Inhalt

VG Augsburg, Urteil v. 20.06.2023 – Au 9 K 22.30940
Titel:

Irak, Familie aus Erbil, Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (verneint), keine Anknüpfung an asylrechtlich relevantes Merkmal ersichtlich, subsidiärer Schutz (verneint), unglaubwürdiger Sachvortrag, Abschiebungsverbot (bejaht), Haushaltsvorstand schwerwiegend erkrankt, mehrere Kleinkinder vorhanden

Normenketten:
VwGO § 113 Abs. 5 S. 1
AsylG § 3
AsylG § 4
AufenthG § 60 Abs. 5
EMRK Art. 3
Schlagworte:
Irak, Familie aus Erbil, Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (verneint), keine Anknüpfung an asylrechtlich relevantes Merkmal ersichtlich, subsidiärer Schutz (verneint), unglaubwürdiger Sachvortrag, Abschiebungsverbot (bejaht), Haushaltsvorstand schwerwiegend erkrankt, mehrere Kleinkinder vorhanden
Fundstelle:
BeckRS 2023, 16842

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 25. August 2023 wird in Nrn. 4 bis 6 aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet, festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Irak vorliegen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Von den Kosten des Verfahrens tragen die Kläger 2/3 und die Beklagte 1/3. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

1
Die Kläger begehren mit ihrer Klage die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, die Gewährung subsidiären Schutzes bzw. hilfsweise die Feststellung von nationalen Abschiebungsverboten in den Irak bzw. einen anderen aufnahmebereiten Staat.
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Der am ... 1984 in ... (Irak) geborene Kläger zu 1), die am ... 1989 in ... (Irak) geborene Klägerin zu 2), der am ... 2015 in ... (Irak) geborene Kläger zu 3), der am ... 2017 in ... (Irak) geborene Kläger zu 4) und der am ... 2019 in ... (Irak) geborene Kläger zu 5) sind sämtlich irakische Staatsangehörige mit kurdischer Volkszugehörigkeit und muslimisch-sunnitischem Glauben.
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Ihren Angaben zufolge reisten die Kläger am 15. Oktober 2021 erstmalig auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein, wo sie unter dem 21. Dezember 2021 Asylerstanträge stellten. Eine Beschränkung der Asylanträge gemäß § 13 Abs. 2 Asylgesetz (AsylG) auf die Zuerkennung internationalen Schutzes (Flüchtlingseigenschaft und subsidiärer Schutz) erfolgte im Verfahren nicht.
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Die persönliche Anhörung der Kläger zu 1) und 2) beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) erfolgte am 3. Juni 2022. Die Kläger zu 1) und 2) trugen hierbei im Wesentlichen vor, der Kläger zu 1) habe aus dem P.-Ministerium die Akte seines Bruders gestohlen, der vom Dienst bei den P.-Truppen desertiert und anschließend per Haftbefehl gesucht worden sei. Daraufhin sei auch der Kläger zu 1) polizeilich gesucht worden. Der Kläger zu 1) trug weiter vor, am 9. September 2021 sei er mit seiner Frau und seinen Kindern auf dem Bazar gewesen, weil die Familie Kleidung für eine Reise in die Türkei habe kaufen wollen. In der Türkei habe der Kläger zu 1) beabsichtigt, sein Herz kontrollieren zu lassen nach einer vorangegangenen Operation. Seit dem Diebstahl der Akte seien damals zwei Monate vergangen gewesen. Auf dem Bazar habe der Kläger zu 1) einen Anruf von seinem Freund beim Ministerium erhalten. Dieser habe ihn gewarnt, aufzupassen. Gegen den Kollegen, der am Tag des Besuchs im Ministerium mitanwesend gewesen sei, werde bereits ermittelt, weil die Akte bei ihm entwendet worden sei. Eventuell sei der Diebstahl bekanntgeworden. Am 12. September 2021 gegen 10.00 Uhr morgens habe die Aushilfskraft aus dem Autoteileladen des Klägers zu 1) angerufen. Es sei von Polizisten nach dem Kläger zu 1) gefragt worden. Zwei Polizeiautos seien vor Ort gewesen. Später am gleichen Tag habe noch sein Nachbar angerufen. Dieser habe das Gleiche ausgesagt wie der Mitarbeiter. Zwei Polizeiautos seien in den Hof gekommen. Der Bruder des Klägers zu 1) habe dann eine Ausreise über Belarus organisiert. Am 16. September 2021 sei die Familie mit dem Bus nach Bagdad gefahren. Der Kläger zu 1) führte weiter aus, dass er noch im Besitz eines Hauses in E. sei. Im Irak habe er ein Geschäft für Autoteile betrieben. Die wirtschaftliche Situation der Familie sei durchschnittlich gewesen. Im Irak gebe es noch die Eltern sowie Geschwister der Kläger zu 1) und 2) sowie die Großfamilie. Weiter trug der Kläger zu 1) vor, er leide an Depression und Bluthochdruck. Zudem sei er in der Türkei am Herzen operiert worden.
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Für das weitere Vorbringen der Kläger zu 1) und 2) wird auf die vom Bundesamt über die persönliche Anhörung gefertigte Niederschrift verwiesen.
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Mit Bescheid des Bundesamts vom 25. August 2022 (Gz.: ...) wurden die Anträge der Kläger auf Asylanerkennung bzw. auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft abgelehnt (Nrn. 1 und 2 des Bescheids). Nr. 3 des Bescheids bestimmt weiter, dass den Klägern auch der subsidiäre Schutzstatus nicht zuerkannt wird. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) liegen nicht vor (Nr. 4). In Nr. 5 des Bescheids werden die Kläger aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen. Für den Fall der nicht fristgerechten Folgeleistung wurde den Klägern die Abschiebung in den Irak bzw. einen anderen aufnahmebereiten Staat angedroht. Nr. 6 des Bescheids ordnet das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG an und befristet es auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung.
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Zur Begründung seiner Entscheidung führt das Bundesamt u.a. aus, dass bei den Klägern die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und die Anerkennung als Asylberechtigte nicht vorlägen. Bei den Klägern handle es sich nicht um Flüchtlinge im Sinne des § 3 AsylG. Aus dem Vortrag des Klägers zu 1) sei bereits kein Anknüpfungsmerkmal gemäß § 3b AsylG erkennbar. Bei einer möglichen polizeilichen Verfolgung handle es sich allenfalls um eine Strafverfolgung nach dem unerlaubten Entwenden einer Akte aus staatlichem Besitz. Auch die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus lägen nicht vor. Eine Schutzgewährung gemäß § 4 Abs. 1 Nr. 1, 2 scheide aus. Auch sei der Sachvortrag der Kläger zu 1) und 2) als unglaubhaft zu bewerten. Auch eine Schutzgewährung gemäß § 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG scheide aus. In der Herkunftsprovinz der Antragsteller (E.) liege kein bewaffneter Konflikt vor. Abschiebungsverbote seinen ebenfalls nicht gegeben. Eine Abschiebung sei gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG unzulässig, wenn sich dies aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) ergebe. Die Abschiebung trotz schlechter humanitärer Verhältnisse könne nur in sehr außergewöhnlichen Einzelfällen als unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu bewerten sein und die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK erfüllen. Die derzeitigen humanitären Bedingungen im Irak führten nicht zu der Annahme, dass bei einer Abschiebung der Kläger eine Verletzung des Art. 3 EMRK vorliege. Die hierfür vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) geforderten hohen Anforderungen an den Gefahrenmaßstab seien nicht erfüllt. Die Familien der Kläger befänden sich noch im Irak und auch das Haus in, das die Kläger vor der Ausreise bewohnt hätten, befinde sich noch in ihrem Besitz. Vor der Ausreise habe der Kläger zu 1) ein eigenes Geschäft für Autoteile betrieben. Auch unter Berücksichtigung der individuellen Umstände der Kläger sei die Wahrscheinlichkeit einer Verletzung des Art. 3 EMRK durch eine Abschiebung nicht beachtlich. Die Kläger verfügten im Irak über ein tragfähiges familiäres Netzwerk und besäßen dort noch ein Haus. Es sei durchaus anzunehmen, dass es dem Kläger zu 1) nach Rückkehr auch wieder möglich wäre, ein eigenes Geschäft zu betreiben. Individuelle gefahrerhöhende Umstände seien nicht erkennbar. Auch die Verletzung anderer Menschenrechte oder Grundfreiheiten der EMRK komme nicht in Betracht. Es drohe den Klägern auch keine individuelle Gefahr für Leib oder Leben, die zur Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 AufenthG führe. Was die Depression des Klägers zu 1) angehe, so genüge das vorgelegte Attest nicht den Anforderungen an eine qualifizierte fachärztliche Bescheinigung nach § 60a Abs. 2c AufenthG. Zum anderen gebe es im Irak Möglichkeiten zur ärztlichen Behandlung von Depressionen. Zudem stünden medizinische Behandlungen allen Staatsangehörigen des Iraks kostenlos zur Verfügung. Die Abschiebungsandrohung sei gemäß § 34 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG zu erlassen. Die Ausreisefrist von 30 Tagen ergebe sich aus § 38 Abs. 1 AsylG. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot werde gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG angeordnet und nach § 11 Abs. 2 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet. Diese Befristung sei vorliegend auch angemessen. Die Kläger verfügten im Bundesgebiet über keine wesentlichen Bindungen, die im Rahmen der Ermessensprüfung zu berücksichtigen gewesen seien.
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Auf den weiteren Inhalt des Bescheids des Bundesamts vom 25. August 2022 wird ergänzend verwiesen.
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Der vorbezeichnete Bescheid wurde den Klägern mit Postzustellungsurkunde am 30. August 2022 bekanntgegeben.
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Die Kläger haben gegen den vorbezeichneten Bescheid mit Schriftsatz vom 8. September 2022 Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht Augsburg erhoben und beantragen,
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1. Die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 25. August 2022, Gz.:, zu verpflichten, den Klägern die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen (§ 3 Abs. 4 AsylG);
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2. hilfsweise den Klägern den subsidiären Schutzstatus (§ 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG) zuzuerkennen;
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3. hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG im Hinblick auf den Irak vorliegen.
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Mit Schriftsatz vom 7. Juni 2023 ist zur Begründung der Klage vorgetragen, dass die zulässige Klage begründet sei. Der streitgegenständliche Bescheid des Bundesamts sei rechtswidrig und verletze die Kläger in ihren Rechten. Bei einer Rückkehr in den Irak befürchte der Kläger zu 1), dass dieser unmittelbar bei der Einreise von kurdischen Sicherheitskräften festgenommen werde. Der Kläger zu 1) werde im Irak polizeilich gesucht, weil er die Akte seines in Deutschland lebenden Bruders aus dem P.-Ministerium entwendet habe. Damit habe der Kläger zu 1) zumindest einen Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus. Die drohende Inhaftierung des Klägers zu 1) stelle eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung i.S.d. Art. 3 EMRK, mithin einen ernsthaften Schaden i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Alt. 2 AsylG dar. Dem Kläger zu 1) drohe bei einer Rückkehr in den Irak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe. Diese ergebe sich bereits aus den allgemeinen Haftbedingungen, welche im Irak – auch in den kurdischen Autonomiegebieten – vorherrschten. Es spreche viel dafür, dass der Kläger zu 1) direkt bei oder kurz nach der Einreise aufgrund des Entwendens der Akte seines Bruders festgenommen, verurteilt und inhaftiert werden würde. Erschwerend komme beim Kläger zu 1) hinzu, dass dieser aufgrund seiner schlechten gesundheitlichen Verfassung zu einer besonders vulnerablen Personengruppe gehöre. Der Kläger leide an einer schweren depressiven Episode mit psychotischen Symptomen, einem Herzklappenfehler, arterieller Hypertonie sowie einer Aortenstenose. Der Kläger zu 1) sei auf die ständige Einnahme diverser Medikamente dringend angewiesen. Weiter sei zu berücksichtigen, dass der Kläger zu 1) den Irak vorverfolgt verlassen habe. Stichhaltige Gründe, die vorliegend gegen eine erneute Verfolgung des Klägers zu 1) sprächen, seien nicht ersichtlich. Da dem Kläger zu 1) der Schaden von staatlicher Seite drohe, könne dieser auch nicht auf die Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Schutzalternative verwiesen werden, weshalb ihm zumindest der subsidiäre Schutzstatus zuzuerkennen sei.
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Auf die weiteren Ausführungen im Klagebegründungsschriftsatz vom 7. Juni 2023 und der vorgelegten ärztlichen Untersuchungsberichte wird Bezug genommen.
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Das Bundesamt ist für die Beklagte der Klage mit Schriftsatz vom 13. September 2022 entgegengetreten und beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Zur Begründung wurde auf die mit der Klage angegriffene Entscheidung Bezug genommen.
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Mit Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichts Augsburg vom 21. Oktober 2022 wurde der Rechtsstreit dem Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.
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Mit Schreiben vom 17. April 2023 wies der Kläger zu 1) auf den bei ihm vorliegenden Grad der Behinderung (GdB) von 40 hin.
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Am 19. Juni 2023 fand die mündliche Verhandlung statt. Für den Hergang der Sitzung, in der die Kläger zu 1) und 2) informatorisch angehört wurden, wird auf das hierüber gefertigte Protokoll verwiesen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte, die von der Beklagten vorgelegte Verfahrensakte und die vom Gericht beigezogene Akte des Bruders des Klägers zu 1) Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Der Einzelrichter (§ 76 Abs. 1 AsylG) konnte über die Klage der Kläger verhandeln und entscheiden, ohne dass die Beklagte an der mündlichen Verhandlung vom 19. Juni 2023 teilgenommen hat. Auf den Umstand, dass beim Ausbleiben eines Beteiligten auch ohne ihn verhandelt und entschieden werden kann, wurden die Beteiligten ausweislich der Ladung ausdrücklich hingewiesen (§ 102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO). Die Beklagte ist zur mündlichen Verhandlung vom 19. Juni 2023 form- und fristgerecht geladen worden.
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Die zulässige Klage hat teilweise Erfolg. Der mit der Klage angegriffene Bescheid des Bundesamts vom 25. August 2022 (Gz.: ...) ist nach der maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung in Nrn. 4 bis 6 insoweit rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten, als diese einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich des Irak haben, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO. Soweit mit der Klage darüber hinausgehend die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ 3 AsylG) bzw. die Gewährung subsidiären Schutzes (§ 4 AsylG) begehrt wird, bleibt die Klage hingegen ohne Erfolg und war insoweit kostenpflichtig abzuweisen.
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1. Soweit die Kläger mit ihrer Klage die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§§ 3, 3b AsylG) begehren, erweist sich ihre Klage zwar als zulässig, aber unbegründet. Selbst bei Wahrunterstellung des Sachvortrags insbesondere des Klägers zu 1) besitzen die Kläger keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach §§ 3 ff. AsylG.
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Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560 – Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet. Eine solche Verfolgung kann nicht nur vom Staat ausgehen (§ 3c Nr. 1 AsylG), sondern auch von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (§ 3c Nr. 2 AsylG) oder nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in Nrn. 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (§ 3c Nr. 3 AsylG). Allerdings wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (§ 3e Abs. 1 AsylG).
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Die Tatsache, dass der Ausländer bereits verfolgt oder von Verfolgung unmittelbar bedroht war, ist dabei ein ernsthafter Hinweis darauf, dass seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, wenn nicht stichhaltige Gründe dagegensprechen, dass er neuerlich von derartiger Verfolgung bedroht ist. Hat der Asylbewerber seine Heimat jedoch unverfolgt verlassen, kann sein Asylantrag nur Erfolg haben, wenn ihm aufgrund von Nachfluchttatbeständen eine Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht. Dabei ist es Sache des Ausländers, die Gründe für eine Verfolgung in schlüssiger Form vorzutragen. Er hat unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei Wahrunterstellung ergibt, dass bei verständiger Würdigung seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, sodass ihm nicht zuzumuten ist, im Herkunftsland zu verbleiben oder dorthin zurückzukehren. Dabei genügt für diesen Tatsachenvortrag auf Grund der typischerweise schwierigen Beweislage in der Regel eine Glaubhaftmachung. Voraussetzung für ein glaubhaftes Vorbringen ist allerdings ein detaillierter und in sich schlüssiger Vortrag ohne wesentliche Widersprüche und Steigerungen.
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Wer bereits Verfolgung erlitten hat, für den streitet die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei der Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Als vorverfolgt gilt ein Schutzsuchender dann, wenn er aus einer durch eine eingetretene oder unmittelbar bevorstehende politische Verfolgung hervorgerufenen ausweglosen Lage geflohen ist. Die Ausreise muss das objektive äußere Erscheinungsbild einer unter dem Druck dieser Verfolgung stattfindenden Flucht aufweisen. Das auf dem Zufluchtsgedanken beruhende Asyl- und Flüchtlingsrecht setzt daher grundsätzlich einen nahen zeitlichen (Kausal-)Zusammenhang zwischen der Verfolgung und der Ausreise voraus (vgl. BVerfG, B.v. 12.2.2008 – 2 BvR 2141/06 – juris Rn. 20; VG Köln, U.v. 26.2.2014 – 23 K 5187/11.A – juris Rn. 26).
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In Anwendung dieser rechtlichen Vorgaben ist den Klägern die Flüchtlingseigenschaft nicht zuzuerkennen. Die Kläger und hierbei insbesondere der Kläger zu 1) sind keine Flüchtlinge i.S.v. § 3 AsylG.
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Selbst wenn man dem Sachvortrag des Klägers zu 1) bei seiner persönlichen Anhörung beim Bundesamt am 3. Juni 2022 und in der mündlichen Verhandlung vom 19. Juni 2023 Glauben schenkt, befürchtet der Kläger zu 1) bei einer Rückkehr in sein Heimatland lediglich eine ihm drohende Strafverfolgung wegen des Diebstahls einer Akte aus dem P.-Ministerium. Dieser Vortrag knüpft bei Wahrunterstellung bereits nicht an ein flüchtlingsrelevantes Merkmal i.S.d. §§ 3, 3b AsylG an. Der Kläger zu 1) hat gerade keine Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) geltend bzw. glaubhaft gemacht. Aus diesen Gründen scheidet eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft an die Kläger aufgrund von deren individuell-persönlichem Sachvortrag bereits begrifflich aus.
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Den Klägern ist auch nicht infolge der allgemeinen Lage für Sunniten die Flüchtlingseigenschaft einzuräumen (vgl. § 3b Abs. 1 Nr. 1 AsylG). Es trifft zwar zu, dass Sunniten immer wieder wegen ihrer Glaubensrichtung stigmatisiert werden (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, 28.10.2022, S. 16). Die dokumentierten Vorfälle von Übergriffen gegenüber Sunniten (insbesondere durch schiitische Milizen) weiten sich aber im Irak nicht derart aus, dass daraus für jeden sunnitischen Araber die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht (vgl. VG Berlin, U.v. 17.11.2021 – 25 K 634.17 A – juris), vielmehr bleibt es bei „vereinzelten“ Vorfällen (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, 28.10.2022, S. 16). Der Umfang der Eingriffshandlungen in asylrechtlich geschützte Rechtsgüter, die alleine an die sunnitische Religionszugehörigkeit anknüpfen, rechtfertigt insbesondere in Relation zu der Größe dieser Gruppe nicht die Annahme einer alle Mitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung. Ein flächendeckendes Vorgehen gegen arabische Sunniten – welche 17 bis 22 Prozent der irakischen Bevölkerung ausmachen (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, 28.10.2022, S. 6) – ist nicht erkennbar (vgl. BayVGH, B.v. 29.4.2020 – 5 ZB 20.30994 – juris Rn. 3 ff.). Die Verfolgungshandlungen, denen die sunnitische Bevölkerungsgruppe – alleine wegen der sunnitischen Religionszugehörigkeit – im Irak ausgesetzt ist, weisen mithin die für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderliche kritische Verfolgungsdichte nicht auf (vgl. NdsOVG, B.v. 5.11.2020 – 9 LA 107/20 – juris Rn. 9 ff.).
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Nach allem besitzen die Kläger keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft i.S.d. §§ 3 ff. AsylG. Die insoweit im mit der Klage angegriffenen Bescheid erfolgte Ablehnung in Nr. 1 ist rechtmäßig und nicht geeignet, die Kläger in ihren Rechten zu verletzen.
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2. Die Kläger haben aber auch keinen Anspruch auf die Zuerkennung eines subsidiären Schutzstatus i.S.v. § 4 AsylG. Ein solcher kommt insbesondere nicht im Hinblick auf die schlechte humanitäre Lage der Kläger bei einer Rückkehr in ihre Herkunftsregion in Betracht. Insoweit fehlt es jedenfalls an einer Zurechnung der den Klägern drohenden Gefahren zu einem Verfolgungsakteur i.S.v. § 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3c AsylG.
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Für eine mögliche Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe gegen den Kläger zu 1) bestehen keine hinreichenden Anhaltspunkte und hat der Kläger zu 1) auch nichts dargetan (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG).
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Das Gericht erachtet beim Kläger zu 1) auch die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG nicht für gegeben. Danach gilt als ernsthafter Schaden i.S.v. § 4 AsylG eine im Heimatland drohende Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung. Soweit die Rückkehrfurcht des Klägers zu 1) auf einer ihm angeblich drohenden Haftstrafe wegen Diebstahls der Akte seines Bruders aus dem P.-Ministerium und der nach einer Verurteilung ihn erwartenden Haftbedingungen beruht, ist das Gericht der Überzeugung (§ 108 Abs. 1 VwGO), dass der vom Kläger zu 1) beim Bundesamt und in der mündlichen Verhandlung beim Verwaltungsgericht geschilderte Diebstahl der Akte nicht der Wahrheit entspricht. Den diesbezüglichen Sachvortrag des Klägers zu 1) erachtet das Gericht aus den nachfolgenden Gründen in Übereinstimmung mit dem Bundesamt für unglaubwürdig. Dass es dem Kläger zu 1) mit Hilfe eines Bekannten gelungen sein soll, unbeaufsichtigt eine Akte aus dem Ministerium zu entwenden unter dem Vorwand, sich dort um eine Anstellung zu bemühen, erachtet das Gericht für unschlüssig und realitätsfern. Das Gericht ist der Überzeugung, dass der Kläger zu 1) nicht von selbst Erlebtem berichtet. Dieser Eindruck wird dadurch verstärkt, dass sich in der vom Gericht beigezogenen Akte des Bruders des Klägers zu 1) (Az. des BAMF ...) bereits mehrere Bestandteile der angeblichen Originalakte befinden, die der Bruder des Klägers in seinem Asylverfahren bzw. Asylfolgeverfahren bereits im Jahr 2019 (vgl. Bl. 155 der beigezogenen Akte, Az.: ...) vorgelegt hat. Vor diesem Hintergrund ist es chronologisch unschlüssig, dass der Kläger zu 1) die Akte seines Bruders aus dem Ministerium erst am 15. Juli 2021 entwendet haben will. In Bezug auf das Aktendokument selbst weist das Gericht darauf hin, dass ausweislich des Berichts über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 28. Oktober 2022 (Stand: Oktober 2022) im Irak jedes Dokument, ob als Totalfälschung oder als echte Urkunde mit unrichtigem Inhalt, gegen Bezahlung problemlos zu beschaffen ist. Auch gefälschte Beglaubigungsstempel irakischer Ministerien seien im Umlauf (vgl. Ziffer V.1, S. 25 des Lageberichts vom 28. Oktober 2022). Vor diesem Hintergrund erachtet das Gericht die vom Kläger zu 1) geschilderte Verfolgungsfurcht wegen des von ihm angeblich im Juli 2021 begangenen Diebstahls nicht für glaubhaft.
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Des Weiteren begründet die allgemeine humanitäre Situation im Irak nicht die Gefahr der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG. Es fehlt vorliegend bereits an dem erforderlichen staatlichen oder nichtstaatlichen Akteur, von dem insoweit eine zielgerichtete unmenschliche oder erniedrigende Behandlung ausgehen müsste. Für die Zuerkennung subsidiären Schutzes infolge einer allgemein schlechten humanitären Lage bedarf es einer direkten oder indirekten Aktion eines staatlichen oder nichtstaatlichen Akteurs i.S.d. § 3c i.V.m. § 4 Abs. 3 AsylG – die ein auf die bewirkten Effekte gerichtetes Handeln oder gar Absicht jenseits nicht intendierter Nebenfolgen erfordert –, auf deren Basis der (nicht-)staatliche Akteur die unmenschliche Lebenssituation im Sinne einer Zurechenbarkeit zu verantworten hat (vgl. BVerwG, U.v. 20.5.2020 – 1 C 11.19 – juris Rn. 13 m.w.N.). Die im Irak vorherrschende insgesamt schwierige humanitäre Lage wird durch die langanhaltenden kriegerischen Auseinandersetzungen, die Sicherheitslage, die fragliche Staatlichkeit, die innerstaatlichen Territorialkonflikte, die fortbestehenden konfessionellen bzw. ethnischen Auseinandersetzungen, die weiterhin unbefriedigende wirtschaftliche Entwicklung und die herrschenden Umweltbedingungen beeinflusst und bestimmt. Es ist aber nicht festzustellen, dass einem der in Betracht kommenden staatlichen oder nichtstaatlichen Akteure im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung ein solcher Beitrag hieran anzulasten wäre, der nach den dargestellten Maßstäben zur Zurechenbarkeit im Rahmen der Gewährung subsidiären Schutzes führte. Es liegt fern, dass die die humanitäre Situation bestimmenden Umstände von einem solchen Akteur gezielt herbeigeführt worden wären bzw. aufrechterhalten würden.
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Es ist ferner auch nicht beachtlich wahrscheinlich, dass den Klägern eine ernsthafte individuelle Bedrohung ihres Lebens oder ihrer Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts droht (§ 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AsylG). Dabei kann die Qualifizierung der fortbestehenden Auseinandersetzungen im Irak als ein solcher Konflikt dahinstehen, da jedenfalls keine beachtliche Schadenswahrscheinlichkeit für die Kläger besteht. Gefahrerhöhende Umstände sind für den Kläger nicht ersichtlich. Das quantifizierbare Risiko, allein durch die Anwesenheit im Nordirak (E.) Opfer eines Konflikts zu werden, ist daher so gering, dass nicht von einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgegangen werden kann. Auch eine wertende Gesamtbetrachtung der aktuellen Situation unter umfassender Berücksichtigung der weiteren, die Situation des Iraks bzw. der betroffenen Region kennzeichnenden Umstände, rechtfertigt keine abweichende Einschätzung im Vergleich zu dieser quantitativen Ermittlung des Tötungs- oder Verletzungsrisikos (vgl. zu diesen Kriterien EuGH, U.v. 10.6.2021 – C-901/19 – juris Rn. 43).
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3. Zugunsten der Kläger liegt nach Auffassung des Gerichts aber ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG vor.
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Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685), somit nach den Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Gemäß Art. 3 EMRK darf niemand unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung unterworfen werden.
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Schlechte humanitäre Verhältnisse können für sich allein genommen aber nur unter besonderen Voraussetzungen ausnahmsweise als eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu bewerten sein (vgl. NdsOVG, U.v. 29.1.2019 – 9 LB 93/18 – juris Rn. 45; VGH BW, U.v. 24.7.2013 – A 11 S 697/13 – juris Rn. 79), stellt doch die vorgenannte begriffliche Bestimmung der in „Behandlung“ nach Art. 3 EMRK grundsätzlich auf die Handlung eines Menschen gegen einen anderen Menschen ab.
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Die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG kommt jedoch in Betracht, wenn die schlechten humanitären Verhältnisse weder dem Staat noch (im Falle eines bewaffneten Konflikts) den Konfliktparteien zuzurechnen sind und zwar dann, wenn die schlechten humanitären Verhältnisse im Herkunftsgebiet oder im Zielgebiet im Hinblick auf Art. 3 EMRK – in außergewöhnlichen Einzelfällen – als eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu bewerten sein können (vgl. SächsOVG, U.v. 25.10.2018 – 5 A 806/17.A – juris Rn. 37; VGH BW, B.v. 14.3.2018 – 13 A 341/18.A – juris Rn. 19). Es ist jedoch ein hohes Schädigungsniveau erforderlich, da nur in diesem Fall ein außergewöhnlicher Fall vorliegt, in dem die humanitären Gründe entsprechend den Anforderungen des Art. 3 EMRK „zwingend“ sind (vgl. BVerfG, U.v. 31.1.2013 – 10 D 15.12 – juris Rn. 23; BayVGH, B.v. 18.1.2019 – 4 ZB 18.30367 – juris Rn. 19). Maßgeblich ist insoweit, ob es dem oder den Betroffenen gelingen kann, wenigstens ein Leben am Rande des Existenzminimums zu bestreiten (vgl. BayVGH, B.v. 21.12.2018 – 13a ZB 17.31203 – juris Rn. 34).
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Das Bundesverwaltungsgericht hat hierzu ausgeführt (BVerwG, U. v. 4.7. 2019 – 1 C 45.18 –, juris Rn. 11f.), dass eine Abschiebung in einen Zielstaat verboten ist, in dem einem Ausländer unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung im Sinne von Art. 3 EMRK droht. Eine Verletzung des Art. 3 EMRK kommt in besonderen Ausnahmefällen auch bei „nichtstaatlichen“ Gefahren aufgrund prekärer Lebensbedingungen in Betracht, bei denen ein „verfolgungsmächtiger Akteur“ (§ 3c AsylG) fehlt, wenn die humanitären Gründe gegen die Ausweisung „zwingend“ sind mit Blick auf die allgemeine wirtschaftliche Lage und die Versorgungslage betreffend Nahrung, Wohnraum und Gesundheitsversorgung (BVerwG, U.v. 31. 1. 2013 – 10 C 15.12 – BVerwGE 146, 12 Rn. 25; s.a. U.v. 13.6.2013 – 10 C 13.12 – BVerwGE 147, 8 Rn. 25). Die einem Ausländer im Zielstaat drohenden Gefahren müssen hierfür jedenfalls ein „Mindestmaß an Schwere“ (minimum level of severity) aufweisen (vgl. EGMR <GK>, U. v. 13.12. 2016 – Nr. 41738/10, Paposhvili/Belgien – Rn. 174; EuGH, U.v. 16.2. 2017 – C-578/16 PPU [E-ECLI:CLI:ECLI:EU:C:2017:127, C.K. u. a. – Rn. 68); es kann erreicht sein, wenn er seinen existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern kann, kein Obdach findet oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhält (s. a. BVerwG, B.v. 8.8. 2018 – 1 B 25.18 – NVwZ 2019, 61 Rn. 11). In seiner jüngeren Rechtsprechung stellt der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH, U. v. 19.3.2019 – C-297/17 u. a. [ECLI:ECLI:EU:C:2019:219], Ibrahim – Rn. 89 ff. und – C-163/17 [ECLI:ECLI:EU: ECLI:C:2019: 218], Jawo – Rn. 90 ff.) darauf ab, ob sich die betroffene Person „unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not“ befindet, „die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre“.
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Grundsätzlich ist nationaler Abschiebungsschutz für jeden Ausländer einzeln und gesondert zu prüfen. Für die vorzunehmende Gefahrenprognose ist aber von einer möglichst realitätsnahen Beurteilung der – notwendig hypothetischen – Rückkehrsituation auszugehen. Bei einer tatsächlichen Lebensgemeinschaft zumindest der Kernfamilie ist im Regelfall davon auszugehen, dass diese entweder insgesamt nicht oder nur gemeinsam im Familienverband zurückkehrt. Bei der Gefahrenprognose ist deshalb von der Regelvermutung der gemeinsamen Rückkehr im Familienverband auszugehen.
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Dies zugrundegelegt besteht aus den nachfolgenden Überlegungen vorliegend ein Abschiebungsverbot für die Kläger als Familie auf der Grundlage des § 60 Abs. 5 AufenthG. Der Kläger zu 1) als alleiniger Haushaltsvorstand und vormaliger Alleinverdiener innerhalb der Familie hat im Verfahren qualifiziert fachärztlich nachgewiesen, dass er an einer akut behandlungsbedürftigen schweren depressiven Episode mit psychotischen Symptomen (ICD-10: F32.3) leidet wegen der er stationär bzw. ambulant in dauerhafter medizinischer Behandlung ist. Ausweislich der fachärztlichen Stellungnahme der Bezirkskliniken ... – Bezirkskrankenhaus ... – vom 7. Oktober 2022 bietet der Kläger zu 1) psychopathologisch ein schweres depressives Bild mit herabgesetzter affektiver Schwingungsfähigkeit, Ratlosigkeit, Antriebshemmung, formalgedanklicher Verlangsamung und inhaltlichen Denkstörungen im Sinne von nihilistischen Wahngedanken. Der Kläger zu 1) ist auf die dauerhafte Einnahme von Psychopharmaka im Rahmen einer zumindest ambulanten psychiatrisch-psychotherapeutischen Weiterbehandlung angewiesen. Nach fachärztlicher Einschätzung ist die Belastbarkeit und die Lernfähigkeit des Klägers zu 1) aus psychiatrischer Sicht aufgrund der bei ihm vorliegenden schweren depressiven Episode mit psychotischen Symptomen stark eingeschränkt. Dieser Eindruck hat sich für das Gericht auch in der mündlichen Verhandlung vom 19. Juni 2023 insoweit bestätigt, als der Kläger zu 1) apathisch, distanziert und antriebslos wirkte. Die beim Kläger zu 1) vorhandene Symptomatik dürfte sich bei einer Rückkehr in sein Heimatland nochmals deutlich stärker ausprägen, sodass derzeit nach Überzeugung des Gerichts nicht davon ausgegangen werden kann, dass der Kläger zu 1) nach einer Rückkehr in den Irak in der Lage sein dürfte, einer irgendwie gearteten Erwerbstätigkeit nachzugehen. Ebenfalls ist nicht sichergestellt, ob der Kläger zu 1) im Irak die für ihn erforderliche psychiatrische Weiterbehandlung erfahren kann bzw. diese für ihn erreichbar bzw. finanzierbar ist. Beim Kläger zu 1) kommt hinzu, dass er seit Längerem an einer Aortenstenose leidet, die ebenfalls ärztlicher Überwachung bedarf. Aus orthopädischer Sicht wurde für den Kläger ein Behinderungsgrad von 40 festgestellt. Eine nennenswerte Arbeitsleistung zugunsten der fünfköpfigen Familie kann aber auch nicht von der Ehefrau des Klägers zu 1), der Klägerin zu 2), erwartet werden. Dies aufgrund er Tatsache, dass die Klägerin zu 2) vor ihrer Ausreise lediglich als Hausfrau tätig war. Innerhalb der Familie besteht die Aufgabe der Klägerin zu 2) in der Betreuung der drei minderjährigen Kinder, die sich sämtlich noch im Kleinkindalter befinden und nennenswerten Betreuungsbedarf haben. Aufgrund der schwerwiegenden Erkrankung des Klägers zu 1), die dauerhafter fachärztlicher Betreuung und Medikation bedarf, sowie der Ausgestaltung der Familie mit drei in den Jahren 2015, 2017 und 2019 geborenen minderjährigen Kleinkindern, erachtet das Gericht vorliegend die Gründe gegen eine Abschiebung der Kläger für „zwingend“ im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts.
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Ob für den Kläger zu 1) darüberhinausgehend ein Abschiebungsverbot auf der Grundlage des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG besteht, bedarf keiner gerichtlichen Entscheidung. Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens ist das Verpflichtungsbegehren der Kläger auf Feststellung eines (nationalen) Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Bei nationalem Abschiebungsschutz handelt es sich um einen einheitlichen, nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand mit mehreren mögliche Anspruchsgrundlagen. Eine Abschichtung einzelner nationaler Abschiebungsverbote ist daher nicht möglich (BVerfG, U.v. 8.9.2011 – 10 C 14.10 – juris Rn. 17; SächsOVG, U.v. 3.7.2018 – 1 A 215/18.A – juris Rn. 23).
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Nach allem besteht für die Kläger ein Schutzanspruch im Sinne des § 60 Abs. 5 AufenthG, nicht in den Irak abgeschoben zu werden. Nrn. 4, 5 und 6 des Bescheids des Bundesamts vom 25. August 2022, die dieser Feststellung entgegenstehen, waren daher antragsgemäß aufzuheben. Im Übrigen war die Klage hingegen abzuweisen.
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4. Die Kostenentscheidung in dem nach § 83b AsylG gerichtskostenfreien Verfahren beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO und trägt dem jeweiligen Obsiegen und Unterliegen der Beteiligten Rechnung.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO.