Inhalt

VG Würzburg, Urteil v. 09.05.2023 – W 7 K 21.30567
Titel:

erfolglose Asylklage (Tadschikistan)

Normenketten:
AsylG § 3, § 4
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
Leitsatz:
Zwar beobachten die tadschikischen Sicherheitsdienste die Aktivitäten von Exiloppositionellen und Regierungskritikern, insbesondere aktiven Mitgliedern der Gruppe 24 und der Partei der Islamischen Wiedergeburt Tadschikistans (PIWT), genau üben und regelmäßig Druck auf deren Verwandte in Tadschikistan aus, damit diese auf ihre Verwandte einwirken, ihre politischen Aktivitäten im Ausland einzustellen; es liegen jedoch keine Anhaltspunkte für die Annahme vor, jede auch nur untergeordnete exilpolitische Betätigung – wie die Teilnahme an zwei Demonstrationen – könne schon eine solche Verfolgungsgefahr begründen. (Rn. 28) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Tadschikistan, Beteiligung an Unruhen in Berg, Badachschan 2012, Teilnahme an regimekritischen Demonstrationen in Deutschland, Keine Verfolgungsgefahr bei nur untergeordneter exilpolitischer Tätigkeit, Autonomen Region Berg Badachschan, glaubhafter Vortrag, exilpolitisches Engagement
Fundstelle:
BeckRS 2023, 17135

Tenor

I.    Die Klage wird abgewiesen.
II.    Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Tatbestand

1
Der Kläger, ein am ... 1991 in C.Tadschikistan geborener tadschikischer Staatsangehöriger islamisch-schiitischer Religions- und pamirischer Volkszugehörigkeit, reiste am 14. Oktober 2019 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 29. Oktober 2019 einen Asylantrag, zu dem er am 29. Oktober 2019 und 5. November 2019 beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) befragt wurde.
2
Dabei trug er im Wesentlichen vor, er habe Tadschikistan Anfang August 2012 verlassen und habe bis zum 11. Oktober 2019 in M./Russland gelebt. In seiner Heimatregion sei 2012 ein Krieg ausgebrochen. Ein General namens Ab. N.sei am 20. Juli 2012 ermordet worden. Der Kläger habe in einem Wohnheim für Studenten gewohnt. Passanten auf der Straße seien einfach ermordet worden. Er sei mit anderen Mitschülern aus Angst auf die Straße geflohen. Sie seien dort aufgefordert worden, ihre Heimat zu beschützen. Es seien Gewehre an sie verteilt worden. Der Kläger habe eine Woche lang gekämpft. Seine Beteiligung an den Gefechten habe etwa 10 bis 12 Tage gedauert. Dann habe es eine präsidentielle Amnestie gegeben. Sobald sie die Waffen abgegeben hätten, sei es wieder zu Auseinandersetzungen gekommen. Die Geheimdienstler hätten sie festgenommen. Sie seien verprügelt und verhört worden. Sie hätten wissen wollen, wie sie an die Waffen gekommen seien. Nach vier Stunden seien sie frei gelassen worden. Eine Woche später habe sich die Situation wiederholt und so sei es immer wieder gewesen. Der Kläger habe nicht einmal nach Hause reisen können, weil die ganze Infrastruktur zusammengebrochen gewesen sei. Er sei 1,5 Monate im Wohnheim geblieben. Danach sei es ihm gelungen, in sein Dorf zu fliehen. Dort sei er eine Woche geblieben. Dann sei er vom KGB abgeholt und nach C. gebracht worden. Sie seien frei gelassen worden. Er habe mit einem befreundeten Taxifahrer ausgemacht, dass er ihn auf einem Parkplatz treffe. Dieser habe in ins Oskh Gebirge nach Kirgisistan gefahren. Er über Bishkek nach Moskau geflogen. Dort habe erfahren, dass die KGB Beamten bei seinem Vater nach ihm gefragt hätten. Er sei weiterhin zur Wache vorgeladen worden. Es sei immer wieder zu solchen Konflikten gekommen. Dann habe sein Vater einen Schlaganfall gehabt. In Tadschikistan sei der Kläger als Terrorist eingestuft. Bei einer Rückkehr befürchte er, ins Gefängnis zu kommen und dort gefoltert zu werden. Da er aus dem Pamir Gebirge stamme, werde er besonders schlecht behandelt. Mitbewohner von ihm säßen im Gefängnis. Für ihn bestehe auch jetzt noch eine Gefahr in Tadschikistan, weil es ein Strafverfahren gegen ihn gebe und ihm ein Gerichtsprozess und Gefängnis drohe. Wenn man nicht zum Prozess erscheine, bekomme man zusätzlich fünf Jahre Freiheitstrafe. Ihm drohe deshalb insgesamt 15 Jahre Gefängnis in Tadschikistan. Das wisse der Kläger von seinem Vater, der KGB Beamte habe davon erzählt. Er wisse nicht, ob es dazu Dokumente gebe. Das letzte Mal seien seine Eltern 2017 nach dem Kläger befragt worden. Sie würden nicht mehr zum Kläger nach Hause kommen, weil der Vater wegen des Schlaganfalls bettlägerig sei. Seien tadschikischen Reisepass habe er in M. durch Bekannte bekommen. Er sei nicht selbst in der Botschaft gewesen.
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Mit Bescheid vom 26. März 2021, dem Kläger am 4. Mai 2021 zugestellt, erkannt das Bundesamt dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft nicht zu (Ziffer 1), lehnte den Antrag auf Asylanerkennung ab (Ziffer 2), erkannte den subsidiären Schutzstatus nicht zu (Ziffer 3). Abschiebungsverbote gem. § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG lägen nicht vor (Ziffer 4). Der Kläger werde unter Androhung der Abschiebung nach Tadschikistan zur Ausreise innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntwerden der Entscheidung bzw. unanfechtbarem Abschluss des Asylverfahrens zur Ausreise aufgefordert (Ziffer 5). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot werde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet.
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Zur Begründung wird im Wesentlichen vorgetragen, dass unter Berücksichtigung seines gesamten Sachvortrags nicht davon auszugehen sei, dass er bei einer Rückkehr nach Tadschikistan mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit von politisch motivierter Verfolgung bedroht sei. Nach den Erkenntnissen des Bundesamtes sei es im August 2012 in der Stadt C. zu Auseinandersetzungen zwischen Soldaten und Demonstranten gekommen, nachdem die Demonstranten den Abzug der Regierungstruppen und den Rücktritt des Provinzgouverneurs gefordert hätten, Ende Juli 2012 sei es zu heftigen Kämpfen in C. und Umgebung gekommen. Nach eigener Einlassung sei der Kläger aufgrund seiner Beteiligung an diesen Kämpfen vier oder fünf Mal vernommen worden. Er sei jedoch nach wenigen Stunden wieder freigelassen worden. Damit sei die Schwelle eines asylerheblichen Eingriffs nicht erreicht. Es sei auch nicht ersichtlich, dass für ihn bei einer Rückkehr die Gefahr besteht, Opfer staatlicher Verfolgung zu werden. Der Kläger habe keine näheren Angaben zu dem in Tadschikistan angeblich gegen ihn eingeleiteten Strafverfahren machen können. Weitere Bemühungen des Gemeindienstes während seines mehrjährigen Aufenthalts in der Russischen Föderation habe er nicht angegeben. Es bestehe offensichtlich kein gesteigertes Interesse der tadschikischen Behörden an der Person des Klägers mehr. Soweit der Kläger vortrage, dass er seinen tadschikischen Reisepass 2017 ohne persönliche Vorsprache bei der Botschaft erhalten habe, überzeuge dies nicht. Seit 2010 würden von Tadschikistan nur noch biometrische Reisepässe ausgestellt. Eine Beantragung über eine Bevollmächtigten sei seit 2006 nicht mehr möglich. Für die weiteren Einzelheiten wird auf den Bescheid vom 26. März 2021 Bezug genommen.
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II. Dagegen ließ der Kläger am 14. Mai 2021 Klage zum Verwaltungsgericht Würzburg erheben und beantragen,
„die Beklagte wird verpflichtet unter entsprechender Aufhebung des Bescheids des Bundesamtes für Migration vom 26. März 2021, Gesch.-Z. …, zugestellt am 4. Mai 2021, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 4 Halbsatz 1 AsylG zuzuerkennen, hilfsweise diesem den subsidiären Schutzstatus gem. § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG zuzuerkennen, hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG vorliegen.“
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Zur Begründung wird im Wesentlichen vorgetragen, dass der Kläger sich exilpolitisch betätigt habe und dadurch ins Visier der Sicherheitsbehörden geraten sei. Er habe sowohl im Mai 2022 in Berlin als auch am 28. November 2021 in Bonn an Demonstrationen gegen die tadschikische Regierung teilgenommen. Er sei auf den Bildern von den Demonstrationen erkennbar. Zudem sei der Kläger bereits vorverfolgt ausgereist. Zwischen der Anhörung beim Bundesamt und dem Erlass des verfahrensgegenständlichen Bescheides seien zudem weitere Vorfälle hinzugekommen. Aufgrund eines Kommentars des Klägers auf der F.-Seite der Regierung sei seine Mutter erneut aufgesucht worden. Es sei erneut nach dem Kläger gesucht worden. Der Kläger kommentiere zudem Artikel auf der F.-Seite von „P. D. N.“. Für die weiteren Einzelheiten wird auf die Schriftsätze vom 17. April 2023 und vom 7. Mai 2023 Bezug genommen.
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Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
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Zur Begründung bezieht sie sich auf die angefochtene Entscheidung.
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Der Rechtsstreit wurde mit Beschluss vom 15. März 2023 dem Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.
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Für die weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte, die beigezogenen Behördenakten des Bundesamtes und der Zentralen Ausländerbehörde Unterfranken sowie das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 8. Mai 2023 Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die Klage, über die trotz Ausbleibens eines Vertreters der Beklagten gem. § 102 Abs. 2 VwGO verhandelt und entschieden werden konnte, ist zulässig, jedoch unbegründet.
12
Der Bescheid des Bundesamtes vom 26. März 2021 ist im verfahrensgegenständlichen Umfang rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger hat zum gem. § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, des subsidiären Schutzstatus oder die Feststellung von Abschiebungshindernissen nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG.
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Das Gericht folgt der entsprechenden Begründung im Bescheid vom 26. März 2021 und verweist auf die dortigen Ausführungen, § 77 Abs. 2 AsylG. Ergänzend wird Folgendes ausgeführt:
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1. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG liegen nicht vor.
15
Gemäß § 3 Abs. 4 i.V.m. Abs. 1 AsylG besteht ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, wenn sich der Ausländer aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will und er keine Ausschlusstatbestände erfüllt. Gemäß § 3a AsylG gelten dabei Handlungen als Verfolgung, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholungsgefahr so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Europäische Menschenrechtskonvention – EMRK) keine Abweichungen zulässig ist (Nr. 1), oder die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2).
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Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts muss das Gericht auch in Asylstreitigkeiten die volle Überzeugung von der Wahrheit – und nicht etwa nur der Wahrscheinlichkeit – des vom Kläger behaupteten individuellen Schicksals erlangen. Aufgrund der häufig bestehenden Beweisschwierigkeiten des Asylbewerbers kann schon allein sein eigener Sachvortrag zur Asylanerkennung führen, sofern sich das Tatsachengericht unter Berücksichtigung aller Umstände von dessen Wahrheit überzeugen kann (BVerwG, B.v. 21.7.1989 – 9 B 239/89 – InfAuslR 1989, 349). Maßgeblich sind die Glaubhaftigkeit seiner Schilderung und die Glaubwürdigkeit seiner Person. Seinem persönlichen Vorbringen und dessen Würdigung ist daher eine gesteigerte Bedeutung beizumessen. Auch unter Berücksichtigung des Herkommens, Bildungsstands und Alters muss der Asylbewerber im Wesentlichen gleichbleibende möglichst detaillierte und konkrete Angaben zu den Umständen machen.
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Unter Zugrundelegung dieser Voraussetzungen hat der Kläger eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgungsgefahr nicht glaubhaft gemacht.
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1.1. Zwar hält das Gericht seine Einlassungen, er sei bei den gewaltsamen Auseinandersetzungen in der Stadt C. im Juli/August 2012 auf Seiten lokaler Demonstranten beteiligt gewesen, grundsätzlich für glaubwürdig. Dem steht zur Überzeugung des Gerichts nicht entgegen, dass er den Anschlag auf General Nazarov und damit den Beginn der Auseinandersetzungen in der mündlichen Verhandlung mit „21. Juni 2012“ statt „21. Juli 2012“ angab. Es dürfte sich dabei um eine bloße Verwechselung der Monate handeln, die nach mehr als zehn Jahren nicht als Indiz dagegenspricht, dass der Kläger tatsächlich selbst Erlebtes widergibt.
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Das Gericht geht jedoch davon aus, dass es sich um eine völlig untergeordnete Beteiligung gehandelt hatte, die nicht dazu führte, dass der Kläger als Person nachhaltig ins Visier des tadschikischen Geheimdienstes geraten ist. Soweit er in der mündlichen Verhandlung vortrug, dass der tadschikische Geheimdienst im Besitz eines Fotos sei, auf dem der Kläger bei den damaligen Straßenkämpfen mit einer Waffe abgebildet sei, bewertet das Gericht dies ebenso als rein asyltaktisch motiviert wie die Einlassung, seine Eltern hätten von Bekannten bei der örtlichen Polizei den Tipp bekommen, dass der Kläger Tadschikistan verlassen solle, weil ein Strafverfahren gegen ihn eingeleitet worden sei. Beide Behauptungen wurden erstmals in der mündlichen Verhandlung erhoben und zielten sichtlich darauf ab, bestehende Lücken in der bisher vorgetragenen Geschichte zu füllen. Schon angesichts der Anhörungsdauer von über zwei Stunden (mit einer halbstündigen Pause) beim Bundesamt am 5. November 2019 und der detaillierten Nachfragen in der damaligen Anhörung hält es das Gericht für ausgeschlossen, dass der Kläger es damals versehentlich unterlassen haben könnte, das Foto oder den Tipp aus den Reihen der örtlichen Polizei zu erwähnen. Auch soweit er vorträgt, der tadschikische Geheimdienst habe sich nach 2013 deshalb nicht mehr bei seinen Eltern gemeldet, weil bekannt gewesen sei, dass er in Russland sei, und es zu diesem Zeitpunkt kein Auslieferungsabkommen zwischen Russland und Tadschikistan gegeben habe, steht dies in offensichtlichem Widerspruch dazu, dass gerade im Jahr 2014 zahlreiche politische Oppositionelle, darunter Mitglieder der Gruppe 24, von Russland an Tadschikistan ausgeliefert wurden (vgl. BFA, Länderinformationsblatt v. 8.8.22, S. 20f.). Mithin bewertet das Gericht auch diese Einlassung als „kreativen“ Versuch des Klägers, seiner behaupteten aktuellen Verfolgungsgefahr Glaubwürdigkeit und Gewicht zu verleihen. So hatte er beim Bundesamt noch angegeben, dass es in Russland nicht einfach für ihn gewesen sei und er deshalb nach Deutschland gekommen sei. In der mündlichen Verhandlung erklärte er hingegen, er habe Russland im Oktober 2019 verlassen müssen, weil es im Januar bzw. Februar 2020 doch zu einem Auslieferungsabkommen zwischen Russland und Tadschikistan gekommen sei. Hatte er sich bei der Bundesamtsanhörung noch dahingehend eingelassen, dass er nicht wisse, ob es Dokumente zu dem von ihm behaupteten Strafprozess gegen ihn gebe, steigerte er seinen Vortrag in der mündlichen Verhandlung dahingehend, dass es in Tadschikistan nicht üblich sei, etwas Schriftliches auszuhändigen, weil die Regierung nicht wolle, dass die Leute etwas in der Hand hätten, um es als Beweismittel mit nach Europa zu nehmen. Hinzu kommen Abweichungen in der Schilderung der Abläufe nach Beendigung der Unruhen bzw. Abgabe der Waffen. So trug er beim Bundesamt vor, sie hätten zunächst ihr normales Leben wiederaufgenommen und er habe im Wohnheim gewohnt, eines Tages sei er aus dem Wohnheim raus und auf der Straße angehalten und erstmals zum Verhör mitgenommen worden. Eine Woche später habe sich die gleiche Situation wiederholt. Er habe nicht nach Hause reisen können, weil die ganze Infrastruktur zusammengebrochen sei. Er sei noch 1,5 Monate im Wohnheim geblieben. Dann sei er in sein Heimatdorf geflohen. Dort habe der KGB ihn nach einer Woche abgeholt und wieder zum Verhör nach C. gebracht. Danach sei er mit Hilfe des Taxisfahrers ausgereist. Demgegenüber schilderte er in der mündlichen Verhandlung, dass er zunächst zu seiner Mutter nach Hause gefahren sei und ein KGB- oder FSB-Vertreter nach zwei Wochen dort zu ihnen nach Hause gekommen sei und ihn erstmalig zum Verhör nach C. mitgenommen habe. Nach der Freilassung sei er ins Studentenwohnheim gegangen. Nach drei Tagen sei er von dort aus wieder mitgenommen und verhört worden. Dies habe sich vier Mal wiederholt. Es sei ihm verboten worden, die Stadt zu verlassen. Er sei dann zu seinen Eltern gegangen. Diese hätten ihm geraten, Tadschikistan zu verlassen. Dann sei er mit dem befreundeten Taxisfahrer von seinen Eltern aus außer Landes gefahren. Mithin weist sein Vortrag in der mündlichen Verhandlung zum chronologischen Ablauf insbesondere zum Aufenthalt in seinem Heimatdorf wesentlich von den Angaben beim Bundesamt ab. Da es insbesondere auch die Frage betrifft, von welchem Ort aus der Kläger erstmals zum Verhör mitgenommen wurde, handelt es sich zur Überzeugung des Gerichts bei den Abweichungen nicht lediglich um Ungenauigkeiten, die dem langen Zeitraum seit dem Erleben geschuldet sind.
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Selbst wenn der Kläger im Nachgang zu den Unruhen in C. im Juli/August 2012 tatsächlich informatorisch vom KGB befragt worden sein sollte, konnte das Gericht angesichts der aufgezeigten Widersprüche und Steigerung jedenfalls nicht zu der Überzeugung gelangen, dass dabei die Schwelle zu einer tatsächlichen individuellen Verfolgung gegenüber dem Kläger überschritten wurde. Der Kläger ist mithin nicht vorverfolgt ausgereist.
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1.2. Das Gericht konnte auch nicht zu der Überzeugung gelangen, dass dem Kläger bei einer Rückkehr nach Tadschikistan – unabhängig von einer Vorverfolgung – Verfolgung droht.
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Für die vom Kläger aus der Beteiligung an den Unruhen von C. im Juli/August 2012 geltend gemachte Verfolgungsgefahr, spricht schon die Tatsache, dass dem Kläger 2017 durch die tadschikische Botschaft in M. ein neuer Reisepass ausgestellt wurde. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird diesbezüglich auf die Ausführungen des Bundesamtes im verfahrensgegenständlichen Bescheid Bezug genommen.
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Auch soweit der Kläger vorträgt, aufgrund seiner Teilnahme an zwei bzw. drei Demonstrationen in Berlin und Bonn in den Jahren 2021 und 2022 und dem Verfassen eines Posts auf der offiziellen Website der Autonomen Region Berg Badachschan im September 2020 nunmehr aufgrund exilpolitischer Tätigkeit Verfolgung in Tadschikistan befürchten zu müssen, vermochte dies das Gericht nicht zu überzeugen.
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Dabei geht das Gericht davon aus, dass der Kläger am 28. November 2021 in Bonn und am 2. Mai 2022 in Berlin tatsächlich jeweils an einer Demonstration teilgenommen hat, die sich kritisch mit der Menschenrechtslage in der autonomen Provinz Berg Badachschan auseinandersetzte. Auf die im gerichtlichen Verfahren vorgelegten Lichtbilder wird Bezug genommen. Das Gericht geht weiterhin davon aus, dass von der Demonstration am 2. Mai 2022 in Berlin ein Foto auf der F.-Seite von „P. D. N.“ eingestellt ist, auf dem der Kläger als Demonstrant zu erkennen ist. Das Gericht unterstellt ferner, dass auch von der Demonstration am 28. November 2021 ein entsprechendes Bild auf dem I.-Account von „P. D. N.“ veröffentlicht ist, auf dem der Kläger ebenfalls als Demonstrant zu identifizieren ist.
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Keine Überzeugung konnte das Gericht hingegen von der Behauptung gewinnen, dass der Kläger jemals auf der F.-Seite von „P. D. N.“ der tadschikischen Regierung gegenüber kritische Kommentare oder Artikel verfasste, oder dass er im September 2020 einen kritischen Kommentar auf der offiziellen F. der autonomen Region Berg Badachschan veröffentlichte. Hinsichtlich der schriftsätzlich behaupteten Verfassung von Artikeln und Kommentaren bei „P. D. N.“ widerholte der Kläger diesen Vortrag trotz ausdrücklicher Befragung zu seinem exilpolitischen Engagement in der mündlichen Verhandlung nicht, sondern führte lediglich aus, dass Fotos der Demonstrationen, an denen er teilgenommen habe, bei P. D. N. auf der F.- bzw. I.-Seite veröffentlicht seien. Dabei war ihm einerseits die asylrechtliche Bedeutung seines Vortrags sichtlich bewusst, andererseits wirkte er auf das Gericht reflektiert und in der Lage, umfassend zu seinem entsprechenden Engagement Stellung zu nehmen, so dass das Gericht eine versehentliche Nichterwähnung des Verfassens von regimekritischen Kommentaren und Artikeln ausschließt.
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Soweit der Kläger sich in der mündlichen Verhandlung dahingehend einließ, dass er im September 2020 einen regierungskritischen Kommentar auf der offiziellen Webseite der Autonomen Region Berg Badachschan verfasst habe, der innerhalb von zwei Stunden mit 64 „Likes“ versehen und im weiteren Verlauf gelöscht worden sei, vermochte dieser Vortrag das Gericht nicht zu überzeugen. So ist schon unwahrscheinlich, dass der Kläger, dem ausweislich seines eigenen Vortrags bei der Bundesamtsanhörung vom 5. November 2019 die Asylrelevanz von oppositionellem Handeln gegenüber der tadschikischen Regierung bewusst war, nicht daran gedacht haben will, einen Screenshot seines kritischen Kommentares anzufertigen, obwohl er ihm doch offensichtlich so viel Bedeutung beimaß, dass er die Anzahl der „Likes“ nach zwei Stunden kontrollierte. Würde man seinem Vortrag folgen, wäre es zudem spätestens nach dem erneuten Besuch des KGB bei seiner Mutter im September bzw. Oktober 2020 naheliegend gewesen, das Bundesamt von dieser aktuellen Bedrohung zu informieren, zumal ein auf den Kläger bezogenes Dublin-Verfahren mit Bescheid vom 30 Juli 2020 in das nationale Verfahren überführt worden und ein Asylbescheid in der Sache zum Zeitpunkt der behaupteten erneuten Bedrohung durch den KGB noch nicht erlassen worden war. Da dies ebenfalls nicht geschehen ist, konnte der Vortrag des Klägers zum Verfassen eines regierungskritischen Kommentars trotz der sinngemäßen Widergabe des vermeintlich Geschriebenen nicht überzeugen.
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Auf dieser Tatsachengrundlage kommt das Gericht nicht zu der Überzeugung, dass dem Kläger bei einer Wiedereinreise nach Tadschikistan tatsächlich flüchtlingsschutzrechtlich erhebliche Verfolgung droht.
28
Dabei verkennt das Gericht nicht, dass die tadschikischen Sicherheitsdienste die Aktivitäten von Exiloppositionellen und Regierungskritikern genau beobachten und regelmäßig Druck auf deren Verwandte in Tadschikistan ausüben, damit diese auf ihre Verwandte einwirken, ihre politischen Aktivitäten im Ausland einzustellen (vgl. AA, Lagebericht v. 14.3.22, S. 13). Neben exilpolitisch aktiven Mitgliedern der Gruppe 24 und der Partei der Islamischen Wiedergeburt Tadschikistans (PIWT) haben nach Angaben des Auswärtigen Amtes (a.a..O.) auch sonstige prominente Kritiker bei einer Rückkehr nach Tadschikistan mit massiven staatlichen Repressionen zu rechnen. Den in das Verfahren einbezogenen Erkenntnismitteln, einschließlich der seitens des Klägers vorgelegten Quellen, ist jedoch nicht zu entnehmen, dass bereits jede, auch noch so punktuell geäußerte Kritik und jede auch nur untergeordnete exilpolitische Betätigung – wie die Teilnahme an zwei Demonstrationen – schon eine solche Verfolgungsgefahr begründen würde.
29
Soweit das US Department of State in seinem Jahresbericht zur Lage der Menschenrechte in Tadschikistan auf die Brüder O. und R. V. eingeht, die am 29. Juli 2022 erst von einem Moskauer Flughafen verschwanden und dann in Untersuchungshaft in D. auftauchten, handelt es sich dabei um öffentlich auftretende Führungspersönlichkeiten der pamirischen Diaspora in Russland, die für ihre oppositionelle Haltung der tadschikischen Regierung gegenüber bekannt waren (vgl. US DOS, Human Rights Report, S. 8.). Auch die dort weiterhin namentlich benannten Opfer staatlicher Bedrohung, Einschüchterung, Überwachung und Gewalt waren bzw. sind bekannte Aktivisten, deren politisches Engagement weit über die vereinzelte Teilnahme an Demonstrationen hinausgeht und die als Blogger, Journalisten oder Menschenrechtsaktivisten eine herausgehobene Rolle aus Multiplikatoren und Führungsfiguren für die exilpolitische Szene innehatten bzw. -haben.
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Soweit der Kläger unter Verweis auf die Verhaftung von A. S. vortragen ließ, dass im gegen diesen in Tadschikistan nach seiner Abschiebung geführten Prozess lediglich Fotos auf seinem Mobiltelefon und sogenannte „Likes“ herangezogen worden seien und bei seiner Verurteilung die Teilnahme an einer Protestveranstaltung sowie einiges „Likes“ zur Kommentierung von Social-Media-Beiträgen eine wichtige Rolle gespielt hätten, ist dem zu entgegnen, dass dessen Verfolgung auch ausweislich des vom Kläger selbst vorgelegten Urgent Action von Amnesty International auf seiner mutmaßlichen Mitgliedschaft in der Partei der Islamischen Wiedergeburt Tadschikistans und seiner familiären Beziehung zu einem führenden Mitglied dieser Partei beruht. Seine Situation ist mithin gerade nicht mit der des Klägers vergleichbar, so dass er aus dessen Verfolgungsschicksal keine eigene Verfolgungsgefahr ableiten kann.
31
Der Kläger, dessen bisheriges exilpolitisches Engagement sich zur Überzeugung des Gerichts in der bloßen Teilnahme an zwei Demonstrationen in den Jahren 2021 und 2022 erschöpft, ist damit auch dann kein „prominenter“ Kritiker i.S. des Lageberichts des Auswärtigen Amtes, wenn man unterstellen würde, dass der tadschikische Geheimdienst ihn auf den bei P. D. N. veröffentlichten Bildern der beiden Demonstrationen als Person erkennen und zuordnen kann. Denn eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgungsgefahr ist den in das Verfahren einbezogenen Erkenntnismittel bei einer so untergeordneten exilpolitischen Betätigung gerade nicht zu entnehmen.
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Der Kläger hat mithin keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
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2. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf die hilfsweise beantragte Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG.
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Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Subsidiären Schutz kann nur beanspruchen, wem mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt nach § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3).
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Die Einzelrichterin ist davon überzeugt, dass dem Kläger kein ernsthafter Schaden in diesem Sinne droht. Hierzu wird auf die obigen Ausführungen sowie die entsprechenden Ausführungen im streitgegenständlichen Bescheid Bezug genommen (§ 77 Abs. 2 AsylG).
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3. Dem Kläger steht schließlich auch kein nationales Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 und § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu. Auch insoweit wird auf die entsprechenden Ausführungen im Bescheid Bezug genommen (§ 77 Abs. 2 AsylG). Anhaltspunkte für das Vorliegen eines nationalen Abschiebungsverbotes wurden im gerichtlichen Verfahren weder vorgetragen, noch sind sie sonst ersichtlich geworden.
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4. Letztlich bestehen auch an der Rechtmäßigkeit der Ausreiseaufforderung und der auf § 34 Abs. 1 Satz 1 AsylG i.V.m. § 59 Abs. 1 und 2 AufenthG beruhenden Abschiebungsandrohung nach Tadschikistan keine Bedenken. Dies gilt auch im Hinblick auf die Anordnung und Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung. Ermessensfehler (§ 114 Satz 1 VwGO) sind weder ersichtlich, noch vorgetragen.
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5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).