A/HRC/50/31, insbes. Rn. 49 m.w.N.) werfen insoweit auf völkervertragsrechtlicher Ebene das (bilaterale) „Abkommen vom 11. März 2011 zwischen der Regierung der Republik Kroatien und dem Ministerrat von Bosnien und Herzegowina über die Übergabe und Aufnahme von Personen, deren Einreise oder Aufenthalt illegal ist“ (kroatischer Original-Text des Abkommens im kroatischen Gesetzblatt abrufbar unter https://narodne-novine.nn.hr/clanci/medunarodni/2011_08_11_96.html) sowie das Abkommen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und Bosnien und Herzegowina über die Rücknahme von Personen mit unbefugtem Aufenthalt vom 19. Dezember 2007 in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht Fragen auf. Die Kammer erhebt im Verfahren M 10 K 22.50479 u.a. auch unter Berücksichtigung der oben genannten völkerrechtlichen Abkommen und deren Vollzugspraxis Beweis, inwieweit Dublin-Rückkehrer von der von Kroatien praktizierten Kettenüberstellungspraxis tatsächlich betroffen sein können. Die Kammer holt in diesem Zusammenhang Auskünfte vom Auswärtigen Amt, dem European Center for Constitutional and Human Rights und Amnesty International Deutschland ein.
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Vorliegend bestehen nach Aktenlage auch konkrete und hinreichende Anhaltspunkte, dass der Antragsteller auch als Dublin-Rückkehrer von den oben beschriebenen Kettenabschiebungen von Kroatien nach Bosnien und Herzegowina betroffen sein könnte. Vorliegend deuten bereits der Inhalt bzw. die Chronologie der dem Gericht vorliegenden EURODAC-Ergebnismitteilungen in Zusammenspiel mit dem Schreiben der kroatischen Behörden vom 19. Juni 2023 auf mehrere Ungereimtheiten hin, die für das Gericht nicht plausibel erklärbar sind. So ist für das Gericht nicht nachvollziehbar, dass ausweislich der ersten EURODAC-Ergebnismitteilung vom 30. Mai 2023 ausschließlich eine Treffermitteilung der Kategorie 1 für Kroatien vorliegt (welche einen gestellten Asylantrag des Antragstellers in Kroatien belegt), während im Nachgang die weitere (undatierte) Ergebnismitteilung (BA S. 112) Treffermeldungen sowohl der Kategorie 1 als auch 2 hinsichtlich des gleichen Datums (20.5.2023) und der gleichen Örtlichkeit (Cetingrad) enthält. Die Chronologie des Aktenverlaufs erweckt jedenfalls den Eindruck, dass die Treffermeldung der Kategorie 2 für Kroatien nachträglich dazu gekommen ist. Wie bzw. warum dies geschehen ist, ist dem Gericht nicht bekannt.
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Diese Ungereimtheit verstärkt sich noch dadurch, indem die kroatischen Behörden in ihrem Antwortschreiben vom 19. Juni 2023 ihre Zuständigkeit ausdrücklich auf Art. 20 Abs. 5 Unterabs. 1 Dublin III-VO gestützt haben, obwohl die Antragsgegnerin mit Verweis auf den EURODAC-Treffer der Kategorie 1 (aus ihrer Sicht) konsequent und richtig auf die Zuständigkeit Kroatiens nach Art. 18 Abs. 1 Buchst. b Dublin III-VO verwiesen hat. Das Antwortschreiben der kroatischen Behörden vom 19. Juni 2023 deutet ungeachtet der jedenfalls nach dem EURODAC-Treffer der Kategorie 1 belegten Asylantragstellung des Antragstellers in Kroatien darauf hin, dass Kroatien versucht, seine Zuständigkeit nach Art. 18 Abs. 1 Buchst. b samt den damit einhergehenden Rechtspflichten aus Art. 18 Abs. 2 Dublin III-VO zu unterlaufen, indem es ausführt, dass die Prüfung der Zuständigkeit des zuständigen Mitgliedstaats gem. Art. 20 Abs. 5 Dublin III-VO fortgeführt werden müsse, obgleich sich aus der Perspektive Kroatiens nach den vorliegenden EURODAC-Treffern eine anderweitige unionsrechtliche Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaats unter keinem Gesichtspunkt ergeben kann. Das Schreiben der kroatischen Behörden vom 19. Juni 2023 lässt damit die Anerkennung der eigenen Zuständigkeit für das Asylverfahren des Klägers gerade offen und erweckt den Eindruck, dass sich Kroatien ungeachtet des mit der Beweiskraft des EURODAC-Treffers belegten Asylantrags des Antragstellers in Kroatien samt der damit einhergehenden Garantie aus Art. 9 Abs. 1 Satz 1 RL 2013/32/EU die Möglichkeit offenhalten möchte, die Zuständigkeit eines anderen Drittstaats zu begründen, für den es jedenfalls nach dem Dublin-Regime keine Anhaltspunkte gibt. Für das Gericht erscheint es nach dem Vorstehenden jedenfalls möglich, dass Kroatien im Einklang nach den Modalitäten des bilateralen Rückübernahmeabkommens vom 11. März 2011 eine Anschlussüberstellung nach Bosnien und Herzegowina anstrebt, da eine anderweitige von Kroatien offenbar angestrebte rechtliche Drittstaatszuständigkeit lediglich nach einem vom Gemeinsamen Europäischen Asylsystem losgelösten Rechtsmechanismus auf nationaler oder völkervertragsrechtlicher Ebene denkbar ist (vgl. dazu mutatis mutandis die obergerichtliche Rechtsprechung hinsichtlich des Mitgliedstaats Ungarn: BayVGH, U.v. 23.3.2017 – 13a B 17.50003 – juris Rn. 32 ff.; HessVGH, U.v. 1.9.2017 – 4 A 2987/16.A – juris Rn. 51; NdsOVG, U.v. 20.12.2016 – 8 LB 184/15 – juris Rn. 52).
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Insofern kommt es für die Frage des Vorliegens von Kettenabschiebungen und der Frage der Betroffenheit des Antragstellers hiervon auch nicht entscheidend darauf an, ob der Antragsteller nach einer Ankunft am Flughafen Zagreb gewissermaßen postwendend im Polizeibus nach Bosnien und Herzegowina weitergeführt würde, sondern es ist in prognostischer Hinsicht zu prüfen, ob dem Antragsteller nach den konkreten Umständen des Falles entgegen der unionsrechtlichen Vorgaben aus Art. 18 Abs. 2 Dublin III-VO und Art. 9 Abs. 1 Satz 1 RL 2013/32/EU die Abschiebung nach Bosnien und Herzegowina mit überwiegender Wahrscheinlichkeit droht. Eine Überstellung des Antragstellers nach Kroatien würde im Hinblick auf die rechtlichen Vorgaben aus Art. 18 Abs. 2 Dublin III-VO, Art. 9 Abs. 1 Satz 1 RL 2013/32/EU bzw. Art. 4 GRCh und Art. 3 EMRK nämlich nicht weniger rechtswidrig, wenn eine Anschlussüberstellung des Antragstellers nach Bosnien und Herzegowina nicht umgehend, sondern erst nach einer bestimmten Zeit nach Ankunft in Kroatien vollzogen würde. Auch in diesem Fall wäre eine rechtswidrige Weiterführung des Antragstellers nach Bosnien und Herzegowina der Antragsgegnerin indirekt zuzurechnen, da diese letztlich in kausalem Zusammenhang mit der Überstellung nach Kroatien stünde (vgl. allg. zum Verbot des sog. indirekten refoulement: EGMR, U.v. 21.9.2019 [GK] – Ilias und Ahmed/Ungarn, Nr. 47287/15 – HUDOC Rn. 129 m.w.N. = NVwZ 2020, 937 [939]).
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Eine Kettenabschiebung des Antragstellers nach Bosnien und Herzegowina würde damit bedeuten, dass der Antragsteller dort wiederum den dortigen Bedingungen ausgesetzt wäre. In einem Arbeitspapier der Europäischen Kommission vom 12. Oktober 2022 (SWD[2022] 336 final) wird angedeutet, dass dort hinsichtlich der Aufnahmebedingungen von Asylsuchenden derzeit (noch) elementare menschliche Bedürfnisse nicht befriedigt werden können und willkürliche Beschränkungen der Freiheitsrechte von Ausländern aufgehoben werden sollten (Europäische Kommission, a.a.O., S. 37; vgl. auch kritisch US Department of State, Bosnia and Herzegovina 2021 Human Rights Report, S. 25).
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3. Angesichts der uneinheitlichen Rechtsprechung zur Frage des Vorliegens systemischer Mängel in Kroatien und der hierzu derzeit durchgeführten Beweiserhebung durch die Kammer sind die Erfolgsaussichten der Klage gegen die Abschiebungsanordnung derzeit als offen zu bewerten. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung ist anzuordnen, da im Rahmen der Interessenabwägung die Nachteile, die sich für den Antragsteller bei einem Sofortvollzug ergeben würden, gegenüber den Nachteilen, die die Antragsgegnerin aufgrund der Anordnung der aufschiebenden Wirkung erleidet, überwiegen. Auch wenn nach der gesetzgeberischen Grundwertung des § 75 AsylG im Fällen wie dem Vorliegenden der Klage grundsätzlich keine aufschiebende Wirkung zukommen soll, ist das Interesse des Antragstellers vorliegend als gewichtiger zu bewerten. Während bei einem Sofortvollzug der streitbefangenen Anordnung vorliegend mit hinreichender Wahrscheinlichkeit eine potenziell irreversible Verletzung der (hochrangigen) Rechtsgüter des Antragstellers aus Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK droht, würde sich auf der anderen Seite der Aufenthalt des Klägers lediglich bis zu seiner Überstellung nach Kroatien verlängern, sollte die Klage (etwa aufgrund weiterer tatsächlicher Erkenntnisse im Hauptsacheverfahren) doch erfolglos bleiben. Eine (unterstellte) verzögerte Überstellung des Antragstellers nach Kroatien wäre insoweit – auch vor dem Hintergrund der Gewährung effektiven Rechtsschutzes gem. Art. 19 Abs. 4 GG – als weniger schwerwiegend anzusehen und damit eher hinzunehmen als der (potenzielle) Eintritt irreversibler Tatsachen im Kontext der absoluten Rechtspositionen aus Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK.
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4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
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5. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).