Inhalt

VG Bayreuth, Urteil v. 16.03.2023 – B 3 K 22.30249
Titel:

erfolgreiche Aufstockungsklage auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Einzelfall)

Normenkette:
AsylG § 3 Abs. 1, Abs. 4
Leitsatz:
Mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bereits bei seiner (hypothetischen) Wiedereinreise wird in das Visier des syrischen Sicherheitsdienstes geraten, wer in Syrien wegen Terrorismusverdachts inhaftiert war, aus einer zu dem syrischen Regime oppositionell eingestellten Familie stammt und zudem das Land unter Verstoß gegen räumliche Beschränkungen und Meldeauflagen verlassen hat. (Rn. 23) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Syrien, Anerkennung als Flüchtling bei Terrorismusverdacht, subsidiärer Schutzstatus, Aufstockungsklage, Inhaftierung, Terrorismusverdacht
Fundstelle:
BeckRS 2023, 16372

Tatbestand

1
Der Kläger, dem der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt wurde, begehrt im Wege der Aufstockungsklage seine Anerkennung als Flüchtling. Der Kläger ist syrischer Staatsangehöriger, arabischer Volks- und muslimischer Religionszugehörigkeit. Er reiste nach eigenen Angaben am 29.9.2020 aus seinem Heimatland aus und am 11.9.2021 nach Deutschland ein. Hier stellte er am 28.10.2021 einen Asylantrag.
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Zur Begründung seines Asylgesuchs führte er bei seiner Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) aus, er habe bis 2010 im Laden seiner Eltern in … gearbeitet. In … habe er dann im gleichen Bereich gearbeitet, aber dann sei der Krieg ausgebrochen und die Lage habe sich verändert. Er habe den Beruf ausgeübt, bis er Syrien habe verlassen müssen. Er habe in … studiert und 2011 sein Studium abgeschlossen. Bis 2011 sei er daher vom Militärdienst zurückgestellt gewesen. Später sei er jeweils für 6 Monate vom Militärdienst zurückgestellt worden, weil er unter Terrorverdacht gestanden habe, weil er aus … stamme. Diese Zurückstellung sei jedoch nicht im Militärheft vermerkt.
3
Der Bruder des Klägers sei am 24.2.2013 verhaftet worden und sie wüssten nichts von ihm. Dies sei geschehen, als das Haus des Klägers in … (…) konfisziert worden sei. Als der Kläger nach seinem Bruder habe fragen wollen, sei er 10 Tage in einem Keller festgehalten worden. Durch das Einwirken einer Persönlichkeit sei er dann freigelassen worden. Der Mann habe auch einen Antrag auf Versöhnung für ihn gestellt. Anschließend habe er sich alle 6 Monate bei diesem Mann melden müssen, um seine Zurückstellung zu erhalten.
4
Der Vater des Klägers sei 2016 verhaftet worden, habe aber durch Beziehungen in die VAE ausreisen können und sei dann in die Türkei gezogen. Als er noch in Syrien gewesen sei, hätten sie immer nach seinen Söhnen gefragt.
5
Das Haus in … sei 2018 weggenommen worden. Sie hätten dort auch landwirtschaftliche Grundstücke gehabt, die jedoch unter der Kontrolle schiitischer Milizen gestanden hätten.
6
2019 sei der Kläger nach … gegangen. Dort hätten ihm die Milizen den Vorschlag gemacht, dass er für sie arbeite und dann hätte er eine Karte bekommen, wonach alles gegen ihn aufgehoben sei. Das Regime hätte ihm dann nichts mehr antun können. Dies gelte auch in …, wo die Hisbollah herrsche. Der Kläger habe es aber abgelehnt mit den Milizen zusammenzuarbeiten.
7
2020 sei der Kläger auf dem Weg von … nach … entführt und 10 Tage festgehalten worden. Man habe Geld von seiner Familie erpressen wollen. Als er gesagt habe, dass er mit seiner Familie nichts zu tun habe, habe man ihn freigelassen.
8
Mit Bescheid vom 28.2.2022 erkannte das Bundesamt dem Kläger den subsidiären Schutz zu und lehnte seinen Asylantrag im Übrigen ab. Zur Begründung führte es aus, der Kläger habe keinen individuellen Verfolgungsgrund glaubhaft machen können. Er sei vielmehr wegen des herrschenden Bürgerkrieges und den sich daraus für sich und seine Familie ergebenden Folgen ausgereist. Nachdem der Kläger 2013 10 Tage vom Regime festgehalten worden sein solle, sei anschließend nichts mehr vorgefallen. Vom Wehrdienst sei er befreit gewesen, weshalb auch eine Verfolgung wegen Wehrdienstentziehung nicht in Betracht komme. Der Kläger habe auch angegeben, bereits im Jahr 2013 seine Versöhnung mit dem Regime erklärt zu haben.
9
Gegen diesen Bescheid erhob der Kläger mit Schriftsatz seiner Bevollmächtigten vom 16.3.2022 Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht Bayreuth. Er beantragt,
die Beklagte unter teilweiser Aufhebung ihres Bescheides vom 28.02.2022 zu verpflichten, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG zuzuerkennen.
10
Zur Begründung verweist er auf seine Angaben in der Anhörung durch das Bundesamt.
11
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
12
Zur Begründung bezieht sie sich auf den angefochtenen Bescheid.
13
Mit Kammerbeschluss vom 10.1.2023 wurde der Rechtsstreit auf die Berichterstatterin als Einzelrichterin übertragen.
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Ergänzend wird hinsichtlich des Sachverhalts auf die Gerichtsakte, die vorgelegte Behördenakte und das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 14.3.2023 verwiesen.

Entscheidungsgründe

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1. Die zulässige Klage hat auch in der Sache Erfolg. Der Kläger hat Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und ist daher durch den Bescheid der Beklagten vom 28.2.2022 in seinen Rechten verletzt.
16
2.1 Nach § 3 Abs. 4 i.V.m. Abs. 1 des Asylgesetzes (AsylG) besteht ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft dann, wenn sich der Ausländer aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will, und er keine Ausschlusstatbestände erfüllt. Eine solche Verfolgung kann nicht nur vom Staat ausgehen (§ 3c Nr. 1 AsylG), sondern auch von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (§ 3c Nr. 2 AsylG) oder nicht staatlichen Akteuren, sofern die in Nrn. 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (§ 3c Nr. 3 AsylG). Allerdings wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (§ 3e Abs. 1 AsylG).
17
Für die richterliche Überzeugungsbildung im Sinne von § 108 Abs. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) gilt Folgendes:
18
Das Gericht muss sich die volle Überzeugung von der Wahrheit des behaupteten Verfolgungsschicksals und der Wahrscheinlichkeit der Verfolgungsgefahr bilden. Eine bloße Glaubhaftmachung in der Gestalt, dass der Vortrag lediglich wahrscheinlich sein muss, ist nicht ausreichend (vgl. grundlegend BVerwG, U.v. 16.4.1985 – Az. 9 C 109.84 – juris). Es ist vielmehr der asylrechtliche Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zu Grunde zu legen. Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhaltes die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Hierbei darf das Gericht jedoch hinsichtlich der Vorgänge im Verfolgerland, die zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder der Feststellung eines Abschiebungsverbotes führen sollen, keine unerfüllbaren Beweisanforderungen stellen, sondern muss sich in tatsächlich zweifelhaften Fragen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen, auch wenn Zweifel nicht völlig auszuschließen sind (BVerwG, U.v. 16.4.1985 a.a.O.). Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. BVerwG, U.v. 20.2.2013 – Az. 10 C 23/12 – juris).
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Vorverfolgte werden über die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (RL 2011/95/EU – Anerkennungsrichtlinie) privilegiert. Danach ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von einer solchen Verfolgung und einem solchen Schaden bedroht wird. Als vorverfolgt gilt ein Schutzsuchender dann, wenn er aus einer durch eine eingetretene oder unmittelbar bevorstehende politische Verfolgung hervorgerufenen ausweglosen Lage geflohen ist. Die Ausreise muss das objektive äußere Erscheinungsbild einer unter dem Druck dieser Verfolgung stattfindenden Flucht aufweisen.
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Es obliegt dem Schutzsuchenden, sein Verfolgungsschicksal glaubhaft zur Überzeugung des Gerichts darzulegen. Er muss daher die in seine Sphäre fallenden Ereignisse, insbesondere seine persönlichen Erlebnisse, in einer Art und Weise schildern, die geeignet ist, seinen geltend gemachten Anspruch lückenlos zu tragen. Dazu bedarf es – unter Angabe genauer Einzelheiten – einer stimmigen Schilderung des Sachverhalts. Daran fehlt es in der Regel, wenn der Schutzsuchende im Lauf des Verfahrens unterschiedliche Angaben macht und sein Vorbringen nicht auflösbare Widersprüche enthält, wenn seine Darstellungen nach der Lebenserfahrung oder auf Grund der Kenntnis entsprechender vergleichbarer Geschehensabläufe nicht nachvollziehbar erscheinen, und auch dann, wenn er sein Vorbringen im Laufe des Verfahrens steigert, insbesondere wenn er Tatsachen, die er für sein Begehren als maßgeblich bezeichnet, ohne vernünftige Erklärung erst sehr spät in das Verfahren einführt (VGH BW, U.v. 27.8.2013 – Az. A 12 S 2023/11 – juris, HessVGH, U.v. 4.9.2014 – Az. 8 A 2434/11.A – juris).
21
Gemessen an diesen Grundsätzen hat der Kläger einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
22
2.2 Der Kläger wurde vor seiner Ausreise in Syrien aus politischen Gründen verfolgt. Er wurde nach seinen glaubhaften Schilderungen in der mündlichen Verhandlung im Jahr 2013 unter Terrorismusverdacht gefangengenommen und misshandelt. Seine Freilassung konnte der Kläger erreichen, indem er über Jahre hinweg Bestechungsgelder an einen Offizier leistete und seinen regelmäßigen Meldepflichten nachkam. Bei seiner Anhörung in der mündlichen Verhandlung konnte der Kläger alle Unklarheiten und Missverständlichkeiten, die sich aus dem Protokoll seiner Angaben beim Bundesamt ergaben, zur Überzeugung des Gerichtes beseitigen. Der Kläger schilderte die erlittene Verfolgung sachlich und detailliert und steigerte sein Vorbringen auch nicht. Es kann vorliegend dahinstehen, ob der Kläger unter dem Druck der erlittenen Vorverfolgung ausgereist ist, weil ihm jedenfalls bei einer Rückkehr zur Überzeugung des Gerichtes eine erneute Verfolgung durch den syrischen Staat aufgrund seiner (unterstellten) politischen Einstellung droht.
23
Der Kläger, der sich selbst offen gegen das syrische Regime ausspricht, stammt nach seinen glaubhaften Angaben aus einer Familie, die in Syrien für ihre oppositionelle politische Einstellung bekannt ist, ohne offen gegen das Regime tätig zu sein. Der Bruder des Klägers ist seit seiner Verhaftung im Jahr 2013 verschwunden. Der Vater des Klägers konnte im Jahr 2016 die eigene Freilassung erwirken und hat anschließend das Land verlassen. Die Herkunft des Klägers aus einem ehemals oppositionellen Gebiet erhöht zudem das Verdachtsmoment gegen den Kläger. Nach einer Auskunft des Auswärtigen Amtes an den Hessischen Verwaltungsgerichtshof, ist davon auszugehen, dass die Herkunft das Verdachtsmoment erhöht, vor der Unterstellung oppositioneller Haltung jedoch weitere Indizien herangezogen werden (AA, Auskunft an den HessVGH, 12.2.2019, 508-516.80/50333). Der Kläger stand bereits vor seiner Ausreise in Syrien aus diesen Gründen zur Überzeugung des Gerichtes unter „Terrorismusverdacht“. Er hat die sich daraus ergebenden Folgen für sein Leben in der mündlichen Verhandlung schlüssig geschildert. Durch das Verlassen des Landes hat er gegen die ihm auferlegten räumlichen Beschränkungen und Meldeauflagen verstoßen. Er wird daher mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bereits bei seiner (hypothetischen) Wiedereinreise in das Visier des syrischen Sicherheitsdienstes geraten, wobei ihm aufgrund seiner politischen Einstellung willkürliche Verhaftung, Inhaftierung ohne Gerichtsverfahren, Verschwindenlassen, tätliche Angriffen, sexualisierte Gewalt, Folter und Tötung im Gewahrsam der Sicherheitskräfte sowie Mordanschläge drohen (vgl. AA, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, Stand: November 2021, 29.11.2021, S. 14).
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3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei (§ 83b AsylG). Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 VwGO i.V. m. §§ 708 ff. ZPO.