Titel:
keine Gruppenverfolgung von tigrinischen Volkszugehörigen in Äthiopien
Normenketten:
AsylG § 3
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
Leitsatz:
Es bestehen keine Anhaltspunkte für die Annahme, jeder Person tigrinischer Herkunft würde allein wegen ihrer Volkszugehörigkeit eine landesweite Verfolgung in Äthiopien drohen. (Rn. 45) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Tigrinische Volkszugehörige, Gruppenverfolgung (verneint), Gesteigerter Vortrag, Rückkehrhilfen, Finanzierbarkeit/Zugänglichkeit von Wohnraum in Addis, Abeba, Äthiopien, Tigray, tigrinische Volkszugehörige, TPLF, zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot, REAG/GARP-Programm
Fundstelle:
BeckRS 2023, 16385
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Klägerin trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
3. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
1
Die Klägerin ist äthiopische Staatsangehöriger tigrinischer Volks- und christlich-orthodoxer Religionszugehörigkeit. Sie ist nach eigenen Angaben am 03.06.2021 auf dem Luftweg ins Bundesgebiet eingereist und stellte am 08.07.2021 Asylantrag.
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Im persönlichen Gespräch zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedsstaates gab die Klägerin u.a. an, sie sei mit einem Direktflug von Äthiopien nach Deutschland gekommen, sie habe ein Visum für Ungarn gehabt, das der Schleuser organisiert gehabt habe. Im Rahmen einer Kurzbefragung (Bl. 73/74 d. A.) gab die Klägerin an, an Verwandten im Herkunftsland habe sie ihre Eltern, Geschwister und die Großfamilie. Sie habe die Schule mit der 12. Klasse abgeschlossen und Ingenieurin studiert. Im Rahmen einer Befragung durch die Regierung … gab die Klägerin u.a. an, sie sei in der Stadt A. geboren. Ihr Kebeleausweis sei in A. bei ihrer Familie. Sie habe diesen mit 18 Jahren in A. bekommen. Sie legte ihren Universitätsabschluss, einen Highschool-Abschluss und den Abiturabschluss vor. Sie benannte ihre letzte offizielle Anschrift im Heimatland in A. und gab an, sie habe dort ungefähr 10 bis 13 Jahre gewohnt, die letzten sechs Monate habe sie bei einer Freundin gelebt. Die Eltern der Klägerin wohnten in A. Die Geschwister der Klägerin (ein Bruder und zwei Schwestern) wohnten bei den Eltern der Klägerin. Die Geschwister der Eltern der Klägerin wohnten alle in A. In Deutschland lebe die Taufpatin der Klägerin in … Befragt nach ihrer Schullaufbahn führte sie aus, von der ersten bis zur sechsten Klasse habe sie eine Schule in A. besucht, von der siebten bis zur zwölften Klasse die … in A. Ferner sei die Klägerin fünf Jahre an der Universität in A. gewesen. Als sie studiert habe, habe die Universität und die Regierung für den Unterhalt der Klägerin bezahlt. Zu ihrem Reiseweg führte sie u.a. aus, am Flughafen in A.habe sie den Pass erhalten mit einem gefälschten Namen (wurde angegeben). Es sei ein ungarisches Visum gewesen.
3
Im Rahmen ihrer Anhörung beim Bundesamt führte die Klägerin u.a. aus, sie habe zuletzt keinen Kontakt mehr zu ihren Eltern gehabt, zuletzt sei es im Oktober 2020 nach dem Kriegsbeginn der Fall gewesen, einmal habe sie im März 2021 nach Hause telefoniert. Ihre Eltern wohnten in A. in der Tigray-Region. Ein Bruder und zwei Schwestern der Klägerin lebten noch in Äthiopien. Die Klägerin nannte ihre letzte offizielle Anschrift in A., sie habe dort mit ihrer Freundin gelebt, die Wohnung habe den Eltern der Freundin gehört. Als die Eltern der Klägerin in den Tigray zurückgegangen seien, sei die Klägerin zu ihr gezogen. Miete habe sie keine zahlen müssen. Die Eltern seien schon befreundet gewesen, sie seien zusammen aufgewachsen, seien zusammen in der Schule gewesen. Für den Schleuser habe die Klägerin ca. 150.000 BIR zahlen müssen, sie sei mit der Ethiopia Airline nach Deutschland geflogen. Im Heimatland habe die Klägerin noch die gesamte Großfamilie, die meisten lebten in der Tigray-Region, ein Onkel in A. Die Klägerin sei 17 Jahre in der Schule gewesen und habe dann fünf Jahre studiert (Technology/Architektur). Sie habe das Studium im Dezember 2020 erst abgeschlossen, deshalb habe sie in dem Beruf noch nicht gearbeitet. Auch sonst habe sie noch nie arbeiten müssen.
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Befragt nach den Gründen für ihre Ausreise führte sie aus, in Äthiopien habe sie nicht mehr in Freiheit leben können, sie habe dort nicht arbeiten können. Es gebe dort keine Menschenrechte, das alles nur aufgrund ihrer Volkszugehörigkeit. Sie komme ursprünglich aus der Region Tigray, habe keine Zukunft in Äthiopien und sei deshalb ausgereist.
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Auf Bitte, sie solle von ihren persönlichen Erfahrungen als Volkszugehörige der Tigray erzählen, gab sie an, im Jahr 2019 sei sie im vierten Studienjahr gewesen. Wegen ihrer Volkszugehörigkeit sei sie bedroht worden. Eines nachts sei ein Oromo in ihr Schlafzimmer gekommen und habe sie am Hals festgehalten und geschlagen, nur aufgrund ihrer Volkszugehörigkeit. Sie habe damals sogar ins Krankenhaus gemusst zur Behandlung. Damals sei sie sehr schwer verletzt gewesen an ihren Augen und ihrem Hals. Sie habe kaum schlucken können. Sie habe anschließend unter Angst gelitten. Wenn sie nachts etwas gehört habe, sei sie sofort hellwach geworden, sie sei an Depressionen und Ängsten erkrankt.
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2020 habe ihr Vater ein großes Problem aufgrund seiner Volkszugehörigkeit gehabt, er sei einfach gekündigt worden. Dann sei es ihnen auch wirtschaftlich schlechter gegangen. Sie hätten ca. zehn Jahre unter der o.g. Adresse gelebt, bis er gekündigt worden sei und zurück nach A. gemusst habe. Erst sei die Klägerin mit ihnen gegangen, dann nach A. zum fertig studieren und dann wieder nach A. In A. hätten sie sie nur wegen ihrer Volkszugehörigkeit beschimpft. Sie hätten gesagt, sie sei eine Terroristin, nur weil sie aus dem Tigray stamme. Sie sei bedroht und beleidigt worden. Sie habe dann zunächst kein Ergebnis von ihrem Studium bekommen. Sie habe ihren Lehrer gefragt und er habe gesagt, sie hätte nicht Soziologie fertig studiert. Auch das hätten sie bloß mit Absicht gemacht, sie habe alle Fächer besucht und abgeschlossen. Sie habe wegen ihrer Ergebnissen des Öfteren von A. A. besucht und mit ihren Lehrern gesprochen, aber sie hätten sie einfach ignoriert. Sie habe auch gefragt, ob sie ihren Vorgesetzten sprechen könne, was sie verneint hätten. Dann sei die Klägerin wieder zurückgegangen. Sie seien auch von einer anderen Volksgruppe. Auf Frage, ob der Vorfall mit dem Oromo ein einmaliger körperlicher Übergriff gewesen sei, gab sie an, ja, das sei nur einmal passiert. Aber auf dem Campus habe es allgemein viele Probleme gegeben. Sie als Frauen hätten alle einen Monat zu Hause bleiben müssen. Auch die Polizei hätte nichts unter ihre Kontrolle gebracht. Auf Frage, ob sie den Oromo bei der Polizei angezeigt habe, gab sie an, nein, sie hätten sie nur zum Krankenhaus gebracht, sie hätten sich nicht für sie verantwortlich gefühlt. Nachdem die Klägerin ein Universitätszeugnis vorgelegt habe, wurde sie gefragt, ob sie versucht habe, mit diesem Abschlusszeugnis Arbeit in Äthiopien zu erlangen. Hierzu gab sie an, sie habe nur sehr schwer dieses Zeugnis bekommen. Sie habe es erst Ende März erhalten, alle vor ihr jedoch bereits im Dezember. Sie habe viermal mit dem Lehrer gesprochen, am Ende habe er gesagt, wenn die Klägerin das tue, was er wolle, bekomme sie ihr Zeugnis. Ende März habe sie dann das Zeugnis erhalten. Sie habe damit nicht Arbeit finden oder ihr Leben damit führen können. Alle Leute aus dem Tigray, sowie ihr Vater, erhielten keine Arbeit. Auf Nachfrage gab sie an, dass der Lehrer verlangt habe, dass die Klägerin mit ihm habe schlafen müssen.
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Auf Bitte, ihren Alltag in den letzten Monaten vor ihrer Ausreise aus Äthiopien zu schildern, gab sie an, wie sie bereits gesagt habe, habe sie bis März auf ihr Zeugnis gewartet, sie sei gestresst und unter Druck gewesen, habe sich krank gefühlt und sei nur zu Hause gewesen. Auf Frage, ob sie sich dauerhaft von einer bestimmten Person bedroht gefühlt habe oder eher allgemein aufgrund der aktuellen Umstände hinsichtlich ihrer Volkszugehörigkeit gab sie an, sie sei immer von allen Leuten beleidigt und bedroht worden, egal wohin sie gegangen sei. Sie hätten anhand ihres Namens immer sofort ihre Volkszugehörigkeit gewusst, sie bedroht und beleidigt. Auf Nachfrage, wen sie genau damit meine, wenn sie von der Bedrohung spreche, gab sie an, allgemein aufgrund der Krise, alle Tigray würden beleidigt. Ihnen werde gesagt, sie sollten in ihre Heimatregion gehen und nicht in A.bleiben. Das sei der Alltag gewesen. Sie habe dort immer Angst gehabt. Auf Frage, ob es zum Zeitpunkt ihres Fluchtantritts einen konkreten Auslöser oder Vorfall gegeben habe, gab sie an, vor ihrer Ausreise habe es nichts Konkretes gegeben, aber die allgemeinen Bedrohungen und Beleidigungen. Als sie zuletzt mit ihren Eltern gesprochen habe, hätten sie gesagt, es herrsche zu Hause eine Hungersnot und die wirtschaftliche Situation sei sehr schlecht. Es gebe dort keine Zukunft oder Hoffnung, deshalb habe sie sich zur Ausreise entschieden. Nachdem die Klägerin Fragen zur Beschneidung beantwortete, wurde sie gefragt, was sie denken würde, was passieren würde, wenn sie nach Äthiopien zurückkehre. Hierzu gab sie an, bei einer Rückkehr würde sich nichts ändern, sie wisse nicht, was noch passieren könnte. Auf Frage, ob sie ihr körperliches Wohl, ihr Leben in A.gefährdet sehe, gab sie an, es gebe dort keine Rechte, keine Freiheit und keinen Frieden. Sie könne auch dort keine Arbeit finden, ihre Eltern seien im Tigray. Dort herrsche aktuell Krieg. Sie seien auch in Gefahr. Die Klägerin habe einfach nichts bei einer Rückkehr. In Deutschland habe die Klägerin lediglich ihre Taufpatin, die sie namentlich benannte und die schon sehr lange in Deutschland sei.
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Mit Bescheid vom 27.10.2022 lehnte das Bundesamt den Antrag der Klägerin auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ab (Nr. 1). Zugleich wurde der Antrag auf Asylanerkennung abgelehnt (Nr. 2), der subsidiäre Schutzstatus nicht zuerkannt (Nr. 3) sowie festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 4). Die Klägerin wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe des Bescheides zu verlassen; im Falle einer Klageerhebung ende die Ausreisefrist 30 Tage nach dem unanfechtbaren Abschluss des Klageverfahrens. Sollte die Klägerin die Ausreisefrist nicht einhalten, werde sie nach Äthiopien abgeschoben. Die Klägerin könne auch in einen anderen Staat abgeschoben werden, in den sie einreisen dürfe oder der zu ihrer Rückübernahme verpflichtet sei. Die durch Bekanntgabe des Bescheids in Lauf gesetzte Ausreisefrist wurde bis zum Ablauf der Klagefrist ausgesetzt (Nr. 5). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG angeordnet und auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6).
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Zur Begründung wurde ausgeführt, die Voraussetzungen für die für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und die Anerkennung als Asylberechtigte lägen nicht vor. Allein der pauschale Verweis auf Diskriminierungen im Herkunftsland sei nicht ausreichend, um einen Schutzbedarf zu belegen. Es müsse im Einzelfall dargelegt werden, mit welchen konkreten Maßnahmen die Klägerin persönlich konfrontiert gewesen sei. Hieran mangele es im Sachvortrag der Klägerin. Sie habe lediglich von einem einzelnen Übergriff eines anderen Studenten im Jahr 2019 berichtet, hier sei jedoch kein zeitlicher (Kausal-)Zusammenhang mit der Ausreise im Juni 2021 erkennbar. Im März habe ihr Lehrer sich geweigert, ihr das Abschlusszeugnis auszuhändigen und habe gefordert, dass sie mit ihm schlafe. Letztlich habe sie ihr Abschlusszeugnis offenbar bekommen. Jedoch sei unklar, ob sich diese Angelegenheit mit dem Lehrer auf andere Weise erledigt habe. Auch hier sei kein Zusammenhang mit der Ausreise ersichtlich. Seitdem sei sie ständigen Drohungen und Beleidigungen ausgesetzt gewesen. Es sei nicht erkennbar, dass diese auch in ihrer Kumulierung eine schwerwiegende Verletzung ihrer grundlegenden Menschenrechte darstellten.
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Das Bundesamt komme zu dem Schluss, dass die Ausreise nach Deutschland eher mit der schlechten wirtschaftlichen Situation in Äthiopien in Zusammenhang stehe. Hierzu passe auch, dass der Zeitpunkt der Ausreise offenbar willkürlich gewählt sei und die Ausreise selber legal und ungehindert mit eigenen Papieren erfolgt sei. Hierzu sei Folgendes angemerkt: Der einzige deutsche Flughafen, der Non-Stopp von A.aus angeflogen werde, sei der der Flughafen Frankfurt am Main. Das VG Ansbach habe festgestellt, dass die allgemeine Behauptung äthiopischer Asylsuchender, problemlos mit gefälschten Dokumenten über den Flughafen Frankfurt/Main in die Bundesrepublik Deutschland einreisen zu können, haltlos sei. Grundsätzlich würden die seitens der Drittstaatsangehörigen im Rahmen der grenzpolizeilichen Einreisekontrolle vorgelegten Ausweisdokumente eingehend auf Fälschungs- und/oder Verfälschungsmerkmale hin überprüft. Die Grenzübertrittskontrollen richteten sich nach den Vorgaben des Schengener Grenzkodex. Danach würden alle Drittstaatsangehörigen, somit auch äthiopische Staatsangehörige, bei der Ein- und Ausreise eingehend kontrolliert. Insbesondere würden überprüft die Ein- und Ausreisestempel im Reisedokument des Drittstaatsangehörigen, um durch einen Vergleich der Ein- und Ausreisedaten festzustellen, ob die zulässige Höchstdauer des Aufenthalts im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten bereits überschritten worden sei, es erfolge die Überprüfung der Abfahrts- und Zielorte des Drittstaatsangehörigen sowie des Zwecks des beabsichtigten Aufenthalts und, soweit erforderlich, die Überprüfung der entsprechenden Belege. Des Weiteren werde überprüft, ob der Drittstaatsangehörige über ausreichende Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts für die beabsichtigte Dauer und den beabsichtigten Zweck des Aufenthalts, für die Rückreise in den Herkunftsstaat oder für die Durchreise in einen Drittstaat, in dem seine Zulassung gewährleistet sei, verfüge oder in der Lage sei, diese Mittel rechtmäßig zu erwerben. Folglich werde zur Verifizierung des Reisezwecks regelmäßig auch die Vorlage etwaiger Belege, wie beispielsweise Einladungen, Hotelbuchungen sowie Rückflugtickets verlangt.
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Die Angaben der Klägerin zur behaupteten Einreise in die Bundesrepublik Deutschland seien daher nicht glaubhaft. Sie müsste – damit dies so wie behauptet möglich sei – legal in die Bundesrepublik Deutschland eingereist sein mit der Folge, dass dann auch die Ausreise aus Äthiopien legal erfolgt sei. Hieraus folge auch, dass die Klägerin sehr wohl im Besitz eines eigenen äthiopischen Reisepasses gewesen sei – ein Umstand, den sie offenbar zu verschleiern versuche.
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Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus lägen ebenfalls nicht vor. Es sei insbesondere kein staatliches Verfolgungsinteresse ersichtlich. Die Klägerin berufe sich auf eine ernsthafte individuelle Bedrohung ihres Lebens oder ihrer Unversehrtheit, weil sie als Zivilperson von willkürlicher Gewalt im Rahmen eines in ihrem Herkunftsland bestehenden innerstaatlichen bewaffneten Konflikts betroffen sei. Die Feststellung des subsidiären Schutzstatus scheitere jedoch schon am Vorliegen eines den Anforderungen des § 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG genügenden Konflikts. Ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt im Sinne dieser Norm sei anzunehmen, wenn die regulären Streitkräfte eines Staates auf eine oder mehrere bewaffnete Gruppen träfen oder wenn zwei oder mehrere bewaffnete Gruppen aufeinanderträfen. Er liege nicht vor, wenn es sich nur um innere Unruhen und Spannungen wie Tumulte, vereinzelt auftretende Gewalttaten und andere ähnliche Handlungen, die nicht als bewaffnete Konflikte gelten, handele. Nach diesen Maßstäben lägen die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG nicht vor. Richtig sei, dass es in einigen Regionen Äthiopiens zu ethnischen Konflikten komme (Gambella, Südregion, Grenzgebiet der Siedlungsgebiete von Oromo und Somali), die erhebliche Binnenvertreibungen zur Folge hätten. Hintergrund dieser bewaffneten Auseinandersetzungen seien größtenteils Ressourcenkonflikte mit langer Vorgeschichte, die begünstigt durch einen Autoritätsverlust der regionalen Behörden in Folgedes Machtwechsels von 2018 auf nationaler Ebene aufgeflammt seien, aber nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit diesem stünden. Die Auseinandersetzungen erreichten -mit Ausnahme des Regionalstaates Tigray – in keiner weiteren Region Äthiopiens bürgerkriegsähnliche Zustände.
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Es seien auch keine Abschiebungsverbote gegeben.
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Eine Abschiebung gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG sei unzulässig, wenn sich dies aus der EMRK ergebe. In Betracht komme dabei in erster Linie eine Verletzung des Art. 3 EMRK und damit die Prüfung, ob im Fall einer Abschiebung der Betroffene tatsächlich Gefahr liefe, einer dieser absoluten Schutznorm widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Es drohe der Klägerin aber keine durch einen staatlichen oder nichtstaatlichen Akteur verursachte Folter oder relevante unmenschliche oder erniedrigende Behandlung. In Bezug auf Gefahren einer Verletzung des Art. 3 EMRK, die individuell durch einen konkret handelnden Täter drohten, sei daher keine andere Bewertung als bei der Prüfung des subsidiären Schutzes denkbar.
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Darüber hinaus könne eine Verletzung des Art. 3 EMRK ausnahmsweise auch dann in Betracht kommen, wenn die Klägerin im Falle ihrer Abschiebung tatsächlich Gefahr laufe, im Aufnahmeland auf so schlechte humanitäre Bedingungen (allgemeine Gefahren) zu treffen, dass die Abschiebung dorthin eine Verletzung des Art. 3 EMRK darstelle. Die Abschiebung trotz schlechter humanitärer Verhältnisse könne danach nur in sehr außergewöhnlichen Einzelfällen als unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu bewerten sein und die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK erfüllen.
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Die derzeitigen humanitären Bedingungen in Äthiopien führten nicht zu der Annahme, dass bei Abschiebung der Klägerin eine Verletzung des Art. 3 EMRK vorliege. Die hierfür vom EGMR geforderten hohen Anforderungen an den Gefahrenmaßstab seien nicht erfüllt. Bei Rückkehr nach Äthiopien könne im Allgemeinen von der Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ausgegangen werden.
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In den vergangenen Jahren habe sich Äthiopien zu einer der am schnellsten wachsenden Ökonomien entwickelt. Offizielle Statistiken zeigten ein durchschnittliches BIP-Wachstum von rund neun bis zehn Prozent. Modernisierungen in der Landwirtschaft hätten dazu geführt, dass mehr landwirtschaftliche Güter exportiert als importiert würden. Die eigene Bevölkerung könne in aller Regel selbst ernährt werden. Weiter sei die äthiopische Regierung bemüht, das Land aus der Armut herauszuführen und habe bereits in sei vergangenen Jahren enorme Fortschritte erzielen können: Nach Angaben der Weltbank sei der Anteil der extrem Armen in den letzten Jahren deutlich gesunken und das Pro-Kopf-Einkommen spürbar gestiegen. Der Anteil der äthiopischen Bürger, denen mehr als zehn US-Dollar Einkommen am Tag zur Verfügung stehe, habe sich in den letzten Jahren verzehnfacht. Somit könne davon ausgegangen werden, dass zumindest in den meisten Regionen, in jedem Fall aber in A., eine – wenn auch häufig sehr bescheidene – Existenzsicherung gewährleistet sei. Dies gelte insbesondere für Rückkehrer aus dem Ausland, die über besondere Qualifikationen und Sprachkenntnisse verfügten. Grundsätzlich sei es möglich, sich bereits mit geringfügigen Mitteln eine Existenzgrundlage zu schaffen. Dabei werde nicht verkannt, dass die Grundversorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln nicht in allen Landesteilen Äthiopiens und nicht zu jeder Zeit gesichert sei. Nach Regierungsangaben benötigten 20 Millionen Menschen humanitäre Hilfe, die aber von den äthiopischen Behörden zum Großteil selbst erbracht bzw. durch Unterstützung aus dem Ausland sichergestellt werde. Es lägen auch keine Anhaltspunkte dafür vor, dass Rückkehrer von einer Nahrungsmittelhilfe ausgeschlossen wären.
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Dass sich die Situation aufgrund des Ausbruchs der Corona-Pandemie und der Heuschreckenplage sowie Überschwemmung verschärft haben könnte, ergebe sich weder aus den zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnisquellen hinreichend konkret noch sei dies anderweitig ersichtlich.
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Die Klägerin sei eine gesunde und arbeitsfähige Frau, welche bereits vor ihrer Ausreise in der Lage gewesen sei, selbstständig ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Darüber hinaus müsse sie sich darauf verweisen lassen, dass sie noch über einige Verwandte in ihrem Heimatland verfüge, welche sie zumindest übergangsweise finanziell unterstützen könnten. Es bestehe kein Grund zur Annahme, dass sie in ihrem Heimatland nicht mindestens das Existenzminimum erreichen könnte. Es sei ihr möglich und zumutbar, in ihr Heimatland zurückzukehren. Hinzu komme, dass sie im Falle ihrer freiwilligen Rückkehr nach Äthiopien finanzielle Unterstützung durch das Bundesamt aus den Programmen REAG bzw. GARP erhalten könne, die es ihr erleichtern würde, die Übergangszeit bis zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit zu überbrücken. Auch unter Berücksichtigung der individuellen Umstände der Klägerin sei die Wahrscheinlichkeit einer Verletzung des Art. 3 EMRK durch die Abschiebung nicht beachtlich. Individuelle außergewöhnliche Umstände seien nicht ersichtlich. Auch die Verletzung anderer Menschenrechte oder Grundfreiheiten der EMRK komme nicht in Betracht. Ferner wurde die Anordnung und Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots begründet. Die Klägerin verfüge nach den für sie gemachten Angaben im Bundesgebiet über keine wesentlichen persönlichen, wirtschaftlichen oder sonstigen Bindungen, die im Rahmen der Ermessensprüfung zu berücksichtigen wären. Auf die weiteren Ausführungen wird verwiesen.
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Mit am 18.11.2022 bei Gericht eingegangenem Schriftsatz ließ die Klägerin durch ihre Bevollmächtigte Klage gegen den Bescheid vom 27.10.2022 erheben.
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Im Falle der Klägerin lägen die Voraussetzungen des § 3 AsylG vor. Die Klägerin sei äthiopische Staatsangehörige von dem Volk der Tigrinya. Sie sei in A.geboren, habe zwei Schwestern und einen Bruder, die noch bei den Eltern lebten. Die erste bis sechste Schulklasse habe sie im Tigray absolviert. Aufgrund der Arbeit des Vaters sei die Familie jedoch wieder nach A.zurückgekehrt, sodass sie die siebte bis zwölfte Klasse in A.besucht habe. Nach ihrem Schulabschluss sei sie an die Universität in A. gegangen. Dort habe sie auch gelebt, sei aber in den Ferien zur Familie zurückgekehrt. Bereits nach der Wahl Abiys hätten die ethnischen Auseinandersetzungen begonnen. Tigrinyastämmige Personen seien beschuldigt worden, die Ursache der früheren Korruption gewesen zu sein. Diese Auseinandersetzung habe sich auch auf die Universitäten erstreckt. Auch die Universität von A. sei schon 2019 davon betroffen gewesen. Es sei zu Angriffen auf die tigrinya-stämmigen Studenten wie die Klägerin gekommen, ohne dass der Sicherheitsdienst eingegriffen hätte. Sie sei dabei so schwer verletzt worden, dass ein Krankenhausaufenthalt erforderlich gewesen sei.
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Auch die Familie der Klägerin habe in A.Erfahrungen ethnischer Verfolgung gemacht. In den sozialen Medien habe der Hate Speech zugenommen, tigrinya-stämmige Personen seien quasi für Freiwild erklärt, beleidigt und angegriffen worden. Der Vater der Klägerin, der lange Jahr in einem Regierungsjob gearbeitet habe, habe diesen ohne Begründung verloren. Der Vater habe sich in der TPLF engagiert und an entsprechenden Treffen teilgenommen. Dies sei den Nachbarn bekannt gewesen. Sie hätten angefangen, die Familie von sozialen Nachbarschaftstreffen auszuschließen. Die Familie sei beleidigt und misshandelt worden, sie hätten sich kaum getraut, das Haus zu verlassen. Daraufhin sei die Familie 2020 nach A. gezogen. Da die Universität damals aufgrund der Corona-Pandemie geschlossen gewesen sei, habe die Klägerin diesen Umzug mitgemacht und habe sich ebenfalls zunächst in A. aufgehalten. Kurz vor Ausbruch des Bürgerkriegs in Tigray sei die Universität wieder geöffnet worden und sie sei nach A. zurückgekehrt. Sie habe noch einige Monate zur Graduierung gehabt, die schon wegen Covid herausgezögert worden sei. Daher sei sie das Risiko der Rückkehr an die Universität eingegangen, ihre Familie sei darüber nicht froh gewesen. Ihre ID-Karte habe die Klägerin bei der Familie in A.zurückgelassen. Sie habe sich nur mit ihrem Schülerausweis ausweisen wollen, da aus der ID-Karte ihre Ethnie ersichtlich sei. Kurz nach ihrer Rückkehr an die Universität sei der Krieg ausgebrochen. Hierdurch habe die Klägerin alle Verbindungen zu ihrer Familie verloren. Das Internet und das Telefonnetz seien zusammengebrochen. Sie habe vergeblich versucht, über das Rote Kreuz Nachrichten von ihrer Familie zu erhalten. Die Wege dorthin seien gesperrt gewesen, es habe keinerlei Möglichkeiten gegeben. In ihrem Studentenwohnheim sei sie vom Sicherheitsdienst der Universität und der Zivilpolizei befragt, beleidigt und nach ihrer Familie gefragt worden. Sie sei dazu einige Tage eingeschlossen worden. Bei ihrer Freilassung habe man ihr gesagt, das Verfahren sei nicht abgeschlossen. In dieser Zeit sei sie vom Leiter ihres Departments vergewaltigt worden. Sie sei zu einer Freundin aus Kindertagen geflohen, die mit ihrer Familie in A.gelebt habe und sie für einige Monate versteckt habe. In dieser Zeit habe sie einmal Telefonkontakt mit ihrer Mutter gehabt. Sie habe erfahren, dass sich diese weiterhin in einer prekären Situation (keine Nahrung, Bombenangriffe) im Tigray befunden habe und der Vater und Bruder sich den Rebellen angeschlossen hätten. In der Zwischenzeit habe sie zudem erfahren, dass ihr Onkel getötet worden sei. Ihre Freundin habe der Klägerin mitgeteilt, dass man nach ihr und der Familie suchen würde.
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Der Bescheid des Bundesamts sei rechtswidrig, da er die aktuelle politische Situation in Äthiopien nicht berücksichtige. Im Fall der Rückkehr sei davon auszugehen, dass die Klägerin (erneut) Opfer ethnisch motivierter Gewalt werden würde. Es wurde auf verschiedene Auskunftsmittel verwiesen, die zum Gegenstand des Verfahrens gemacht würden. Aus diesen gehe hervor, dass ethnische Tigrinya auch in A. und anderen Landesteilen Opfer ethnischer Übergriffe seien und der Klägerin ein Ausweichen in andere Landesteile nicht möglich sei. Auch im Fall nichtstaatlicher Übergriffe stünde der Klägerin angesichts der aktuellen Situation kein Schutz durch den äthiopischen Staat zur Verfügung. Zu Recht gehe das Verwaltungsgericht Münster daher von einer Gruppenverfolgung von tigrinya-stämmigen Personen in Äthiopien aus.
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Jedenfalls aber lägen bei der Klägerin die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG vor. Das Bundesamt berücksichtige dabei nicht, dass die Verbindungen zur Familie im Bürgerkrieg abgebrochen seien. Die Klägerin würde daher als alleinstehende junge Frau einer Ethnie, die Übergriffen in Äthiopien ausgesetzt sei, zurückkehren. Unter diesen Umständen wäre ihr die Sicherung ihres Lebensunterhalts nicht möglich. Auf einen Beitrag der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 16.09.2022 wurde hingewiesen.
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Nachdem der Rechtsstreit mit Beschluss 24.03.2023 auf den Einzelrichter zur Entscheidung übertragen und mit weiterem Beschluss vom 27.03.20123 wurde über einen Antrag der Klägerin auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe entschieden worden war, wurde ergänzend geltend gemacht, der Prozesskostenhilfebeschluss verkenne neben den Anforderungen an eine Prozesskostenhilfeentscheidung, dass die Klägerin vorverfolgt aus Äthiopien ausgereist sei. Sei eine Person vorverfolgt ausgereist, erfolge eine Privilegierung über die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 QRL, wonach vermutet werde, dass die Furcht vor Verfolgung begründet sei. Diese Vermutung könne nur widerlegt werden, wenn stichhaltige Gründe dagegensprächen – was hier nicht ersichtlich sei –, dass erneut eine derartige Verfolgung drohe. Soweit das Gericht davon ausgehe, dass die Übergriffe nur regional begrenzt gewesen seien, widerspreche dies den vorliegenden Erkenntnissen. So seien zum Zeitpunkt der Ausreise der Klägerin Angehörige der Ethnie der Tigray landesweit aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit verfolgt, verhaftet und misshandelt worden. Auf einen früheren Schriftsatz und die dort genannten Quellen werde verwiesen (wurden beigefügt; ebenso wurde ein Urteil des VG Münster vorgelegt, das auf mündliche Verhandlungen vom 30.11.2020 und 19.04.2022 ergangen ist). Trotz des Friedensschlusses komme es weiterhin zu Übergriffen auf ethnische Tigray. So berichte der EEPA Situation Report, Horn of Africa, No. 408 vom 12.04.2023, dass es z.B. in der von Amharen besetzten Region im Tigray zu ethnisch motivierten Übergriffen komme. Zudem hätten sich die eritreischen Truppen, die für einen Großteil der ethnischen Säuberungen verantwortlich seien, nicht zurückgezogen und verübten weiterhin Übergriffe, Vergewaltigungen, etc..
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Aus den im Prozesskostenhilfebeschluss zitierten Briefing Notes ergebe sich nichts über die fortbestehende Verfolgungssituation. Die Tatsache, dass die TPLF von der Liste der Terrororganisationen genommen worden sei, sage über das oben beschriebene Vorgehen der eritreischen Truppen und die anhaltenden Ressentiments gegen ethnische Tigray nicht aus.
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Vor diesem Hintergrund sei auch nicht davon auszugehen, dass die alleinstehende Klägerin trotz ihrer Ausbildung im Fall der Rückkehr eine Anstellung finden würde. Dabei sei zu berücksichtigen, dass die Regierung Abiys ethnische Tigray aus ihren Posten entfernt habe; Geschäfte hätten geschlossen werden müssen, ein Großteil der tigrinischen Bevölkerung sei der Möglichkeit der Erwerbstätigkeit beraubt worden. Auf den Bericht „Because of the war, many Tigrayans no longer identify with Ethiopia” vom 16.01.2023 werde verwiesen.
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Die Klägerin beantragt,
die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 27.10.2022 zu verpflichten, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft,
hilfsweise subsidiären Schutz gemäß § 4 AsylG zuzuerkennen,
hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Äthiopiens vorliegen, äußerst hilfsweise, den Bescheid in Nr. 6 aufzuheben.
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Die Beklagte beantragt,
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Zur Begründung bezieht sich die Beklagte auf die angefochtene Entscheidung.
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Am 10.05.2023 wurde eine mündliche Verhandlung durchgeführt. Die darin gestellten unbedingten Beweisanträge hat das Gericht mit Beschluss vom 23.05.2023 abgelehnt; dem ist die Klägerseite mit am 02.06.2023 eingegangenem Schriftsatz entgegengetreten.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte samt Protokoll über die mündliche Verhandlung und die beigezogenen Behördenakten Bezug genommen (§ 117 Abs. 3 Satz 2 VwGO).
Entscheidungsgründe
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I. Die Streitsache ist entscheidungsreif. Soweit sich die Bevollmächtigte mit Schriftsatz vom 02.06.2023 zu dem Beschluss des Gerichts vom 23.05.2023 geäußert und weiterhin die Auffassung vertreten hat, dass eine Beweiserhebung notwendig sei – es wurden u.a. „Beweisanträge präzisiert bzw. wiederholt“ – handelt es sich in der Sache um Beweisanregungen (häufig als „Gegenvorstellung“ bezeichnet), über die im Urteil entschieden werden kann; eines eigenständigen förmlichen Beschlusses bedarf es dagegen nicht (vgl. hierzu BayVGH, B.v. 20.11.2017 – 11 ZB 17.31318 – juris).
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Die Ausführungen im Schriftsatz vom 02.06.2023 führen indessen nicht dazu, dass abweichend von dem Beschluss des Gerichts vom 23.05.2023 eine Beweiserhebung veranlasst wäre. Gerügt wurde insbesondere, dass die zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnismittel eine Einschätzung der Verfolgungssituation von tigrinya-stämmigen Personen in Äthiopien nach dem Friedensschluss/Waffenstillstand nicht zuließen.
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Zu der Situation von tigrinischen Volkszugehörigen wurde im Beschluss vom 23.05.2023 keineswegs verkannt, dass die Betroffenheit („Verfolgung“) im Zeitablauf ggf. unterschiedlich zu würdigen sein wird. Neben zahlreichen Quellen, die eine valide Bewertung der Lage in der Vergangenheit (insbesondere in dem explizit benannten Zeitraum „Sommer 2021“) zulassen, sind zum Gegenstand des Verfahrens auch eine Reihe von Erkenntnismittel gemacht worden, die das Gericht in die Lage versetzen, die aktuelle Verfolgungssituation belastbar einschätzen zu können. Beispielhaft sei in diesem Kontext noch einmal verwiesen auf den Beitrag von apnews vom 13.04.2023 (vgl. S. 2/3 des Protokolls vom 10.05.2023) oder den EEPA Situation Report Nr. 408 (vgl. S. 2 des Schriftsatzes vom 21.04.2023), ferner die ebenfalls von der Klägerseite zitierten Berichte aus dem Guardian vom 05.01.2023 und von ethiopia-insight vom 16.01.2023 („Because of the war, many Tigrayans no longer identify with Ethiopia“) – vgl. S. 2 des Schriftsatzes vom 21.04.2023. Ein Beitrag der Deutschen Welle vom 01.06.2023 befasst sich u.a. mit anhaltender Gewalt in West-Tigray (vgl. S. 3 des Schriftsatzes vom 02.06.2023), eine weitere Facette wird in einem Bericht des Guardians vom 31.05.2023 behandelt („Ethiopian Airlines faces legal case over claims it blocks Tigrayans from travel“). Die beiden weiteren im Schriftsatz von 02.06.2023 erwähnten Beiträge von addisfortune.news und HRW sind dagegen bereits älteren Datums (01.09.2021 und 13.11.2020), wohingegen die zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Briefing Notes des Bundesamts aktuelle Entwicklungen jeweils zeitnah aufgreifen und auch kritisch behandeln. In einer Zusammenschau der zahlreich eingeführten Briefing Notes über einen längeren Zeitraum sind diese durchaus geeignet, zur Beurteilung der Lage im zeitlichen Ablauf beizutragen.
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Richtig ist allerdings auch, dass sich aktuelle Quellen vor allem mit der (schwierigen) Situation für tigrinische Volkszugehörige im Tigray selbst (dort insbesondere in West-Tigray) befassen und Auskünfte betreffend die landesweite (Verfolgungs-)Situation (oder doch zumindest in …*) in Bezug auf Tigriner nach dem Waffenstillstandsabkommen „spärlich“ erscheinen (vgl. S. 3 des Schriftsatzes vom 02.06.2023). Fehlt es aber an belastbaren Hinweisen, dass eine landesweite (insbesondere auch in A.festzustellende) Verfolgung aus Gründen der tigrinischen Volkszugehörigkeit mit einer entsprechenden Intensität und Häufigkeit überhaupt ernsthaft in Betracht zu ziehen sein könnte, so ergibt sich aus diesem Blickwinkel gerade nicht die Notwendigkeit einer Beweiserhebung.
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In einer Gesamtschau sämtlicher der zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Quellen lassen sich greifbare Hinweise auf eine gegenwärtige landesweite Verfolgung von tigrinischen Volkszugehörigen nicht ansatzweise entnehmen. Die insoweit beantragte Beweiserhebung würde daher ins Blaue hinein erfolgen und ist somit nicht veranlasst. Nicht zuletzt die aktuellen, die Situation nach dem Waffenstillstandsabkommen betreffenden Quellen der Klägerseite – diese befasst sich ersichtlich tiefgehend mit der Situation in Äthiopien und speziell auch der Lage von Tigrinern –, zeigen, dass es eben keine hinreichenden, zur Beweiserhebung nötigenden Anknüpfungspunkte für eine gegenwärtige landesweite Verfolgung von Tigrinern gibt. Die zahlreich eingeführten Briefing Notes des Bundesamts, die sich durchaus ganz aktuell mit der Situation auch im Tigray und von tigrinischen Volkszugehörigen befassen (vgl. Briefing Notes vom 27.03.2023 und 24.04.2023), bestätigen diesen Befund bzw. legen keinesfalls nahe, dass auf der Basis von entsprechenden Anknüpfungspunkten die Notwendigkeit einer Beweiserhebung zu bejahen wäre. Vielmehr deuten die Quellen bei einer Gesamtbetrachtung sämtlich darauf hin, dass jedenfalls nach dem Waffenstillstand im November 2022 Diskriminierungen, Festnahmen u.ä. von Tigrinern deutlich nachgelassen haben – dies im Gegensatz zu der „Hochphase“ des Tigray-Konflikts, v.a. während des verhängten Ausnahmezustand.
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Eine Beweiserhebung ist schließlich auch nicht in Bezug auf den Beweisantrag Nr. 4 geboten. Die Klägerin hat im Schriftsatz vom 02.06.2023 moniert, dass sich die vorliegenden Erkenntnisse zwar ausführlich mit der allgemeinen (schwierigen) humanitären Situation befassen würden, nicht aber auf die spezifische Situation von tigrinya-stämmigen Personen eingingen. Diesbezüglich gebe es aber Hinweise auf ein Muster an Diskriminierung (u.a. Wohnungssuche, Bestreitung des Lebensunterhalts), doch fehlten ausführliche Quellen diesbezüglich. Die von der Klägerseite in diesem Kontext benannten beiden Erkenntnismittel – die damit zum Gegenstand des Verfahrens gemacht wurden – wurden zum einen erst im Nachgang zu dem in der mündlichen Verhandlung angebrachten Beweisantrag angeführt, nachdem der Übergang in das schriftliche Verfahren bereits erfolgt war; insoweit sind sie in rechtlicher Hinsicht Teil der mit dem Schriftsatz vom 02.06.2023 angebrachten Beweisanregungen. Zum anderen – und dies ist ein maßgeblicher Aspekt – handelt es sich um Beiträge älteren Datums (01.09.2021: „Central Bank Suspends Accounts Opened in Tigray State“ – und 13.11.2020: „Ethiopia: Protect People as Tigray Crisis Escalates“), deren Relevanz für die Beurteilung der aktuellen humanitären Verhältnisse in Äthiopien deutlich herabgesetzt ist. Denn beide Beiträge entstammen einer Zeit, in der sich der Tigray-Konflikt jeweils in einer „Hochphase“ befunden hatte: So war der Konflikt zwischen der Zentralregierung und der Regionalregierung in Tigray eben im November 2020 eskaliert (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 14.06.2021, S. 5) und es fiel in den September 2021, dass Abiy Ahmed zur Generalmobilmachung aufgerufen hatte (vgl. Lagebericht vom 18.01.2022, S. 4). Vor diesem Hintergrund drängt sich die beantragte bzw. angeregte Beweiserhebung, die sich auf die aktuelle humanitäre Lage zu beziehen hätte, nicht auf. Ferner gelten die Erwägungen aus dem Beschluss des Gerichts vom 23.05.2023 fort, dass es für die Beurteilung der Frage, ob die Klägerin ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG beanspruchen kann, ganz maßgeblich auf die bei ihr konkret vorliegenden Einzelfallumstände ankommt und dass in diesem Zusammenhang Fragen der Glaubhaftigkeit des Vortrags – zum Beispiel betreffend etwaigen Rückhalt bzw. das Vorhandensein hinreichend tragfähiger Strukturen im Heimatland – und ggf. der Glaubwürdigkeit der betreffenden Person insgesamt ankommt, die nicht auf externe Gutachter verlagert werden können, sondern dem Gericht zur Entscheidung zugewiesen sind, dies nicht zuletzt auf der Grundlage der in mündlicher Verhandlung gewonnenen Erkenntnisse.
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II. Über die Klage kann ohne (weitere) mündliche Verhandlung (§ 101 Abs. 2 VwGO) entschieden werden, da die Bevollmächtigte der Klägerin durch Erklärung in der mündlichen Verhandlung vom 10.05.2023 auf die Durchführung einer weiteren mündlichen Verhandlung verzichtet hat (S. 9 des Protokolls). Die entsprechende schriftsätzliche Erklärung des Bundesamts datiert vom 07.06.2023. Die prozessuale Vorgehensweise war in der mündlichen Verhandlung mit der erschienenen Klägerseite einvernehmlich skizziert worden (vgl. S. 8/9 des Protokolls).
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III. Die zulässige Klage hat in der Sache keinen Erfolg. Der angegriffene Bescheid vom 27.10.2022 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO). Diese hat keinen Anspruch auf die mit der Klage geltend gemachten Rechtspositionen. Das Bundesamt hat vielmehr insbesondere den Asylantrag zu Recht abgelehnt. Rechtlich nicht zu beanstanden ist ferner die Verneinung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5, Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Auch im Übrigen erweist sich der angefochtene Bescheid als rechtmäßig.
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In der Sache selbst schließt sich das Gericht zur Vermeidung unnötiger Wiederholungen zunächst im Wesentlichen den Gründen des angefochtenen Bescheides an und sieht von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab (§ 77 Abs. 3 AsylG). Ergänzend ist zur Sache sowie zur Klage das Folgende auszuführen:
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1. Nach Überzeugung des Gerichts hat die Klägerin Äthiopien verlassen, ohne dass sie von asylrelevanten (landesweiten) Verfolgungsmaßnahmen des äthiopischen Staates und/oder anderer Stellen/Kräfte betroffen oder konkret bedroht gewesen wäre, sei es in der Art einer Gruppenverfolgung oder speziell auf ihre eigene Person bezogen. Auch in Bezug auf den aktuellen Zeitpunkt ergibt sich kein anderes Bild der Betroffenheit von tigrinischen Volkszugehörigen, die sich außerhalb des Tigray aufhalten oder prognostisch in eine Region außerhalb des Tigray zurückkehren werden.
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Das VG Gießen hat in einem Urteil vom 27.01.2023 (Az. 6 K 2160/19.GI.A – juris), das in der mündlichen Verhandlung thematisiert wurde (vgl. S. 5 des Protokolls), zu der Frage einer etwaigen Gruppenverfolgung von tigrinischen Volkszugehörigen im Kontext des Tigray-Konflikts Folgendes ausgeführt:
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Die Feststellung einer gruppengerichteten Verfolgung setzt eine bestimmte Verfolgungsdichte voraus, welche die Regelvermutung eigener Verfolgung rechtfertigt. Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Voraussetzung für die Annahme einer Gruppenverfolgung ist zudem, dass die festgestellten Verfolgungsmaßnahmen die von ihnen Betroffenen gerade in Anknüpfung an flüchtlingsrechtlich relevante Merkmale treffen. Ob eine in dieser Weise spezifische Zielrichtung vorliegt, die Verfolgung mithin „wegen“ eines der in § 3 Abs. 1 AsylG genannten Merkmale erfolgt, ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme selbst zu beurteilen, nicht nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden dabei leiten.
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Unter Berücksichtigung dieser Vorgaben ist nicht zu erkennen, dass im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung jeder Person tigrinischer Herkunft allein wegen ihrer Volkszugehörigkeit eine landesweite Verfolgung in Äthiopien drohen würde. Im November 2020 ist der Konflikt zwischen der Zentralregierung und der TPLF in der Region Tigray militärisch eskaliert und es gab seitdem auch zahlreiche bestätigte Berichte von Diskriminierung und Einschüchterung gegen Menschen tigrinischer Abstammung – auch in Addis Abeba und anderen Teilen des Landes. So wurden zahlreiche Tigriner von ihrer Arbeit entlassen, von ihnen geführte Geschäfte, Hotels, Bars und Restaurants wurden geschlossen und ihre Bankkonten wurden blockiert. Sie wurden davon abgehalten, an Bord inländischer und internationaler Flüge zu gehen und manche wurden willkürlich festgenommen. Viele tigrinische Mitglieder der Polizei- und Sicherheitskräfte wurden entweder festgenommen oder suspendiert. Die Maßnahmen richten sich selbst gegen ausländische Bürger tigrinischer Abstammung.
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Auslöser für die militärische Eskalation des Konflikts war ein Angriff der TPLF – die im Mai 2021 vom äthiopischen Parlament als terroristische Vereinigung eingestuft wurde – auf Militärbasen der Regierungstruppen. Obwohl die äthiopische Regierung u. a. nach der Einnahme der Regionalhauptstadt Mekelle den Konflikt am 28. November 2020 einseitig für beendet erklärte, dauerten die im November 2020 begonnenen militärischen Auseinandersetzungen zwischen der Bundesregierung in Addis Abeba*und der TPLF bzw. den Tigray Defence Forces (TDF) weiter an. Nachdem der Premierminister Abiy am 10. September 2021 zwischenzeitlich eine Generalmobilmachung anordnete und am 1. November 2021 für sechs Monate ein landesweiter Ausnahmezustand ausgerufen wurde, der frühzeitig am 15. Februar 2022 aufgehoben wurde, scheint sich die Lage derzeit zu beruhigen. Seit Mitte 2022 finden Friedensverhandlungen statt und nunmehr besteht seit dem 2. November 2022 ein Waffenstillstandsabkommen zwischen der äthiopischen Regierung und der TPLF nachdem zwischenzeitlich von einem Wiederaufflammen der Kämpfe berichtet worden war. Ende 2022 erfolgten weiterführende Gespräche zwischen der Regierung und der TPLF, erste Hilfslieferungen erreichten Tigray und es wird von einem Rückzug der eritreischen Armee aus Tigray berichtet.
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Im Zuge dieses Konfliktes und insbesondere während des Ausnahmezustandes kam es auch zu Personenkontrollen, Hausdurchsuchungen und Festnahmen ethnischer Tigray in Addis Abeba. Der Ausnahmezustand berechtigte u. a. zur Errichtung von Straßensperren, Unterbrechung der Kommunikationsverbindungen, Rekrutierung von Volljährigen, Übernahme der Verwaltung durch das Militär in bestimmten Bereichen und auch zur Inhaftierung von Verdächtigen mit Verbindungen zu „terroristischen“ Gruppen für die Dauer des Ausnahmezustands. Am 16. November 2021 teilte die UN mit, dass mindestens 1.000 Menschen, meist ethnische Tigray, seit der Ausrufung des Ausnahmezustandes Anfang November 2021 landesweit festgenommen worden seien. Von Seiten der Regierung hieß es dazu, dass die Inhaftierungen nicht ethnisch motiviert seien, sondern darauf abzielten, Unterstützer der TPLF festzunehmen. Quellen zufolge sollen sich jedoch auch Mütter mit Kindern und ältere Menschen in Haft befunden haben. Die äthiopische Regierung bestritt wiederholt, dass es ethnisch diskriminierende Maßnahmen gegen Tigray geben würde. Sie räumte gleichzeitig ein, dass einige Maßnahmen aufgrund von einer mutmaßlichen TPLF-Mitgliedschaft und/oder „korrupten Methoden“, die mit der TPLF in Verbindung gebracht würden, ergriffen wurden. Mittlerweile ist der Ausnahmezustand wieder beendet und es ist eine Entspannung der Situation zu erkennen.
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Nach alledem ist im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nicht zu erkennen, dass dem Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit wegen seiner Volkszugehörigkeit eine landesweite Gruppenverfolgung drohen würde. So sind Fokus der Strafverfolgungsmaßnahmen gegen Tigriner vor allem Mitglieder der Führungsebene der TPLF. Andere Personen mit TPLF-Bezug ohne exponierte Stellung (ehemalige TPLF-Kämpfer, Angehörige, Sympathisanten) sind offiziell nicht Ziel der Strafverfolgungsmaßnahmen. Ein wie auch immer gearteter TPLF-Bezug des Klägers ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.
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Auf der Basis der zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Unterlagen teilt das erkennende Gericht die Einschätzung des VG Gießen, dies bezogen zunächst auf den Zeitpunkt der Ausreise der Klägerin aus Äthiopien am 02. bzw. 03.06.2021 (vgl. Bl. 65, 74, 108, 124 d.A.) und umso mehr in Bezug auf den aktuellen Entscheidungszeitpunkt (vgl. § 77 Abs. 1 AsylG).
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Die Betroffenheit von tigrinischen Volkszugehörigen, die sich außerhalb des Tigray aufgehalten haben, ist während der verschiedenen Phasen des Tigray-Konflikts unterschiedlich zu beurteilen. Ob in den „Hochphasen“ des Konflikts Maßnahmen gegen tigrinya-stämmige Personen eine Häufigkeit und eine Intensität erreicht hatten, die die Annahme einer Gruppenverfolgung rechtfertigen (bejahend das von der Klägerseite übergebene Urteil des VG Münster Az. 9 K 2206/17.A für den damals maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt am 19.04.2022 – dies in Abweichung zum vormaligen Urteil vom 30.11.2020 – 9 K 2206/17.A – juris), kann vorliegend aber offenblieben.
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Das VG Regensburg hat die Situation zusammenfassend für den April 2022 dahin bewertet (vgl. U.v. 04.05.2022 – RO 16 K 19.32232 – juris [dort derzeit irrtümlich mit Entscheidungsdatum 04.05.2023 erfasst), dass die Lage ziviler Angehöriger zum Volk der Tigriner in A.während des Ausnahmezustandes schwierig gewesen sei. Allerdings lägen stichhaltige Gründe dafür vor, dass zum für die Entscheidung maßgeblichen Zeitpunkt keine Verfolgung ziviler Zugehöriger zum Volk der Tigriner mehr zu befürchten sei. Denn aus den im einzelnen dargestellten Erkenntnissen könne entnommen werden, dass die Maßnahmen gegenüber der zivilen Bevölkerung in Zusammenhang mit dem am 02.11.2021 ausgerufenen Notstand und dem Vorrücken der tigrinischen Rebellen auf A.gestanden hätten. Vor der Ausrufung des Notstandes durch die äthiopische Regierung hätten keine Hausdurchsuchungen und Massenverhaftungen bezogen auf zivile Tigriner stattgefunden. Entsprechende Maßnahmen seien nach der aktuellen Erkenntnislage auch nach der Beendigung des Notstandes nicht mehr ergriffen worden. Zudem sei der Ausnahmezustand frühzeitig beendet worden, als die tigrinischen Rebellen aus den Gebieten Amhara und Afar hätten zurückgedrängt werden können. Ein erneutes Vorrücken der tigrinischen Rebellen sei seitdem nicht mehr zu verzeichnen. Nach neuesten Auskünften habe die äthiopische Regierung am 24.03.2022 einen sofortigen humanitären Waffenstillstand verkündet. Die TPLF habe der Waffenruhe zugestimmt und angekündigt, Kampfhandlungen umgehend einzustellen. Damit bestehe nach der Überzeugung des Gerichts keine beachtliche Wahrscheinlichkeit (mehr), dass der äthiopische Staat gegenüber zivilen Angehörigen der Volksgruppe der Tigriner Maßnahmen ergreifen werde, nachdem es ihm gelungen sei, die Kontrolle über Städte in Amhara und Afar zurückzuerobern und die tigrinischen Rebellen zurückzudrängen und nachdem für die Hauptstadt A.keine konkrete und unmittelbare Bedrohung mehr durch die tigrinischen Rebellen bestehe.
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Die Ausführungen des VG Regensburg verdienen Zustimmung. Nach den eingeführten Auskunftsmittel hat sich die Situation bzw. Betroffenheit von tigrinischen Volkszugehörigen (außerhalb des Tigray) seit Dezember 2021, spätestens seit Februar 2022 ersichtlich deutlich verbessert (vgl. etwa Länderreport 53 des Informationszentrums Asyl und Migration – Äthiopien: Tigray, Stand: 09/2022 mit zahlreichen weiteren Nachweisen; siehe hierzu auch Schweizerische Flüchtlingshilfe, Äthiopien: Verfolgung von Tigray, Stand: 23.09.2022, S. 7 ff., ebenfalls m.w.N.). In der zuletzt genannten Quelle wird davon berichtet, dass seit Juni 2021, genauer gesagt ab Ende Juni 2021, eine Zunahme des „ethnischen Profilings“ gegenüber Tigray, Massenverhaftungen und willkürlichen Inhaftierungen, etc. festzustellen gewesen sei. Seit Oktober 2021 und nach der Verhängung des Ausnahmezustands im November 2021 habe es eine neue Welle von Verhaftungen gegeben.
53
Für den Ausreisezeitpunkt der Klägerin in den ersten Tagen des Juni 2021 lässt sich indessen eine Zuspitzung der Situation für tigrinische Volkszugehörige ersichtlich (noch) nicht feststellen. Sie war seinerzeit zudem nicht unmittelbar bevorstehend, auch wenn nicht verkannt wird, dass es zu als von den Betroffenen sehr unangenehm empfundenen Alltagsdiskriminierungen, etc. gekommen sein mag. Jedenfalls aber kommt ein Erreichen der notwendigen Gefahrenschwelle frühestens ab Oktober 2021 in Betracht, so dass die Klägerin im Zeitpunkt ihrer Ausreise von Maßnahmen im Sinne einer etwaigen Gruppenverfolgung – ob eine solche für die „Hochphase“ des Tigray-Konflikts angenommen werden könnte, kann wie bereits erwähnt offenbleiben – weder bereits betroffen noch unmittelbar bedroht war.
54
Für die konkrete Situation der Klägerin, die sich zuletzt vor ihrer Ausreise in A.aufgehalten hatte, und dafür, dass diese jedenfalls im Zeitpunkt ihrer Ausreise aus Äthiopien keiner asylrelevanten Vorverfolgung unterlegen war, gelten überdies die folgenden Erwägungen:
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In ihrer Anhörung beim Bundesamt hat die Klägerin u.a. geschildert, wie ihr Alltag in den letzten Monaten vor ihrer Ausreise aus Äthiopien ausgesehen habe. Ihre Darstellung deckt sich mit dem Befund, dass es zu gewissen alltäglichen Schwierigkeiten, Diskriminierungen, etc. gekommen ist, ohne dass sich dies auf die Person der Klägerin irgendwie zugespitzt habe. So wurde angegeben, sie sei gestresst und unter Druck gewesen, habe sich krank gefühlt, sei nur zu Hause gewesen; eine Verknüpfung der Unannehmlichkeiten mit einer bestimmten Person wurde nicht hergestellt („immer von allen Leute beleidigt und bedroht worden“, alle Tigray seien beleidigt worden). Einen konkreten Auslöser für die Ausreise („Fluchtantritt“) hat die Klägerin explizit verneint; es habe gerade nichts Konkretes gegeben, aber die allgemeinen Bedrohungen und Beleidigungen; die Situation zu Haue (im Tigray) sei sehr schlecht gewesen; es gebe dort keine Zukunft/Hoffnung – deshalb habe sich die Klägerin zur Ausreise entschieden (vgl. S. 6 der Anhörungsniederschrift).
56
Im deutlichen Gegensatz dazu hat die Klägerin schriftsätzlich vortragen lassen, sie sei im Studentenwohnheim vom Sicherheitsdienst sowie der Zivilpolizei beleidigt und befragt worden (auch nach ihrer Familie) sowie gar einige Tage eingeschlossen worden. Vom Leiter ihres Departements sei sie vergewaltigt worden. Neu anbringen lassen hat die Kläger zudem, dass sich ihr Vater in der TPLF engagiert und an entsprechenden Treffen teilgenommen habe. Zu der Freundin aus Kindertagen sei sie „geflohen“ und diese solle ihr dann noch mitgeteilt haben, dass man nach der Klägerin und deren Familie suchen würde (S. 2/3 des Schriftsatzes vom 02.12.2022).
57
Diesen nachgeschobenen, gesteigerten Darstellungen wohnt nach Überzeugung des Gerichts eine Glaubhaftigkeit nicht inne. Die Klägerin hat im Vergleich zu nicht wenigen ihrer Landsleute eine gute Schulbildung genossen und ist hervorragend ausgebildet. Es kann ihr nicht abgenommen werden, wenn sie einerseits beim Bundesamt keinen einzigen konkreten Auslöser für die Flucht benennen können möchte – wohl aber detailliert beschreibt, wie sie ihr Abschlusszeugnis verspätet erhalten habe –, nachträglich dann aber geltend macht, es sei sogar nach ihr gesucht worden. Auch eine Tätigkeit ihres Vaters für die TPLF hätte die Klägerin sicherlich angegeben, wenn dies der Wahrheit entsprochen hätte. Für die weiteren Elemente ihres gesteigerten Vorbringens gilt nichts anders. Die in der mündlichen Verhandlung angebrachten Erklärungen, aus welchen Gründen nicht bereits beim Bundesamt vollständig der wesentliche Sachverhalt, vor allem die für die Ausreise angeblich ursächlichen auslösenden Elemente, benannt werden sind, sind ohne Überzeugungskraft geblieben. Die Klägerin sei etwa nicht danach gefragt worden, habe es so verstanden, sie solle nur auf die gestellten Fragen antworten, habe damals Stress gehabt (vgl. S. 6 – 8 des Protokolls). Gestützt wird dieser Befund dadurch, dass die Klägerin die von ihr erlebten alltäglichen allgemeinen Diskriminierungen nachvollziehbar emotional bewegt geschildert hat. In Bezug auf die nachgeschobenen, gesteigerten Aspekte der Klagebegründung, die z.T. in der mündlichen Verhandlung wiederholt wurden, war dies von Seiten des Gerichts – anders als zu erwarten, soweit es z.B. um den angeblich getöteten Onkel geht – dagegen nicht festzustellen. Die gesteigerten Elemente wurden vielmehr in einer Weise zusätzlich lapidar angeführt, die nicht den Schluss auf tatsächlich Erlebtes bzw. Erfahrenes zulässt. Es trifft insbesondere auch nicht zu, dass der Vortrag im Nachgang zur Anhörung beim Bundesamt nicht erheblich gesteigert worden, sondern nur vertieft worden wäre (vgl. hierzu S. 7/8 des Protokolls).
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Aus dem gesamten Verfahren kann das Gericht daher nur den Schluss ziehen, dass die Klägerin ihre „Fluchtgeschichte“ im Zuge der Klagebegründung und anknüpfend daran auch in der mündlichen Verhandlung gesteigert hat, um sich eine vermeintlich günstigere Ausgangsposition im Asylverfahren zu verschaffen. Den „neuen“ Darstellungen in der Klagebegründung kann eine Glaubhaftigkeit damit insgesamt nicht zugesprochen werden. Insbesondere glaubt das Gericht daher weder, dass die Klägerin (samt Familie) im Zeitpunkt ihrer Ausreise konkret gesucht worden wäre, noch dass sie bzw. ihre Familie die neu geschilderten Rechtsgutsverletzungen wirklich erlitten hätte, noch dass ihr in A.wohnender Onkel zwischenzeitlich getötet worden sei.
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Auch für den aktuellen Zeitpunkt gibt es – wie bereits erwähnt – keine greifbaren Anhaltpunkte für eine (landesweite) Gruppenverfolgung von tigrinischen Volkszughörigen in Äthiopien. Die Klägerin wird prognostisch nach A.zurückkehren, wo sie geboren wurde, längere Jahre gelebt hat und wo sie über Strukturen verfügt (vgl. hierzu näher unten), die es ihr bei realistischer Betrachtung erleichtern werden, in Äthiopien wiederum Fuß zu fassen. Es mag durchaus zutreffen, dass es auch heute noch zu gewissen Alltagsdiskriminierungen und Ausgrenzungen wegen der Volkszugehörigkeit kommt und dass auch in Bezug auf anderen Volksgruppen die „ethnischen Verwerfungen durch das Waffenstillstandsabkommen“ im Vielvölkerstaat Äthiopien freilich nicht vollends „überwunden“ (vgl. S. 3 des Schriftsatzes vom 02.06.2023) sind. Der zuvor referierte Maßstab für eine Gruppenverfolgung ist jedoch ein ganz anderer. Dass bezüglich sämtlicher Angehöriger der Minderheit der Tigriner in Äthiopien, die jedoch mit ca. 6% der Bevölkerung eine ganz erhebliche Gesamtzahl ausmacht (vgl. Lagebericht vom 18.01.2022, S. 13), aktuell entweder ein staatliches Verfolgungsprogramm festzustellen oder sonst eine hinreichende Verfolgungsdichte festzustellen wäre (vgl. zu den Maßstäben nochmals näher BeckOK MigR/Wittmann § 3 AsylG, Rn. 34 ff.), lässt sich den Erkenntnismittel nicht ansatzweise entnehmen. Solches zeigt auch die Klägerin nicht auf. In den die aktuelle Situation beschreibenden Quellen wird fast ausnahmslos auf andauende Probleme von Tigrinern im Tigray (vor allem in West-Tigray) eingegangen, dies gilt auch für die zitierten Übergriffe in der von Amharen besetzten Region im Tigray, den „ethnischen Säuberungen“ durch eritreische Truppen (vgl. Beitrag von DW vom 01.06.2023: Human Rights Watch: Gewalt in West-Tigray hält an) oder den verweigerten Ticketverkauf für Flüge aus der nördlichen Tigray-Region nach A.(vgl. zum Ganzen: Schriftsatz vom 02.06.2023, S. 3). Es wurde bereits dargelegt, dass sich in diesem Kontext eine Beweiserhebung ins Blaue hinein keineswegs aufdrängt (vgl. I.). In materieller Hinsicht erweist sich der streitgegenständliche Bescheid damit als rechtmäßig, soweit er einen Anspruch der Klägerin auf Zuerkennung internationalen Schutzes verneint.
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In Bezug auf den Vorfall aus dem Jahr 2019, bei dem die Klägerin vom einem Oromo angegriffen worden sei, ist ergänzend anzumerken, dass das Bundesamt diesen zu Recht als nicht (mehr) relevant eingestuft hat, nachdem es ersichtlich an dem notwendigen Zusammenhang mit der Ausreise im Jahr 2021 fehlt.
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2. Die Klägerin hat auch keinen Anspruch auf Feststellung eines zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK. Bei der Prüfung eines Abschiebungsverbotes aus humanitären Gründen im Rahmen des § 60 Abs. 5 AufenthG ist ein „sehr hohes Niveau“ anzulegen und eine „besondere Ausnahmesituation“ erforderlich. Nur in „ganz außergewöhnlichen Fällen“, nämlich wenn die humanitären Gründe gegen die Abschiebung mit Bild auf die allgemeine wirtschaftliche Lage und die Versorgungslage betreffend Nahrung, Wohnraum und Gesundheitsversorgung „zwingend“ sind, liegen die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG vor (vgl. BVerwG, B. v. 22.09.2020 – 1 B 39.20 – juris; BVerwG, U.v. 04.07.2019 – 1 C 45.18 – juris; BVerwG, B. v. 08.08.2018 – 1 B 25.18 – juris; BayVGH, U. v. 12.12.2019 – 8 B 19.31004 – juris; BayVGH, B. v. 28.07.2022 – 23 ZB 22.30547).
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Dies ist der Fall, wenn der Schutzsuchende seinen existenziellen Lebensunterhalt nicht sichern kann, kein Obdach findet oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhält oder sich die betroffene Person unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befindet, die es ihr nicht erlaubt, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre psychische oder physische Gesundheit beeinträchtigt oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzt, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre. Das wirtschaftliche Existenzminimum ist bereits dann gesichert, wenn erwerbsfähige Personen durch eigene, notfalls auch wenig attraktive und ihrer Vorbildung nicht entsprechende Arbeit, die grundsätzlich zumutbar ist, oder durch Zuwendungen von dritter Seite jedenfalls nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten das zu ihrem Lebensunterhalt unbedingt Notwendige erlangen können, wobei zu den im vorstehenden Sinne zumutbaren Arbeiten auch Tätigkeiten zählen, für die es keine Nachfrage auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gibt, die nicht überkommenen Berufsbildern entsprechen und die nur zeitweise, etwa zur Deckung eines kurzfristigen Bedarfs, beispielsweise während der Touristensaison, ausgeübt werden können, selbst wenn diese Bereiche der so genannten „Schatten- oder Nischenwirtschaft“ angehören (vgl. BVerwG, B. v. 19.01.2022 – 1 B 83.21 – juris; BayVGH, B. v. 28.07.2022 – 23 ZB 22.30547). Maßstab für die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ist die beachtliche Wahrscheinlichkeit, das heißt bei einer auf absehbare Zeit ausgerichteten Zukunftsprognose muss aufgrund einer sorgfältigen Würdigung aller Umstände des jeweiligen Einzelfalls mehr für als gegen die Annahme sprechen, der Betreffende werde bei seiner Rückkehr einer Behandlung im oben dargelegten Sinne ausgesetzt sein (BVerwG, U.v. 04.07.2019 – 1 C 33/18 – juris, BayVGH, B. v. 28.07.2022 – 23 ZB 22.30547).
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Gemessen daran ist bei der Klägerin ein nationales Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK nicht festzustellen. Die Klägerin ist jung, gesund und arbeitsfähig. Dabei ist sie mit ihrem Bachelor-Abschluss im technischen Bereich und dem dabei erzielten ordentlichen Ergebnis im Vergleich zu vielen ihrer Landsleute weit überdurchschnittlich gut ausgebildet (vgl. Bl. 110 d.A., S. 2 des Protokolls), spricht neben tigrinya auch amharisch und englisch; ferner hat sie während ihres Aufenthalts in Deutschland gute Kenntnisse der deutschen Sprache erworben (vgl. S. 39, 104 d.A., S. 2 des Protokolls). Zu bemerken ist zudem, dass sie in Deutschland in Vollzeit bei … arbeitet und bereit wäre, eine Ausbildung im Pflegebereich zu absolvieren (vgl. S. 2 des Protokolls). Dies belegt eine erhebliche berufliche Flexibilität und persönliche Einsatzbereitschaft, die es der Klägerin ermöglichen werden, auch in Äthiopien wiederum Fuß zu fassen und gewisse Hemmnisse in der ersten Zeit erfolgreich zu überwinden. Die Klägerin hat auch keine Unterhaltslasten, sondern wird prognostisch auf Unterstützung gerade in der Anfangszeit nach der Rückkehr nach A.rekurrieren können. Es wurde bereits dargelegt, dass der Klägerin das nachgeschobene Ableben ihres in A. wohnhaften Onkels nicht abgenommen werden kann (vgl. oben Nr. 1). Darüber hinaus hat die Klägerin bereits vor ihrer Ausreise übergangsweise bei einer Freundin in A.gelebt; es ist nicht ersichtlich, warum ihr diese Freundin (oder deren Eltern, mit denen die Familie der Klägerin befreundet war) nicht zumindest für eine erste Anlaufzeit Unterstützung nach der Rückkehr zukommen sollte, sei es in wohnungsmäßiger Hinsicht, aber auch anderweitig. Soweit die Klägerin in der mündlichen Verhandlung erwähnt hat, dass sie für die Leute, die ihr vor ihrer Ausreise Unterkunft gewährt hätten, zur „Last“ geworden sei, erscheint dies menschlich durchaus nachvollziehbar. Auch im Kontext der Rückkehr geht es bei realistischer Prognose jedoch nicht um die Notwendigkeit einer länger andauernden oder gar dauerhaften Unterstützung, sondern nötigenfalls um einen gewissen Beistand in der ersten Zeit nach der Rückkehr, bis die Klägerin „auf eigenen Füßen“ stehen wird. Angesichts ihrer hervorragenden Ausbildung und Tüchtigkeit wird dieser Zeitraum überschaubar kurz ausfallen, zumal sie auf nicht unerhebliche Leistungen (Geld- und Sachleistungen) für Rückkehrer bauen kann. Soweit mit der Begründung des Beweisantrags Nr. 4 ausgeführt wurde, dass die zu erwartenden Geldleistungen bereits durch die Flugkosten mehr als aufgezehrt würden, wird übersehen, dass bereits auf der Grundlage des REAG/GARP-Programms nicht nur die Fahrtkosten vom Wohnort zum Flughaften übernommen werden, sondern eben auch das Flugticket selbst; hinzu kommt eine einmalige finanzielle Förderung von 1.000,00 EUR pro Person (vgl. https://www.returningfromgermany. de/de/programmes/). Richtig ist, dass aus dem JRS-Programm grundsätzlich nur Sachleistungen gewährt werden; allerdings ist hierzu anzumerken, dass gerade als solche bewilligte Wohnungsunterstützung durchaus substantiell zur Reintegration beitragen kann (vgl. https://www.returningfromgermany.de/de/programmes/jrs/).
64
Soweit die genannten Hilfen ganz oder teilweise nur für freiwillige Rückkehrer gewährt werden, also teilweise nicht bei einer zwangsweisen Rückführung, kann die Klägerin daraus nichts für sich herleiten. Denn nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann ein Asylbewerber, der durch eigenes zumutbares Verhalten – wie insbesondere durch freiwillige Rückkehr – im Zielstaat drohende Gefahren abwenden kann, nicht die Feststellung eines Abschiebungsverbots verlangen (vgl. BVerwG, U.v. 15.04.1997 – 9 C 38.96 – juris). Dementsprechend ist es der Klägerin möglich und zumutbar, gerade zur Überbrückung der ersten Zeit nach einer Rückkehr nach Äthiopien freiwillig Zurückkehrenden gewährte Hilfe in Anspruch zu nehmen.
65
In der Zusammenschau der verschiedenen Hilfsprogramme und der für die Klägerin in A. … prognostisch zugänglichen Unterstützungsmöglichkeiten aus dem verwandtschaftlichen und freundschaftlichen Umfeld sowie der angesichts hervorragender Ausbildung und Sprachkenntnisse realistischen Möglichkeiten, einer ordentlich bezahlten Erwerbstätigkeit nachzugehen, ist in der vorliegenden Sache nicht ansatzweise erkennbar, dass die im Rahmen des § 60 Abs. 5 AufenthG anzulegende Schwelle erreicht wird.
66
Es gibt keine greifbaren Hinweise, dass die weiterbestehenden Alltagsdiskriminierungen, etc. von tigrinischen Volkszugehörigen dazu führen könnten, dass die Klägerin nicht in der Lage sein werde, eine auskömmliche Arbeitstätigkeit zu finden, mit der sie – auch auf dem durchaus teuren Wohnungsmarkt in A.- eine geeignete Unterkunft wird finanzieren können.
67
Soweit in einer neueren Auskunft des Auswärtigen Amts vom 31.01.2023 an das VG Frankfurt a.M. (Gz. …*) beschrieben wird, dass das Lohnniveau für Frauen mit keiner oder nur wenig Berufserfahrung in der Textil- und Bekleidungsindustrie so niedrig ist, dass davon in Städten wie A.die Lebenshaltungskosten nicht gedeckt werden könnten, ist die erwähnte Auskunft in der Sache für die Klägerin nicht einschlägig. Denn es ist nicht anzunehmen, dass für die Klägerin angesichts ihrer hervorragenden Ausbildung und Sprachkenntnisse die Notwendigkeit bestehen wird, in diesem Wirtschaftssektor eine unzureichend entlohnte Tätigkeit anzunehmen.
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Nur ergänzend ist zu bemerken, dass in der Auskunft – soweit diese den Eindruck vermitteln kann, die betroffenen Frauen könnten von einer Tätigkeit in der Textil- und Bekleidungsindustrie ohne familiäre Unterstützung gerade wegen der Wohnungskosten schlicht nicht leben – ein nicht unwesentlicher Faktor ausgeblendet, jedenfalls argumentativ nicht aufgegriffen wird. Bereits in einem Beitrag von „Akzente“ aus dem Jahr 2018 wird beschrieben, dass in der Tat die Löhne in diesem Wirtschaftssektor vor allem am Beginn einer Beschäftigung sehr niedrig sind – bei durchaus gegebenen Aufstiegsmöglichkeiten –, so dass der Lohn einer einfachen Näherin nicht ausreicht, um ein eigenes Zimmer zu mieten. Als ortsüblich wird aber in dem Beitrag ebenso beschrieben, dass sich Frauen, solange sie unverheiratet sind, ein Zimmer zu zweit oder dritt teilen; ihr Lebensstandard sei sehr einfach (vgl. https://akzente.giz.de/de/der-stoff-aus-dem-die-zukunft-ist). Auf diese Lebenswirklichkeit in Äthiopien – mag man sie auch als bedauerlich/ bedrückend, jedenfalls verbesserungswürdig empfinden – geht die Auskunft vom 31.01.2023 indessen nicht ein.
69
Für die Klägerin aber ist eine Zuspitzung der Wohnraumproblematik auch für die erste Zeit nach der Rückkehr schon deshalb nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, weil sie über verwandtschaftlichen/freundschaftlichen Rückhalt in A.verfügt, der ihr – wie bereits in der Vergangenheit – auch bei der Unterbringung prognostisch Hilfe wird zuteil werden lassen.
70
Daneben gibt es keine belastbaren Hinweise darauf, dass die Versorgungslage in Äthiopien – auch unter Berücksichtigung gewisser Einschränkungen und Verschärfungen u.a. durch die Corona-Pandemie, Dürre-/Überschwemmungsereignisse, die Folgen des Tigray-Konflikts bzw. die aktuellen Entwicklungen in Oromia und die Heuschreckenplage sowie des Russland-Ukraine-Kriegs – gegenwärtig außerhalb der Tigray-Region und angrenzender Gebiete des nördlichen Äthiopiens derart desolat wäre, dass die Klägerin bei Rückkehr Gefahr laufen würde, einer Behandlung ausgesetzt zu sein, die mit § 60 Abs. 5 AufenthG nicht zu vereinbaren wäre. Eine solche Kumulation ist bei Niederlassung der Klägerin außerhalb des besonders krisenbetroffenen Gebietes in Nordäthiopien nicht anzunehmen. Beispielsweise wurde der für etliche Gebiete der Welt nicht unwesentliche „Weizen-Deal“, der den Export von Getreide u.a. aus der Ukraine ermöglicht und der auch Äthiopien zugute kommt, jüngst noch ein weiteres Mal verlängert (vgl. https://www.zdf.de/nachrichten/politik/getreideabkommen-erdogan-ukraine-krieg-russland-100.html – S. 6 des Beschlusses vom 23.05.2023).
71
Es wird ferner nicht übersehen, dass die aktuelle Krise im Sudan zu einer weiteren Fluchtbewegung auch nach Äthiopien geführt hat. Allerdings sind die Flüchtlingszahlen, mit denen Äthiopien gegenwärtig in diesem Kontext additiv belastet wird, angesichts einer siebenstelligen Zahl an Binnenvertriebenen und einer sechsstelligen Zahl von Flüchtlingen aus dem Südsudan, Somalia und Eritrea – letztlich glücklicherweise – nicht so stark ausgeprägt, dass damit eine entscheidungserhebliche Verschlechterung der humanitären Lage einherginge (vgl. hierzu die in der mündlichen Verhandlung eingeführten Beiträge von OCHA, der UNO-Flüchtlingshilfe, IFRC und von africanews – siehe S. 3, 8 des Protokolls und vergleichend S. 5, 21 des Lageberichts vom 18.01.2022); der Großteil der zusätzlichen Sudan-Flüchtlinge migriert nach den eingeführten Quellen nicht nach Äthiopien, sondern innerhalb des eigenen Landes sowie in den Tschad, nach Ägypten und in den Südsudan (vgl. S. 2 des Beitrags von IFRC – S. 8 des Protokolls).
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Dass Äthiopien (weiterhin) auch auf die finanzielle Unterstützung anderer Staaten bzw. Organisationen bauen kann, wird anhand verschiedener eingeführter Quellen deutlich. So hatte etwa Österreich letztes Jahr weitere Hilfsgelder zugesagt (vgl. https://www.bmeia.gv.at/ministerium/presse/aktuelles/2022/10/8-millionen-euro-aus-auslandskatastrophenfonds-fuer-ostafrika-und-den-jemen/) und zahlenmäßig erhebliche Mittel werden von der EU sowie von USAID zur Verfügung gestellt (https://www.euractiv.de/section/eu-aussenpolitik/news/eu-abgeordnete-draengen-auf-mehr-humanitaere-hilfe-fuer-horn-von-afrika; https://disasterphilanthropy.org/disasters/ethiopia-tigray-crisis – beispielsweise hatte danach USAID am 27.07.2022 weitere 448 Mio. USD humanitäre Unterstützung für Äthiopien angekündigt).
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3. Die Klägerin hat auch keinen Anspruch auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
74
Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Die Gewährung von Abschiebungsschutz nach dieser Bestimmung setzt das Bestehen individueller Gefahren voraus. Beruft sich ein Ausländer dagegen auf allgemeine Gefahren im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG, wird Abschiebeschutz ausschließlich durch eine generelle Regelung der obersten Landesbehörde nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG gewährt. Fehlt eine politische Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG, kann ein Ausländer im Hinblick auf die (allgemeinen) Lebensbedingungen, die ihn im Abschiebezielstaat erwarten, insbesondere die dort herrschenden wirtschaftlichen Existenzbedingungen und die damit zusammenhängende Versorgungslage, ausnahmsweise Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG beanspruchen, wenn er bei einer Rückkehr aufgrund dieser Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre. Denn nur dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, ihm trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren. Wann danach allgemeine Gefahren von Verfassungs wegen zu einem Abschiebungsverbot führen, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhten Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Nach diesem hohen Wahrscheinlichkeitsgrad muss eine Abschiebung dann ausgesetzt werden, wenn der Ausländer ansonsten „gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde“ (vgl. BVerwG, U.v. 12.7.2001 – 1 C 5.01 – juris). Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren. Das bedeutet nicht, dass im Falle der Abschiebung der Tod oder schwerste Verletzungen sofort, gewissermaßen noch am Tag der Abschiebung, eintreten müssen. Vielmehr besteht eine extreme Gefahrenlage beispielsweise auch dann, wenn der Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage den baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert werden würde (vgl. zum Ganzen: BVerwG, U.v. 29.9.2011 – 10 C 24.10 – juris; BayVGH, U.v. 12.12.2019 – 8 B 19.31004 – juris; VG Würzburg, Gb.v. 11.5.2020 – 8 K 20.50114 – juris).
75
Die allgemein unsichere oder wirtschaftlich schlechte Lage im Zielstaat infolge von Hungersnöten, Naturkatastrophen oder Epidemien – und damit auch infolge der Verbreitung des Coronavirus bzw. der Ausbreitung der Heuschrecken in Äthiopien – begründet derartige Gefahren allgemeiner Art nach § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG, weil ihr die gesamte Bevölkerung oder eine ganze Bevölkerungsgruppe des betroffenen Landes (wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß) ausgesetzt ist (vgl. Kluth/Heusch in: BeckOK AuslR, § 60 AufenthG, Rn. 38 ff.; VG Würzburg, U.v. 3.7.2020 – W 3 K 19.31666 – juris; VG Würzburg, B.v. 3.12.2020 – W 3 S 20.31209 – juris).
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Es ist für das Gericht aber nicht ersichtlich, dass die Klägerin bei einer Rückkehr nach Äthiopien einer Extremgefahr im vorstehenden Sinne, die die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG in verfassungskonformer Auslegung durchbrechen könnte, ausgesetzt wäre. Im Übrigen sind – wie oben ausgeführt – schon nicht die Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK gegeben, da es sich vorliegend nicht um einen „ganz außergewöhnlichen Fall“ bzw. um eine „besondere Ausnahmesituation“ handelt. Daher ist eine „Extremgefahr“ im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG erst recht nicht gegeben.
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4. Schließlich kann die Entscheidung des Bundesamts in Nr. 6 des streitgegenständlichen Bescheids (Einreise- und Aufenthaltsverbot) in den durch § 114 VwGO gezogenen Grenzen rechtlich nicht beanstandet werden. Soweit die Klägerin etwa auf eine in Deutschland lebende Taufpatin hingewiesen hat, ist nicht erkennbar, dass das Bundesamt vor diesem Hintergrund gehalten gewesen wäre, eine kürzere Frist zu bestimmen. Auch der weitere Hilfsantrag bleibt daher jedenfalls in der Sache ohne Erfolg.
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IV. Nach allem ist die Klage mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG abzuweisen. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.