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OLG München, Hinweisbeschluss v. 26.05.2023 – 24 U 587/23 e
Titel:

Möglichkeit eines Grundurteils bei Forderungsübergang - Grenzen des Rechtsfahrgebotes

Normenketten:
StVO § 2 Abs. 2, § 5 Abs. 2
ZPO § 304
Leitsätze:
1. Ein etwaiger Übergang eines Teils der Schadensersatzforderung auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte schließt den Erlass eines Grundurteils nicht aus, wenn der möglicherweise übergegangene Teil jedenfalls kleiner als der Schadensersatzanspruch ist. (Anschluss an BGH, Urteil vom 13. Juli 1967 – III ZR 169/66 –, VersR 1967, 1002). (Rn. 12 – 15)
2. Ein Zweiradfahrer verstößt nicht gegen das Rechtsfahrgebot, wenn er bei einer Fahrbahnbreite von 6,8 m mit seiner linken Körperseite einen Abstand von mindestens 0,5 m zur Fahrbahnmitte einhält (hier 0,7 m). (Rn. 20 – 28)
3. Die Betriebsgefahr eines Motorroller tritt gegenüber dem Verursachungsbeitrag eines Motorradfahrers, der in einer unübersichtlichen Kurve einen PKW überholt, zurück. (Rn. 31)
Schlagworte:
Rechtsfahrgebot, Grundurteil
Vorinstanz:
LG Kempten vom 18.01.2023 – 12 O 2388/21
Fundstellen:
LSK 2023, 16682
NJW 2023, 3173
BeckRS 2023, 16682

Tenor

Der Senat beabsichtigt, die Berufung gegen das Urteil des Landgerichts Kempten (Allgäu) vom 18.01.2023, Az. 12 O 2388/21, gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen.
Hierzu besteht Gelegenheit zur Stellungnahme binnen drei Wochen nach Zustellung dieses Hinweises.

Entscheidungsgründe

I.
1
Die Parteien streiten über Schadensersatz- und Schmerzensgeldansprüche des Klägers, der als Fahrer eines Motorrollers Piaggo Vespa durch einen Frontalzusammenstoß mit dem Motorrad BMW R1200 des Beklagten zu 2), das bei der Beklagten zu 1) haftpflichtversichert war, am 09.08.2018 (nicht, wie im Tatbestand des landgerichtlichen Urteils angegeben ist, 2019) gegen 11.45 Uhr schwere Verletzungen erlitten hat.
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Der Kläger fuhr auf der Straße über den R.pass von O. nach B. bergab in einer leichten Linkskurve. Der Beklagte zu 2), der in Gegenrichtung bergauf fuhr, setzte zur gleichen Zeit zum Überholen des vor ihm fahrenden PKWs des Zeugen W. M. an und fuhr dazu auf die Gegenfahrbahn, so dass es auf der Höhe des unteren G.-Kieswerks zu einem Frontalzusammenstoß kam. Der Kläger erlitt schwere Verletzungen, wegen derer er sich 19 Tage im Landeskrankenhaus in F. im künstlichen Koma befand und dreimal operiert wurde; zum Ende der Operation am 16.08.2018 musste er reanimiert werden. Bei einem anschließenden Aufenthalt im Klinikum K. wurden weitere acht Operationen und in der Folgezeit weitere vier Operationen erforderlich. Der Kläger befand sich insgesamt 134 Tage stationär im Krankenhaus und 256 Tage in der Rehaklinik E. Im Juli 2019 wurde er als Zollbeamter vorzeitig in den Ruhestand versetzt. Seine Erwerbsminderung beträgt 100%, sein Grad der Behinderung 60.
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Mit der Klage macht der Kläger ein weiteres Schmerzensgeld über die von der Beklagten zu 1) bereits bezahlten 60.000,00 € hinaus, mindestens in Höhe von 240.000,00 €, materielle Schadensersatzansprüche (u. a. Fahrzeugschaden) in Höhe von 6.670,55 €, weitergehende (von der Beihilfe und privaten Krankenversicherung nicht bezahlte) Heilbehandlungskosten, den Mehraufwand für die Anschaffung eines behindertengerechten Fahrzeugs, Kosten für die Einstellung von Ersatzkräften und zur Aufrechterhaltung des Betriebs für die vom Kläger in B. betriebenen Skischule, entgangenen Gewinn als Tandempilot, Haushaltsführungsschaden sowie Verdienstausfall wegen seiner Versetzung in den Ruhestand geltend. Er beantragt zudem die Feststellung der Ersatzpflicht sämtlicher weiterer materieller sowie derzeit nicht vorhersehbarer weiterer immaterieller Schäden aus dem Verkehrsunfall sowie die Erstattung vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten.
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Die Beklagten haben den Feststellungsantrag teilweise unter Zugrundelegung einer Haftungsquote von 75% bzw. Mithaftung des Klägers zu 25% anerkannt und im Übrigen beantragt, die Klage abzuweisen.
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Das Landgericht Kempten hat ein in einem Parallelverfahren (Klage der Bundesrepublik Deutschland als Dienstherrin des Klägers gegen die Beklagte zu 1, Az. 35 O 182/21) eingeholtes Gutachten des Sachverständigen Dipl.-Ing. (FH) W. vom 24.05.2022 gemäß § 411 a ZPO verwertet sowie den Zeugen M. vernommen und den Sachverständigen W. angehört. Sodann hat es mit Grund-, Teilanerkenntnis- und Teil-Endurteil vom 18.01.2023 die beantragte Feststellung der Ersatzpflicht sämtlicher weiterer materieller und derzeit nicht vorhersehbarer weiterer immaterieller Schäden, soweit diese nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind oder übergehen werden, getroffen. Im Übrigen hat es die Klage dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt.
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Dabei ging es von einer Haftung der Beklagten zu 100% aus. Der Beklagte zu 1) habe gegen § 5 Abs. 2 StVO verstoßen, da der Überholweg nicht überschaubar und daher eine Gefährdung des Gegenverkehrs nicht ausgeschlossen gewesen sei. Dem Kläger liege – entgegen der Ansicht der Beklagten – kein Verstoß gegen das Rechtsfahrgebot gemäß § 2 Abs. 2 StVO zur Last. Zwar sei er auf der 6,8 m breiten Straße mit dem Radaufstandspunkt (nur) 0,9 – 1,1 m rechts der Fahrbahnmittenmarkierung gefahren, so dass seine linke Körper- und Fahrzeugseite nur zwischen 0,4 und 0,7 m von der Fahrbahnmitte entfernt gewesen seien. Dies stelle aber keinen Verstoß gegen das Rechtsfahrgebot dar, weil dieses nicht starr sei, sondern von der Örtlichkeit, Fahrbahnart und -beschaffenheit, Fahrgeschwindigkeit, Sichtverhältnissen und anderen Umständen abhänge. In einer kurvigen Streckenpassage könne noch ein Abstand von 50 cm zur Mittellinie hingenommen werden. Eine Unterschreitung sei nicht nachgewiesen. Zudem wäre sie nicht kausal, da der Kläger den Unfall nur dann hätte vermeiden können, wenn er einen Abstand von nur 1,2 m zum rechten Fahrbahnrand eingehalten hätte. In der Haftungsabwägung trete die Betriebsgefahr des klägerischen Fahrzeugs gegenüber dem gravierenden Verkehrsverstoß des Beklagten zu 2) zurück.
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Gegen dieses Urteil wenden sich die Beklagten mit der Berufung, mit der sie geltend machen, dass der Kläger doch gegen das Rechtsfahrgebot verstoßen habe. Deshalb müsse er sich eine Mithaftung zu 25% anrechnen lassen. Zudem sei der Ausspruch des Grundurteils falsch tenoriert, da die Einschränkung „soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind oder übergehen werden“ fehle.
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Sie beantragen,
Das Grund- und Teilendurteil des Landgerichts Kempten (Allgäu) vom 18.01.2023 – 12 O 2388/21 – wird wie folgt abgeändert:
1. Es wird festgestellt, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, dem Klägers sämtliche weitere materielle Schäden, die aus dem Verkehrsunfall vom 09.08.2018 gegen 11:45 Uhr auf der Kreisstraße OA 9, Abschnitt 100, Kilometer 7260, Höhe G. Kieswerk, entstehen, unter Berücksichtigung einer Haftungsquote der Beklagten von 75% zu ersetzen, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind oder übergehen werden. Es wird festgestellt, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, dem Kläger alle weiteren, derzeit nicht vorhersehbaren immateriellen Schäden infolge des Verkehrsunfalls vom 09.08.2018 gegen 11:45 Uhr auf der Kreisstraße OA 9, Abschnitt 100, Kilometer 7260, Höhe G. Kieswerk, unter Berücksichtigung einer Mithaftung des Klägers von 25% zu ersetzen.
2. Die Klage ist im Übrigen dem Grunde nach unter Berücksichtigung einer Haftungsquote zulasten der Beklagten von 75% wegen der geltend gemachten materiellen Ansprüche gerechtfertigt, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind oder übergehen werden.
Ferner ist die Klage bezüglich des vom Kläger geltend gemachten Schmerzensgeldanspruchs dem Grunde nach unter Berücksichtigung einer Mithaftung des Klägers von 25% gerechtfertigt.
3. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
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Der Kläger bestreitet weiterhin einen Verstoß gegen das Rechtsfahrgebot. Der Unfall hätte allenfalls vermieden werden können, wenn er maximal 1,2 m vom rechten Fahrbahnrand entfernt gefahren wäre; ein derart weites Rechtsfahren könne jedoch vernünftigerweise im Bereich einer leichten Linkskurve bei einer 3,4 m breiten Fahrspur und einer Gesamtfahrbahnbreite von 6,8 m nicht von ihm verlangt werden, insbesondere nicht, wenn für ihn keine erkennbaren Gefahren aufgrund der konkreten Verkehrssituation ersichtlich gewesen seien. Dem Beklagten zu 2) sei hingegen eine grob verkehrswidrige Missachtung der erforderlichen Sorgfalt beim Überholen vorzuwerfen.
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Bei den Ansprüchen, deren Bestehen das Landgericht dem Grunde nach festgestellt habe, handele es sich um konkret geltend gemachte und bezifferte Ansprüche, die nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen seien oder übergehen würden.
II.
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Der Senat ist einstimmig der Auffassung, dass die Berufung offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat, der Rechtssache auch keine grundsätzliche Bedeutung zukommt und weder die Fortbildung des Rechts noch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts erfordert. Auch die Durchführung einer mündlichen Verhandlung über die Berufung ist nicht geboten.
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1. Entgegen der Ansicht der Beklagten ist der Ausspruch des Teil-Grundurteils in Ziffer 2. des Tenors nicht deshalb fehlerhaft, weil eine Einschränkung „soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind oder übergehen werden“ fehlt.
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a) Zwar gehören zum Grund auch die Tatsachen, die die Sachbefugnis (aktive und passive) begründen oder sie wieder entfallen lassen, wie der Forderungsübergang auf Dritte durch Zession oder kraft Gesetzes (Feskorn in: Zöller, Zivilprozessordnung, 34. Aufl. 2022, § 304, Rn. 14). Allerdings geht die Einschränkung nicht so weit, wie die Kommentierung im Zöller vermuten lässt. Wie sich aus der dort zitierten Entscheidung des BGH vom 27. April 1956 – VI ZR 23/55 –, NJW 1956, 1236 ergibt, kann ein Zwischenurteil nach § 304 ZPO nur ergehen, wenn sich im Grundverfahren ergibt, dass auch bei Berücksichtigung des Forderungsübergangs noch eine Forderung zugunsten des Klägers verbleibt. Daher schließt ein etwaiger Forderungsübergang den Erlass eines Grundurteils nicht aus, wenn er niedriger als der Klageanspruch ist (vgl. Seiler in: Thomas/ Putzo, ZPO, 44. Aufl. 2023, § 304 Rn. 7; BGH, Urteil vom 13. Juli 1967 – III ZR 169/66 –, VersR 1967, 1002)
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b) Daran besteht kein Zweifel. Die Berufungsrüge der Beklagten legt in keiner Weise dar, welche streitgegenständlichen Ansprüche und gegebenenfalls in welcher Höhe auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sein oder übergehen könnten. Dies ist nicht nur beim vom Grundurteil umfassten Schmerzensgeldanspruch ausgeschlossen, sondern auch bei den anderen streitgegenständlichen Ansprüchen nicht ersichtlich. Dies versteht sich beim Fahrzeugschaden, Abschleppkosten, Fahrtkosten im Zusammenhang mit der Heilbehandlung, Verdienstausfall, Taxikosten und Kosten der Fahrerlaubnisprüfung von selbst, gilt aber auch für den Mehraufwand für die Anschaffung eines behindertengerechten Fahrzeugs, den Haushaltsführungsschaden und den Erwerbsschaden (aus der Skischule, der Tätigkeit als Gleitschirm-Tandempilot und als Zollbeamter). Allenfalls bei den Heilbehandlungskosten wäre ein Anspruchsübergang auf den Dienstherren als Verpflichteter der Beihilfe nach § 76 BBG und die private Krankenversicherung nach § 86 Abs. 1 S. 1 VVG denkbar. Allerdings macht der Kläger mit der Klage nur „Weitergehende Heilbehandlungskosten geltend, die ihm nach Abzug der Zahlungen der privaten Krankenversicherung D. sowie der Beihilfe“ verblieben sind (vgl. Klageschrift vom 22.12.2021, S. 14). Die Beklagten bestreiten dies nicht, fordern aber, der Kläger müsse konkret darlegen und nachweisen, weshalb es sich bei den von ihm geltend gemachten Kosten um unfallbedingte notwendige Heilbehandlungsmaßnahmen handele, nachdem die vorrangig eintrittspflichtigen Kostenträger offensichtlich die Notwendigkeit nicht bejaht hätten (Klageerwiderung vom 16.03.2022, S. 7 = Bl. 40 d. A.). Daher besteht auch insoweit keine Grundlage für einen gesetzlichen Anspruchsübergang.
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2. Das Landgericht hat seinem Grund-, Teilanerkenntnis- und Teil-Endurteil zu Recht eine Haftung der Beklagten zu 100% zu Grunde gelegt.
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Der Anspruch gegen den Beklagten zu 2) besteht – wie von der Berufung nicht bezweifelt wird – aus § 7 Abs. 1 StVG; zudem kann der Anspruch auch auf § 823 Abs. 1 und Abs. 2 i. V. m. § 229 StGB und § 5 Abs. 2 StVO gestützt werden. Der Anspruch gegen die Beklagte zu 1) beruht auf den vorher genannten Normen i. V. m. § 115 Abs. 1 Nr. 1 VVG, § 1 PflVG.
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Im Rahmen der Abwägung der Verursachungsanteile der beiden Unfallbeteiligten nach § 17 Abs. 1, 2 und 3 StVG tritt die Betriebsgefahr, die vom Vespa-Roller des Klägers ausgeht, zurück. Einen für den Unfall kausalen Verkehrsverstoß des Klägers hat das Landgericht zu Recht nicht festgestellt.
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a) Das Landgericht hat zutreffend einen schweren Verkehrsverstoß des Beklagten zu 2) gegen § 5 Abs. 2 StVO festgestellt. Er ergibt sich daraus, dass der Beklagte zu 2) mit seinem Motorrad BMW R1200 in einer leichten (für ihn) Rechtskurve zum Überholen des PKW Mitsubishi Outlander angesetzt hat, mit dem der Zeuge M. nach seiner Angabe mit 80 bis 85 km/h die Passstraße bergauf gefahren ist (vgl. Prot. vom 13.05.2022, S. 3 = Bl. 63 d. A.). Nach den Berechnungen des Sachverständigen W., auf die sich das Landgericht stützt, hat der Beklagte zu 2) sein Motorrad auf etwa 65 – 82 km/h beschleunigt, als er etwa 45 – 66 m und 2,7 bis 3,1 s vor der Kollision auf die linke Fahrspur ausscherte. Dabei hätte er keinesfalls überholen dürfen, da er etwaigen Gegenverkehr – nämlich den Kläger mit seiner Vespa – erst 1,5 Sekunden vor der Kollision (also 1,2 – 1,6 s später) wahrnehmen konnte. Der Beklagte zu 1) konnte also den für einen Überholvorgang erforderlichen Raum auf der Überholspur nicht überschauen, als er zum Überholvorgang ansetzte.
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Gegen die Feststellung eines schweren Verstoßes des Beklagten zu 1) gegen § 5 Abs. 2 StVO wendet sich die Berufung auch nicht.
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b) Der Kläger hat entgegen dem in der Berufungsinstanz weiterhin geltend gemachten Vortrag der Beklagten nicht gegen das Rechtsfahrgebot verstoßen.
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aa) Nach den mit der Berufung nicht angegriffenen Feststellungen des Landgerichts fuhr der Kläger, als er sich mit einer Geschwindigkeit von 50 bis 65 km/h der späteren Unfallstelle näherte, in der leichten (für ihn) Linkskurve auf der 6,8 m breiten Straße auf der rechten Richtungsfahrbahn mit dem Radaufstandspunkt 0,9 bis 1,1 m rechts der Mittellinie, was bedeutet, dass er mit seiner linken Körperseite zwischen 0,4 und 0,7 m von der Mittellinie entfernt war. Da im Rahmen der Abwägung nach § 17 StVG nur unstreitige, zugestandene oder erwiesene Tatsachen zählen (vgl. König in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsgesetze, 46. Aufl. 2021, § 17 StVG Rn. 31) ist also von einem Radaufstandspunkt 1,1 m und von einem Abstand der linken Körperseite 0,7 m rechts von der Mittellinie auszugehen. Damit befanden sich die Räder des Vespa-Rollers, ausgehend von einer Breite der Fahrbahnhälfte von 3,4 m in einem Abstand von 2,3 m zum rechten Straßenrand.
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bb) Das Gebot möglichst weit rechts zu fahren gemäß § 2 Abs. 2 StVO enthält – wie das Landgericht zutreffend unter Zitierung des Urteils des BGH vom 20. Februar 1990 – VI ZR 124/89 –, VersR 1990, 537 = NJW 1990, 1850 herausgearbeitet hat, keine starre Regel. Was „möglichst weit rechts“ ist, hängt vielmehr von der Örtlichkeit, der Fahrbahnart und -beschaffenheit, der Fahrgeschwindigkeit, den Sichtverhältnissen, dem Gegenverkehr und anderen Umständen ab. Dabei hat der Kraftfahrer einen gewissen Beurteilungsfreiraum, solange er sich so weit rechts hält, wie es im konkreten Fall im Straßenverkehr „vernünftig“ ist. Bei einer Fahrbahnbreite von etwa 6 m könne ein Abstand von 50 cm zur Mittellinie hingenommen werden, weil dann zum Passieren zweier sich begegnender Fahrzeuge immer noch ein ausreichender Sicherheitsabstand von 1 m verbleibe, jedenfalls wenn – wie im Fall des BGH – von der Gegenfahrbahn konkret erkennbare Gefahren nicht drohten (a.a.O., Rz. 10 bei juris).
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Dieser Entscheidung folgt die Rechtsprechung der Oberlandesgerichte (vgl. OLG Düsseldorf, Urteil vom 11. Mai 1992 – 1 U 121/91 –, juris; OLG Dresden, Beschluss vom 21.05.2019 – 1 U 51/19, SVR 2021, 345, beck-online). Auch das OLG Frankfurt hat entschieden, dass dem Rechtsfahrgebot in der Regel noch genügt ist, wenn der Kraftfahrer einen Abstand zur Mittellinie von etwa 0,5 m einhält (OLG Frankfurt, Urteil vom 26. Februar 2015 – 15 U 72/14 –, juris).
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cc) Für den Kläger war bis zu dem Zeitpunkt, in dem er erstmals das Motorrad des Beklagten zu 2) auf seiner Fahrspur entgegenkommen sehen konnte, kein Anlass, mit einer vom Gegenverkehr ausgehenden Gefahr zu rechnen. Allenfalls war der ordnungsgemäß in seiner Spur fahrende PKW des Zeugen M. zu sehen. Den Mindestabstand von 50 cm zur Mittellinie, der auch für die nicht sehr viel breitere R.passstraße (nach den Feststellungen des Landgerichts 6,8 m breit, nach dem Vortrag der Beklagten und dem von ihr als Anlage B2 vorgelegten Gutachten des Sachverständigen Dipl.-Ing. L. vom 25.10.2019 nur 6,6 m) gilt, hat der Kläger nicht nachweisbar unterschritten.
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dd) Die von den Beklagten in der Berufungsbegründung zitierten Entscheidungen lassen sich nicht dagegen ins Feld führen.
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Das OLG München hat im Urteil vom 2. Juni 2021 – 10 U 7512/20 – ausgesprochen, dass ein ausreichender Sicherheitsabstand zum Fahrbahnrand einzuhalten ist, der in der Regel zwischen 0,5 bis 1 m betragen sollte; einen Abstand von 1,0 bis 1,3 m zum rechten Fahrbahnrand hat es nicht beanstandet. Zugleich zitiert der 10. Zivilsenat zustimmend das Urteil des BGH vom 20. Februar 1990, das einen Sicherheitsabstand zum Gegenverkehr von mindestens 1 m (davon die Hälfte auf der eigenen Fahrbahn) fordere.
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Das OLG Stuttgart hat in seinem Urteil vom 26. Oktober 2006 (13 U 74/06 –, Rn. 19, juris) einen Sicherheitsabstand nach rechts von einem Meter für ausreichend gehalten, allerdings einen Verstoß des Versicherungsnehmers der Beklagten nur deshalb angenommen, weil er mit seinem 1,67 m breiten PKW „hart an der Mittellinie“ gefahren war und damit mehr als zwei Meter vom rechten Fahrbahnrand entfernt war. Damit hatte er die Breite seiner Fahrbahnhälfte von 3,95 m fast vollständig ausgeschöpft, so dass es zur Kollision mit dem Gegenverkehr kam, der die Mittellinie „lediglich um 40 cm überschritten hatte“. Damit hatte der Versicherungsnehmer der Beklagten gerade den vom BGH postulierten Mindestabstand von 50 cm zur Fahrbahnmitte nicht eingehalten.
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Das Urteil des OLG München vom 11. April 2014 – 10 U 4173/13 –, lässt die Frage eines Verstoßes gegen das Rechtsfahrgebot offen. Die Mithaftungsquote des nur 45 cm vom rechten Fahrbahnrand entfernt fahrenden PKWs von 30% hat der 10. Zivilsenat ausschließlich mit einem Verstoß gegen die Regel des „Fahrens auf halbe Sicht“ nach § 3 Abs. 1 S. 5 StVO bei einer Fahrbahnbreite von nur 4,65 m bei einer Breite des eigenen PKWs von 1,74 m begründet.
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c) Im Übrigen wäre ein etwaiger Verstoß des Klägers gegen § 2 Abs. 2 StVO nicht kausal für den Unfall geworden. Selbst wenn der Kläger, was er zweifellos durfte, in der Mitte seiner Fahrbahnhälfte, also in einem Abstand von 1,7 m zur Mittellinie gefahren wäre, wäre er mit dem Beklagten zu 1) kollidiert, der die Mittellinie bezogen auf den Radaufstandspunkt um 1,1 – 1,3 m, bezogen auf die linke Körperseite um 1,6 – 1,8 m überfahren hatte.
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Die Ausführungen des Landgerichts zur fehlenden Kausalität eines etwaigen – hier zu verneinenden – Verstoßes des Klägers gegen das Rechtsfahrgebot (Urteil S. 15) werden im Übrigen von der Berufung nicht angegriffen.
31
d) Dass die Betriebsgefahr des klägerischen Motorrollers gegenüber dem Verursachungsbeitrag des Beklagten zu 2) aufgrund des von ihm zu verantwortenden schweren Verkehrsverstoßes zurücktritt, entspricht ebenfalls der Sach- und Rechtslage (vgl. wiederum BGH, Urteil vom 20. Februar 1990 – VI ZR 124/89 –, Rn. 12, juris).
32
Da die Berufung keine Aussicht auf Erfolg hat, legt das Gericht aus Kostengründen die Rücknahme der Berufung nahe. Im Falle der Berufungsrücknahme ermäßigen sich die Gerichtsgebühren von 4,0 auf 2,0 Gebühren (vgl. Nr. 1222 des Kostenverzeichnisses zum GKG).