Inhalt

VG Bayreuth, Urteil v. 07.02.2023 – B 1 K 22.167
Titel:

Maulkorbpflicht inner- und außerorts kombiniert mit Leinenzwang, Konkrete Gefahr, Beißvorfall mit Reh

Normenkette:
Art. 18 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 S. 1 LStVG
Schlagworte:
Maulkorbpflicht inner- und außerorts kombiniert mit Leinenzwang, Konkrete Gefahr, Beißvorfall mit Reh
Fundstelle:
BeckRS 2023, 16357

Tenor

1.    Ziffer 2 des Bescheids vom 20. Januar 2022 wird insoweit auf
gehoben, als darin ein Maulkorbzwang für die Hündin ... angeordnet wurde. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen. 2.    Die Kosten des Verfahrens werden gegeneinander aufgehoben.
3.    Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. 

Tatbestand

1
Die Kläger wenden sich gegen die Anordnung einer Maulkorbpflicht für die von ihnen auf ihrem Grundstück, …, gehaltenen beiden Hunde. Der Kläger zu 2) ist laut eigenen Angaben (Bl. 25 ff. der Behördenakte) Besitzer zweier Tschechoslowakischer Wolfshunde mit den Namen … (geb. am …) und „… (geb. am …). Die Klägerin zu 1) und der Kläger zu 2) sind Eheleute.
2
Am 15. September 2021 teilte eine Zeugin der Beklagten mit, dass sich am 8. September 2021 Folgendes zugetragen habe: Im Rahmen der Ferienbetreuung seien zwei Betreuerinnen mit elf Kindern wandern gewesen. Kurz vor dem Ortseingang … habe die Besitzerin zweier großer Hunde die Gruppe aufgefordert, am Feldweg stehenzubleiben; einer der Hunde laufe ohne Leine frei im Wald umher. Trotz längerem Rufen und Suchen sei es der Frau nicht gelungen, den Hund anzuleinen. Der Hund sei in Richtung der Gruppe gelaufen und nach wiederholten Rufen der Hundebesitzerin in unmittelbarer Nähe stehen geblieben.
3
Der Kläger zu 2) wurde mit Schreiben der Beklagten vom 10. Januar 2022 zum Erlass eines Bescheids mit Auflagen zur Hundehaltung mit Frist zur Stellungnahme bis zum 26. Januar 2021 angehört.
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Am 19. Januar 2022 gingen weitere schriftliche Mitteilungen von Zeugen bei der Beklagten ein:
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Die Zeugin Frau P. berichtete, dass sie im Oktober 2021 mit ihrer Tochter und dem Buggy auf die Klägerin zu 1) mit den Wolfshunden getroffen sei und den Weg mit ihr gemeinsam fortgeführt habe. Plötzlich habe der Wolfshund-Rüde in den Fußsack des Buggys gebissen. Frau P. sei außerdem am 20. Dezember 2021 mit ihrer Tochter und ihrer Hündin „…“ (Chihuahua) am Waldrand spazieren gegangen. Die „beiden Wolfshunde“ der Kläger hätten sich losgerissen und seien auf ihre Hündin zugerannt. „…“ habe die kleine Hündin gebissen und geschüttelt. Frau P. habe ihre Tochter aus dem Buggy gehoben, die Klägerin zu 1) habe „…“ aus dem Maul von „…“ gerissen und in den Buggy gelegt. „…“ habe sich ein zweites Mal losgerissen und sei zurückgekommen, habe aber nicht noch einmal angegriffen. „…“ sei in der Tierklinik behandelt worden. Die Tochter von Frau P. sei seither traumatisiert. Am Nachmittag des 14. Januar 2022 sei Frau P. mit ihren Kindern, ihrer Hündin „…“ und einer Freundin, ebenfalls mit Kind, im Dorf unterwegs gewesen. Die Kläger seien mit dem Auto vorgefahren und hätten das Hoftor ihres Anwesens geöffnet. Die Wolfshunde seien dabei durch das Hoftor entwischt. Sie seien auf die Mütter und ihre Kinder zugerannt, hätten sich auf „…“ gestürzt und diese gebissen. Die Mütter hätten sich mit ihren Kindern in Panik aus der Gefahrenzone gebracht; den Klägern sei es gelungen, die Wolfshunde zurückzuholen. „…“ habe schwere Verletzungen erlitten. Auch seien die Kinder seitdem traumatisiert.
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Der Vorfall vom 14. Januar 2022 (Bl. 4 der Behördenakte) wurde zudem aus Sicht einer weiteren Mitteilerin (Frau G.) geschildert. Diese führte aus, dass nachdem die Kläger auf ihren Hof gefahren seien, die Hunde hinausgestürmt seien und die Chihuahua-Hündin gebissen hätten. Sie und Frau P. seien mit ihren Kindern in Panik über die Kreisstraße gerannt, die Klägerin hätten die Hündin „…“ aus den „Fängen der Wolfshunde“ befreit. Durch das Zubeißen der großen Hunde und das Schütteln sei „…“ verletzt worden. Auf Blatt 67 der Behördenakte wird der Vorfall von Frau G. abermals geschildert: „Auf dem Rückweg kamen uns die beiden Wolfshunde entgegengerannt und versuchten gleich den kleinen Hund (…), der sich derweil zwischen uns und den Kindern versteckt hatte, zu fassen. Einer der Wolfshunde bekam den kleinen Hund zu fassen und schüttelte ihn in der Luft und lies ihn nicht mehr los“. Sie habe mehrmals beobachtet, dass die „Besitzerin“ mit der Kraft der Hunde beim Spazierengehen nicht zurechtkomme.
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Es wurde eine Rechnung der Tierklinik vom 21. Dezember 2021 in Höhe von 799,21 EUR (für eine Behandlung von Bissverletzungen beidseits an Thorax und von Rippenfrakturen am 20. Dezember 2021) und eine weitere vom 15. Januar 2021 in Höhe von 985,15 EUR (für eine Behandlung einer Bissverletzung mit Pneumothorax am 14. Januar 2022 mit stationärer Versorgung am 15. Januar 2022) vorgelegt (Bl. 63 ff. der Behördenakte).
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Ein weiteres Ereignis vom 28. Dezember 2020 wurde von einer anderen Mitteilerin am 18. Januar 2022 geschildert. Sie habe den Kläger zu 2) beim Spazierengehen mit seinen Hunden getroffen. Diese hätten ein Hundegeschirr getragen und seien an der Leine gelaufen. Der Kläger zu 2) habe sein Fahrrad geschoben. Als die Hunde sie und ihre Freundin bemerkt hätten, seien sie unruhig geworden, hätten gebellt und an der Leine gezerrt, so dass der Kläger zu 2) kaum noch aufrecht habe stehen können und über sein Fahrrad gestolpert sei. Ein Hund habe sich selbständig aus seinem Geschirr befreit und sei in den angrenzenden Wald gelaufen. Er sei den beiden Frauen noch ein ganzes Stück hinterhergelaufen.
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In der Behördenakte (Bl. 86) befindet sich darüber hinaus eine Ereignismeldung der PI … Am 22. November 2020 sei dem Jagdpächter gemeldet worden, dass im Landschaftsschutzgebiet nordwestlich von … eine Rehgeiß von einem Hund gerissen worden sei. Als sich der Jagdpächter zu dem Ort begeben habe, habe der Kläger zu 2) das Reh bereits erlöst gehabt, nachdem es von einem seiner beiden Hunde verfolgt und niedergerissen worden sei. Der Kläger zu 2) gab bei der Betroffenenanhörung an, dass er mit den Hunden und seiner Frau am Waldrand spazieren gegangen sei. Als sie sich in Richtung Ort bewegt hätten, hätten sie die Hunde an die kurze Leine umhängen wollen. Beim Umhängen sei der jüngere Hund seiner Frau entwischt und dem Reh hinterhergehetzt. Der Hund habe das Reh in den Hinterlauf gebissen und zu Boden gerissen.
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Mit Bescheid vom 20. Januar 2022 (zugestellt am 21. Januar 2022) ordnete die Beklagte an, dass die Hunde „…“ und „…“ ab einen Tag nach der Zustellung des Bescheids innerhalb bebauter Ortsteile, auf allen öffentlichen Anlagen, Wegen, Straßen und Plätzen nur angeleint auszuführen seien. Es sei jeweils eine reißfeste Leine mit schlupfsicherer, reißfester Halsung und einer maximalen Länge von 1,50 m zu verwenden. Die Leine und die Halsung seien so zu wählen, dass der Kraft und der Größe der Hunde Rechnung getragen werde. Anstelle einer Halsung könne auch ein schlupfsicheres, reißfestes Hundeführgeschirr verwendet werden (Nr. 1). Die Hunde „…“ und „…“ dürften ab einem Tag nach Zustellung des Bescheids in allen öffentlichen Anlagen, Wegen, Straßen und Plätzen innerhalb und außerhalb bebauter Ortsteile nur mit beißsicherem Maulkorb geführt werden. Es sei sicherzustellen, dass der Maulkorb für die Hunde geeignet sei und nicht durch den Hund selbst entfernt werden könne (Nr. 2). Die Hunde „…“ und „…“ seien bei nicht angeleintem Auslauf außerhalb geschlossener Ortschaft ab einem Tag nach Zustellung des Bescheids unverzüglich anzuleinen, sobald sich Menschen oder Tiere in Sichtweite befänden, oder eine sonstige Situation dies aus Sicherheitsgründen erfordere und ein ungewollter Kontakt nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden könne (Nr. 3). Die Hunde „…“ und „…“ dürften ab einem Tag nach Zustellung des Bescheids nur durch Personen über 18 Jahren ausgeführt werden, die in der Lage seien, die Hunde zu beherrschen und zum Führen der vorgenannten Hunde sowohl körperlich als auch charakterlich geeignet seien (Nr. 4). Um ein freies Umherlaufen der Hunde „…“ und „…“ zu unterbinden, seien die Hunde ab einem Tag nach Zustellung des Bescheides so zu halten, dass diese das Grundstück, … und das Grundstück Fl.-Nr. …, Gemarkung …, …, keinesfalls mehr unbeaufsichtigt und unangeleint verlassen könnten (Nr. 5). Die nachträgliche Änderung oder Ergänzung vorgenannter Auflagen sowie die Aufnahme weiterer Auflagen bleibe vorbehalten. Insbesondere könnten die Auflagen nach weiteren Erkenntnissen betreffend die Hundehaltung und die Hunde selbst neu überprüft und ggf. angepasst werden (Nr. 6). Die sofortige Vollziehung der Nrn. 1 bis 6 werde angeordnet (Nr. 7).
11
Zur Begründung wird ausgeführt, dass auf Grund der erneuten Meldung von Vorfällen am 19. Januar 2022 ein Abwarten der Anhörungsfrist nicht für angemessen erachtet worden sei. Es sei bereits zu Beißvorfällen gekommen, bei denen ein Hund verletzt worden sei. Dadurch habe sich die von den Hunden ausgehende abstrakte Gefahr bereits realisiert. Es könne nicht sein, dass größere Hunde, welche völlig überraschend und offensichtlich grundlos zugebissen hätten, frei herumlaufen. Das Recht der Allgemeinheit auf Nutzung öffentlicher Wege und Straßen müsse Vorrang haben. Die tatbestandlichen Voraussetzungen des Art. 18 Abs. 2 LStVG seien erfüllt, da durch das Verhalten der beiden Wolfshunde bereits die Gesundheit von Menschen beeinträchtigt worden sei und sie andere Hunde verletzt hätten. Es folgen Ausführungen zum Ermessen. Hierbei wird ausgeführt, dass ein Einschreiten geboten sei, um weitere Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung abzuwehren oder vorzubeugen. Es komme erschwerend hinzu, dass es sich bei den Hunden um große Hunde handle, von denen regelmäßig eine konkrete Gefahr für die Gesundheit Dritter ausgehe. Bei zwei Vorfällen habe ein Hund zugebissen. Die aufgeführten Vorfälle würden die Situation immer mit beiden, nicht angeleinten Hunden beschreiben. Beide Hunde hätten sich aus dem Geschirr befreit und sich losgerissen, sich nicht unter Kontrolle befunden. Somit sei für beide Hunde der Erlass der Anordnungen dringend geboten. Es sei nicht auszuschließen, dass das Verhalten des einen Hundes am Zustandekommen der Bisse und der Verletzungen durch den anderen Hund maßgeblich mit beigetragen habe (z.B. Rudelverhalten). Allein der Freilauf von großen und kräftigen Hunden auf öffentlichen Wegen stelle in der Regel schon eine Gefahr für die Rechtsgüter Dritter dar. Somit sei es für die Beklagte geboten gewesen, die Anordnungen Nrn. 1 bis 5 auch auf beide Hunde zu erstrecken. Die Kläger hätten auf Grund der ersten Vorfälle keine wirksamen Maßnahmen ergriffen, um weitere Vorfälle zu vermeiden. Hinsichtlich der Nrn. 1 bis 3 wird ausgeführt, dass ein Freilauf der Hunde innerhalb geschlossener umfriedeter Grundstücke oder auf Trainingsgelände für Hunde erfolgen könne. Außerhalb bebauter Ortsteile sei der Freilauf möglich, jedoch ein Maulkorb anzulegen. Der Maulkorbzwang innerorts und außerhalb bebauter Ortsteile sei zwingend erforderlich, da trotz kurzer Leine ein Beißvorfall nicht verhindert werden könne. Die beiden Hunde seien groß sowie kräftig und ein sicheres Halten der Hunde an der Leine sei nicht immer sichergestellt, was von den Zeugen unterstrichen werde. Der Vorfall am 14. Januar 2022 habe bestätigt, dass eine Anordnung notwendig sei, dass die Hunde das Grundstück, welches als Gartengrundstück der Kläger genutzt werde, nicht mehr unbeaufsichtigt verlassen können. Die Maßnahmen seien angemessen und verhältnismäßig. Das Recht der Allgemeinheit auf gefahrlose Nutzung der öffentlichen Straßen und Wege habe Vorrang. Der Auflagenvorbehalt stütze sich auf Art. 36 Abs. 2 Nr. 5 BayVwVfG. Die Maßnahmen seien gemäß Art. 9 Abs. 2 Satz 1 LStVG gegen den Inhaber der tatsächlichen Gewalt zu richten. Das sei derjenige, der aufgrund der tatsächlichen Herrschaftsverhältnisse eine unmittelbare Einwirkungsmöglichkeit auf die Hunde besitze. Die Hunde hielten sich im gemeinsamen Anwesen des Ehepaars auf, so dass zu vermuten sei, dass beide Inhaber der tatsächlichen Gewalt seien. Die Zeugen hätten erklärt, dass beide Kläger die Hunde ausführten. Die hundesteuerrechtliche Anmeldung der Hunde auf das Einzelunternehmen des Klägers zu 2) ändere am Innehaben der tatsächlichen Gewalt nichts.
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Mit Schreiben vom 17. Februar 2022, eingegangen beim Verwaltungsgericht Bayreuth am 19. Februar 2022, ließen die Kläger beantragen,
die Ziffer 2 sowie Ziffer 7 des Bescheides der Beklagten vom 20.01.2022, Az.: …, aufzuheben.
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Die Vorfälle hätten sich nicht so zugetragen, wie die Beklagte schildere. Die Hunde hätten keine Menschen verletzt, „…“ keine anderen Hunde. Zu dem Beißvorfall mit der unangeleinten, nicht abrufbaren Chihuahua-Hündin sei es gekommen, da diese „…“ provoziert habe. Es sei auf Grund der Größenverhältnisse zu den Verletzungen der Hündin gekommen. Zu dem Vorfall am 8. September 2021 wird ausgeführt, dass die Hündin „…“ von dem Grundstück entwichen sei, was die Klägerin zu 1) sofort bemerkt habe. „…“ sei aus Angst vor der Kindergruppe in den Wald gerannt. Die Hündin habe sich problemlos anleinen lassen. Sie sei zu keinem Zeitpunkt auf die Kinder zugelaufen und habe vielmehr Angst vor den Kindern gehabt. Auch am 28. Dezember 2020 sei die Hündin aus dem Geschirr geschlüpft, da sie Angst gehabt habe; sie sei vor herankommenden Menschen weggerannt. Der Kläger zu 2) habe sie sodann sofort wieder angeleint und überprüfe nun regelmäßig die Passgenauigkeit der Brustgeschirre. Der Kläger zu 2) sei zwei Meter groß und 100 kg schwer, womit er problemlos in der Lage sei, die Hunde zu halten. Im Oktober 2021 habe „…“ nur am Schlafsack geschnüffelt. Der kleine Riss darin sei dadurch entstanden, dass die Klägerin zu 1) den Hund abrupt zurückgezogen habe. Der Hund sei gut sozialisiert und habe kein Problem mit Kindern. Am 20. Dezember 2021 sei die Chihuahua-Hündin der Anzeigeerstatterin bellend auf die Klägerin zu 1) und die Hunde an der Leine zugerannt. Dadurch provoziert habe „…“ ruckartig an der Leine gezogen. Diese sei aus Materialermüdung gerissen. Die Chihuahua-Hündin habe sich nicht unterworfen. Während des Vorfalls sei die Hündin „…“ am Gürtel der Klägerin zusätzlich gesichert gewesen und habe sich nicht in den Vorfall eingemischt. Auch am 14. Januar 2022 sei die Chihuahua-Hündin unangeleint gewesen und habe gebellt. Die beiden Hunde hätten sich durch ein unbemerkt nicht vollständig geschlossenes Tor vom Grundstück entfernt. Als die Kläger hinzugekommen seien, habe die Chihuahua-Hündin auf dem Boden gelegen, während „…“ und „…“ neben ihr gestanden hätten, ohne sie zu attackieren. Die Klägerin zu 1) habe die Chihuahua-Hündin in den Arm von Frau P. gelegt, wobei die Chihuahua-Hündin noch nach ihr geschnappt habe. Der Bescheid sei vor Ablauf der Anhörungsfrist ergangen.
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Es wird eine Stellungnahme vom 9. Februar 2021 eines Herrn R., der eine Hundeschule betreibt, vorgelegt. Beide Hunde würden keinerlei innerartliche Aggression zeigen. Bei der Hündin habe sich bei der Begegnung mit Kindern gezeigt, dass sie diesen aus dem Weg gehe und die Flucht ergreife. Zwischen der Chihuahua-Hündin und den Hunden habe sich eine Feindschaft aufgebaut. Dadurch sei auch der Beißvorfall mit dem Buggy zu erklären. Die Kläger hätten ein Training in der Hundeschule begonnen.
15
Die Prozessbevollmächtigte der Kläger führt weiter aus, dass diese ihre Hunde innerorts und außerorts, wenn nötig, ohnehin an der Leine führen würden. Ihre Grundstücke hätten sie ausbruchsicher gestaltet. Für die Anordnung der Maulkorbpflicht fehle es an einer Rechtsgrundlage. Ein Maulkorbzwang könne zusätzlich nur angeordnet werden, wenn der Hund auch angeleint zubeißen würde. Die Hündin „…“ habe noch nie einen anderen Hund oder Menschen gebissen. „…“ habe nur mit der Chihuahua-Hündin ein Problem gehabt. Herr R. habe bestätigt, dass von den Hunden keine Gefahr für Menschen oder andere Hunde ausgehe. Das Ermessen sei nicht ordnungsgemäß ausgeübt worden, da nicht zwischen den zwei Hunden differenziert worden sei. Diesbezüglich sei auch der Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt worden, was die Beklagte selbst in ihrem Bescheid einräume. „…“ habe sich nur wegen Materialermüdung von der Leine losreißen können. Der Hund verfüge über eine sozialadäquate Beißhemmung, indem er die kleinere Hündin nicht getötet habe, was ihm auf Grund des Größenunterschieds ohne Weiteres möglich gewesen wäre.
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Mit Schreiben vom 24. Februar 2022 ließ die Beklagte durch ihren Bevollmächtigten beantragen,
die Klage kostenpflichtig abzuweisen.
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Zur Begründung verwies der Bevollmächtigte mit Schreiben vom 11. April 2022 auf die bereits im gegenständlichen Bescheid genannten Vorfälle. So sei es der Klägerin zu 1) am 20. Dezember 2021 nicht gelungen, beide Hunde unter Kontrolle zu halten. Die Hunde seien auf Frau P., den Buggy mit deren eineinhalb Jahre alter Tochter sowie den Chihuahua-Hund losgegangen; der Hund „…“ habe den Hund von Frau P. schließlich gebissen. Am 14. Januar 2022 seien beide Hunde aus dem offenen Hoftor entwichen und hätten sich auf den Hund von Frau P. gestürzt. Der Angriff beider Hunde habe in unmittelbarer Nähe der Kinder von Frau P. stattgefunden, welche nunmehr traumatisiert seien. Das vorgelegte Gutachten vom 9. Februar 2022 stelle eine bloße Momentaufnahme dar. Die Anordnung in Nr. 2 des Bescheids sei verhältnismäßig. Die beiden Hunde hätten sowohl einzeln andere Tiere gebissen als auch gemeinsam einen anderen Hund attackiert und gebissen, weshalb die Anordnung eines Maulkorbzwangs rechtmäßig sei. Dieser könne zusätzlich zum Leinenzwang angeordnet werden, wenn die Gefahr bestehe, dass sich der Hund von der Leine losreißen und zubeißen würde, was hier für beide Hunde zu bejahen sei. Die Vorfälle seien sowohl inner- als auch außerhalb bebauter Ortsteile erfolgt.
18
Mit Schreiben vom 25. Mai 2022 ließen die Kläger vortragen, bei dem Vorfall, bei dem „…“ an dem Schlafsack im Buggy „geknabbert“ habe, habe sich das Kind der Mitteilerin nicht im Buggy befunden. Der Vorfall im Dezember 2021 habe sich nicht am Waldrand, sondern nur 150 m vom Anwesen der Kläger entfernt ereignet. Die Hunde der Kläger seien nie auf Frau P. „losgestürmt“, sondern vielmehr sei deren Chihuahua bellend auf die Kläger zugerannt. Mit Nichtwissen werde bestritten, dass die Kinder von Frau P. traumatisiert seien; dagegen spreche auch, dass diese sich stets in die Schlange des Bäckers vor dem Klägeranwesen anstellten. Hinsichtlich des Vorfalls mit dem Reh sei klarzustellen, dass sich das Reh innerorts vom Klägeranwesen nur 50 m entfernt aufhielt.
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Wiederum mit Schreiben vom 3. Juni 2022 ließ die Beklagte vortragen, dass das Reh durch „…“ auf freier Flur in einem Getreidefeld auf dem Grundstück mit der Fl.-Nr. … der Gemarkung … gerissen worden sei. Der örtliche Jäger habe Schleifspuren erkennen können, die ca. 200 m von der Ortschaft entfernt gewesen seien und vom östlichen Ende des Grundstückes ausgingen. Ein den Vorfall an dieser Örtlichkeit bestätigendes Schreiben des Jägers, Herr A., wurde dem Schreiben beigefügt. Zu der Anhörung der Kläger werde auf den Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshof vom 24. Mai 2022 hingewiesen. Die Anhörung sei zweifelsohne mittlerweile im streitigen Verfahren nachgeholt worden. Der Vorfall im Dezember 2021 habe sich am Waldrand ereignet, da Frau P. nach dem Vorfall im Oktober 2021 jegliches Aufeinandertreffen mit der Klägerin zu 1) und ihren Wolfshunden vermeide.
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Mit Schreiben vom 22. Juni 2022 ließen die Kläger ein Foto vorlegen, auf dem „…“ auf dem Klägergrundstück liege und Frau P. sich mit einigem Abstand gegenüber des Grundstücks der Kläger mit Freundinnen mit Kindern treffe, was deren Angst vor den Hunden widerlege. Auch die Aussage der Frau G. sei widersprüchlich. Bei ihrer Anhörung vor der Gemeinde habe sie angegeben, dass nur ein Hund die Chihuahua-Hündin gepackt habe. Nunmehr seien es zwei Hunde. … sei an beiden Vorfällen nicht beteiligt gewesen. Beim ersten Vorfall sei sie mit einer Leine am Gürtel der Klägerin zu 1) befestigt gewesen, beim zweiten Vorfall habe sie lediglich danebengestanden. … sei ein ängstlicher Hund, mit dem es nur den Vorfall mit dem Reh gegeben habe. Das sei jedoch in 50 m Entfernung eines Hauses gewesen und nicht in 200 m. Das betroffene Feld befinde sich neben einem Haus und sei von zwei weiteren Häusern eingerahmt, so dass sich der Vorfall innerorts ereignet habe. … sei zu diesem Zeitpunkt sehr jung und noch nicht vollständig erzogen gewesen. Dieser Vorfall rechtfertige nicht die Anordnung eines Maulkorbzwangs. Die Kläger hätten alle Anordnungen der Beklagten umgesetzt und noch weitere Maßnahmen darüber hinaus getroffen.
21
Wiederum mit Schreiben vom 30. Januar 2023 ließ die Beklagte vortragen, beim zweiten Vorfall (Anm.: wohl 14. Januar 2022) hätten sich die beiden Wolfshunde beim Aussteigen aus dem Auto losgerissen und seien sofort zum Hund der Zeugin P. gerannt. Zwischen dem Hof der Kläger und dem Haus, wo der Vorfall stattfand, stehe eine den Blick versperrende Garage, weshalb die Kläger nur hätten sehen können, dass die Chihuahua-Hündin bereits in den Fängen der Wolfshunde sei. Auch von hundetypischem Verhalten könne eine Gefahr i.S.d. Art. 18 Abs. 2 LStVG ausgehen. Die Wolfshunde hätten – anders als die Chihuahua-Hündin – keinerlei Kontakt zu anderen Hunden in … Die Anordnungen der Beklagten seien zögerlich umgesetzt worden. Das Tor zum Grundstück … sei erst mehrere Wochen nach der Anordnung so weit erhöht worden, dass jetzt kaum mehr zu erwarten sei, dass die Wolfshunde darüber springen. Der Zaun am Grundstück in … sei erst im Juni/Juli 2022 erhöht worden, so dass die Hunde das Grundstück nicht mehr verlassen könnten.
22
Die Kläger ließen mit Schriftsatz vom 4. Februar 2023 noch anführen, die Aggression in den gegenständlichen Vorfällen sei allein von der Chihuahua-Hündin ausgegangen. Ausweislich der beigefügten Stellungnahme vom 6. Februar 2023 des Herrn R., der eine Hundeschule betreibt, hätten weder „…“ noch „…“ ein Aggressionsproblem gegenüber anderen Tieren oder Menschen. Außerdem würden die klägerischen Hunde – anders als die Chihuahua-Hündin – Kontakt zu anderen Hunde pflegen.
23
In der mündlichen Verhandlung wurde Frau P. als Zeugin vernommen. Hinsichtlich ihrer Aussage und des weiteren Verlaufs der mündlichen Verhandlung wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 7. Februar 2023 verwiesen. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte und die vorgelegte Behördenakte, auch zum Aktenzeichen B 1 S 22.166, Bezug genommen (§ 117 Abs. 3 Satz 2 VwGO).

Entscheidungsgründe

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1. Die zulässige Klage ist nur teilweise begründet.
25
Wie in der mündlichen Verhandlung durch die Bevollmächtigte der Kläger präzisiert wurde, beantragten die Kläger die Aufhebung des Bescheids der Beklagten ausschließlich hinsichtlich dessen Ziffer 2. Der Bescheid der Beklagten vom 20. Januar 2022 erweist sich als rechtswidrig, soweit ein Maulkorbzwang für die Hündin „…“ angeordnet wurde, da dessen Voraussetzungen nicht gegeben sind. Lediglich insoweit werden die Kläger in ihren Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Im Übrigen ist die Klage unbegründet.
26
2. Die Anordnung des Maulkorbzwangs in Nr. 2 des Bescheids bezüglich des Hundes „…“ ist rechtmäßig und verletzt die Kläger nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Das Gericht nimmt zunächst gemäß § 117 Abs. 5 VwGO Bezug auf die Begründung des streitgegenständlichen Bescheids und macht sich diese zu eigen. Ergänzend wird zur Sache und zum Klagevorbringen Folgendes ausgeführt:
27
a) Gegen die formelle Rechtmäßigkeit wurde die fehlende Anhörung der Kläger gerügt. Gemäß Art. 45 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 BayVwVfG ist eine Verletzung der Verfahrensvorschrift des Art. 28 Abs. 1 BayVwVfG aber unbeachtlich, wenn die erforderliche Anhörung eines Beteiligten nachgeholt wird. Dies kann bis zum Abschluss der letzten Tatsacheninstanz eines verwaltungsgerichtlichen Verfahrens erfolgen. Durch die Begründung des Antrags der Kläger im Eilrechtsschutz mit Schreiben vom 15. Februar 2022 und die Erwiderung der Antragsgegnerin hierauf mit Schreiben vom 28. Februar 2022 (Az. B 1 S 22.166) ist bereits eine Heilung erfolgt (vgl. hierzu BayVGH, B.v. 24.5.2022 – 10 CS 22.865 – juris Rn. 9).
28
b) Rechtsgrundlage für die streitgegenständlichen Anordnungen ist Art. 18 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 Satz 1 Landesstraf- und Verordnungsgesetz (LStVG). Danach können Gemeinden zur Verhütung von Gefahren für Leben, Gesundheit und Eigentum Anordnungen für den Einzelfall zur Haltung von Hunden treffen.
29
aa) Eine solche Anordnung nach Art. 18 Abs. 2 LStVG darf allerdings nur erlassen werden, wenn im jeweils gesondert zu betrachtenden Einzelfall eine konkrete Gefahr für die betreffenden Schutzgüter vorliegt (stRspr, vgl. z.B. BayVGH, U.v. 6.4.2016 – 10 B 14.1054 – juris Rn. 19; B.v. 11.2.2015 – 10 ZB 14.2299 – juris Rn. 5 m.w.N.). Dies ist dann der Fall, wenn bei ungehindertem Ablauf des objektiv zu erwartenden Geschehens in dem zu beurteilenden Einzelfall mit hinreichender Wahrscheinlichkeit in überschaubarer Zukunft mit einem Schadenseintritt gerechnet werden kann. An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind dabei umso geringere Anforderungen zu stellen, je schutzwürdiger das bedrohte Schutzgut und je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (BayVGH, U.v. 9.11.2010 – 10 BV 06.3053 – juris Rn. 22 m.w.N.). Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof vertritt in ständiger Rechtsprechung die Auffassung, dass von großen Hunden, die auf öffentlichen Straßen und Wegen mit relevantem Publikumsverkehr frei herumlaufen, eine konkrete Gefahr für Leib und Leben Dritter ausgeht, auch wenn es in der Vergangenheit noch nicht zu konkreten Beißvorfällen gekommen ist (vgl. zuletzt z.B. BayVGH, B.v. 5.6.2020 – 10 ZB 20.961 – juris Rn. 5; B.v. 12.2.2020 – 10 ZB 19.2474 – juris Rn. 4). Nach dieser Rechtsprechung genügt die Tatsache, dass es sich um einen großen Hund handelt, für sich allein allerdings nicht für die Anordnung eines Maulkorbzwangs. Ein Maulkorbzwang für einen „großen“ Hund innerhalb und außerhalb im Zusammenhang bebauter Ortsteile ist nur dann rechtmäßig, wenn eine in tatsächlicher Hinsicht hinreichend abgesicherte Prognose vorliegt, dass der betreffende Hund die in Art. 18 Abs. 1 LStVG genannten Schutzgüter auch im Außenbereich konkret gefährdet (vgl. BayVGH, U.v. 6.4. 2016 – 10 B 14.1054 – juris). Die Anordnung muss im Einzelfall zur effektiven Gefahrenabwehr erforderlich und bei Abwägung der gegenläufigen Interessen zumutbar sein (Bay VGH, U.v. 9.6.2020 – 10 B 18.1470 – juris Rn. 46, B.v. 3.5.2017 – 10 CS 17.405 – juris Rn. 9 ff). Ist es bereits zu einem Beißvorfall oder sonstigen Schadensfall durch den Hund gekommen, ist eine konkrete Gefahr zu bejahen, wenn nicht dargelegt werden kann, dass eine Wiederholung auch ohne Erlass einer sicherheitsrechtlichen Anordnung auszuschließen ist (BayVGH, U.v. 9.6. 2020 – 10 B 18.1470 – juris Rn. 39 f.). In diesem Zusammenhang vertritt die Rechtsprechung die Ansicht, dass eine hinreichend konkrete Wahrscheinlichkeit bestehen muss, dass der Hund auch angeleint zubeißen oder sich von der Leine reißen würde (VG Würzburg, B.v. 2.5.2017 – W 5 S 17.333 – juris Rn. 30 unter Berufung auf BayVGH, B.v. 17.4.2013 – 10 ZB 12.2706; ebenso VG Oldenburg, B.v. 10.2.2020 – 7 B 2604/19 – juris Rn 19).
30
bb) Bei beiden gegenständlichen Hunden, so auch „…“, handelt es sich um große und kräftige Hunde im Sinne dieser Rechtsprechung (vgl. FCI-Standard Nr. 332, 3.9.1999/DE, Tschechoslowakischer Wolfshund, S. 6). Von „…“ geht eine konkrete Gefahr i.d.S. aus. Unstreitig hat er die Hündin von Frau P. am 20. Dezember 2021 innerorts und am 14. Januar 2022 gebissen und ihr erhebliche Verletzungen zugefügt. Dies bestätigte die Zeugin P. in der mündlichen Verhandlung glaubhaft. Letzterer Vorfall ereignete sich außerhalb der Ortschaft (am Waldesrand). Es hat sich gezeigt, dass die konkrete Gefahr, die von dem Hund ausgeht, sich auch außerhalb des Bebauungszusammenhangs realisiert hat. Der Vorfall konnte sich ereignen, obwohl der Hund angeleint war. Die Frage, ob die Leine an einer „Materialermüdung“ litt, ist hierbei unerheblich, da es nur darauf ankommt, dass auch durch das Anbringen einer Leine nicht verhindert werden konnte, dass der Hund einen anderen Hund gebissen hat. Auf Grund der Stärke des Hundes könnte sich die Gefahr des Losreißens von der Leine (sei es aus Materialermüdung oder auf Grund der Tatsache, dass der Hund nicht zu halten ist) somit jederzeit erneut stellen. Da sich die Gefahr bereits realisiert hat, läge es an den Klägern zu beweisen, dass eine Wiederholung auch ohne Erlass einer sicherheitsrechtlichen Anordnung ausgeschlossen werden kann (auf die Frage, ob die Kläger somit körperlich in der Lage sind, den Hund „…“ an der Leine zu halten, kommt es daher nicht streitentscheidend an).
31
Nicht streitentscheidend ist ebenfalls, ob die Hündin „…“ den Hund „…“ provoziert haben könnte, da allein auf das Vorliegen einer konkreten Gefahr abzustellen ist (BayVGH, U.v. 26.11.2014 – 10 B 14.1235 – juris Rn. 26). Von einem Hund geht auch dann eine konkrete Gefahr im Sinne des Art. 18 Abs. 2 LStVG aus, wenn seine Reaktion auf das Verhalten anderer Personen oder Tiere ein hundetypisches Verhalten darstellt. Sinn des Art. 18 Abs. 2 LStVG ist es, den Behörden die Ermächtigung zu geben, zur Verhütung jeglicher Gefahren für die in Art. 18 Abs. 1 LStVG genannten Rechtsgüter Anordnungen zur Haltung von Hunden zu treffen, und zwar unabhängig davon, in welcher Weise diese von den Hunden verursacht werden. Auch hundetypisches und artgerechtes Verhalten eines Hundes kann eine konkrete Gefahr für Passanten und andere Tiere verursachen (BayVGH, B.v. 31.7.2014 – 10 ZB 14.688 – juris Rn. 6).
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Das Bestehen einer konkreten Gefahr wird nicht dadurch ausgeschlossen, dass Herr R. mit Schreiben vom 9. Februar 2022 bzw. 6. Februar 2023 ausführt, dass die Hunde keine „innerartliche Aggression“ zeigen würden. Hierbei kommen bereits Zweifel auf, aus welcher Kompetenz heraus Herr R. diese Ausführungen machen kann. Hierzu wurde von den Klägern nichts vorgetragen. Zum anderen und unabhängig davon kann es sich bei der Vorstellung der Hunde bei Herrn R. nur um eine Momentaufnahme handeln, die keine Garantie dafür gewährt, dass in Zukunft derartige Vorfälle verhindert werden können. Insbesondere sind keine Rückschlüsse möglich, wie sich der Hund in einer Ausnahmesituation verhalten würde (vgl. hierzu BayVGH, B.v. 24.5.2022 – 10 CS 22.865 – juris Rn. 9).
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Ermessensfehler sind für die Anordnung zum Maulkorbzwang beim Hund „…“ nicht zu erkennen. Insbesondere ist kein Ermessensfehler darin zu sehen, dass die Antragsgegnerin nicht gewürdigt hat, dass „…“ die Chihuahua-Hündin nicht getötet hat. Sowohl die Bissverletzungen, die „…“ der Hündin zugefügt hat, wie auch die Tatsache, dass er ein Loch in den Fußsack des Buggys beißen oder reißen konnte, zeigen, dass der Hund über eine hohe Beißkraft verfügt. Nach der Rechtsprechung ist nicht auf die Erheblichkeit der Bissverletzungen oder gar darauf abzustellen, ob bereits ein anderes Tier getötet wurde. Ausreichend ist in diesem Zusammenhang, dass es zu einem Beißvorfall gekommen ist.
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3. Der bezüglich der Hündin „…“ angeordnete Maulkorbzwang in Nr. 2 des Bescheids erweist sich hingegen als rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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a) Eine im Rahmen der Rechtsgrundlage für die streitgegenständliche Anordnung in Art. 18 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 Satz 1 LStVG erforderliche konkrete Gefahr ist in diesem gesondert zu betrachtenden Einzelfall nicht in ausreichendem Maße ersichtlich; mithin hätte insoweit im Bescheid zwischen den beiden Wolfshunden der Kläger differenziert werden müssen. Zwar stellt auch „…“ einen großen Hund i.S.d. oben zitierten Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs dar. Wie ausgeführt genügt dieser Aspekt für sich genommen jedoch noch nicht für die Anordnung einer Maulkorbzusätzlich zur verfügten Leinenpflicht. Ein Maulkorbzwang für einen „großen“ Hund innerhalb und außerhalb im Zusammenhang bebauter Ortsteile ist nur dann rechtmäßig, wenn eine in tatsächlicher Hinsicht hinreichend abgesicherte Prognose vorliegt, dass der betreffende Hund die in Art. 18 Abs. 1 LStVG genannten Schutzgüter auch im Außenbereich konkret gefährdet (BayVGH, U.v. 6.4. 2016 – 10 B 14.1054 – juris). Die Anordnung muss im Einzelfall zur effektiven Gefahrenabwehr erforderlich und bei Abwägung der gegenläufigen Interessen zumutbar sein (BayVGH, U.v. 9.6.2020 – 10 B 18.1470 – juris Rn. 46, B.v. 3.5.2017 – 10 CS 17.405 – juris Rn. 9 ff).
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b) In der mündlichen Verhandlung führte die Zeugin P., die Halterin der Chihuahua-Hündin, glaubhaft aus, dass „…“ weder an dem im Bescheid genannten Vorfall am 20. Dezember 2021 noch an demjenigen am 14. Januar 2022 in insoweit relevanter Weise beteiligt war. Zum Vorfall im Oktober 2021 mit „…“ befragt, gab sie bereits an, „…“ sei immer etwas zurückhaltender als „…“. Sie sei vor diesem Ereignis drei- bis viermal mit der Klägerin zu 1) in dieser Konstellation spazieren gewesen. Nach ihren Angaben zum Vorfall am 20. Dezember 2021 habe „…“ zunächst noch bei der Klägerin zu 1) gestanden, als „…“ auf die Zeugin P. und ihre Hündin zugerannt sei. Sie vermute, dann habe die Klägerin zu 1) die Leine, an der sie „…“ gehalten habe, losgelassen, woraufhin „…“ der Klägerin zu 1) zu dem Geschehen um die Chihuahua-Hündin und „…“ gefolgt und dieses beobachtend umkreist habe. Auf ihre Angaben in der Stellungnahme zu diesem Vorfall (Behördenakte, Bl. 62) angesprochen, wonach sich „beide“ Wolfshunde losgerissen hätten und auf ihre Hündin zugerannt seien, gab die Zeugin an, sie habe von „…“ nichts beschrieben, diese habe nichts gemacht. Zum Vorfall am 14. Januar 2022 führte die Zeugin P. in der mündlichen Verhandlung aus, wie „…“ mitten in die Gruppe der Zeugin mit ihrer Freundin und den Kindern sowie der Chihuahua-Hündin hineingestürmt sei. „…“ sei dazu gerannt und habe sie, wie schon beim letzten Mal, umkreist. An ihrer Chihuahua-Hündin sei jedoch nur „…“ gewesen.
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Damit steht für das Gericht fest, dass sich die Hündin „…“ einmal aus ihrem Geschirr befreit hat (28. Dezember 2020) sowie einmal beim Anleinen entwischt ist und ein Reh gerissen hat (22. November 2020). Bei den Vorfällen am 20. Dezember 2021 sowie 14. Januar 2022 beschränkte sich „…“ Beteiligung nach den aus der mündlichen Verhandlung gewonnenen Erkenntnissen jedoch darauf, das Geschehen um die Zeugin P., die Kläger sowie „…“ und die Chihuahua-Hündin zu umkreisen; ein aktives Eingreifen durch „…“ wurde durch die Zeugin P. in der mündlichen Verhandlung klar verneint. Vielmehr scheint sich der Ablauf so zu gestalten, dass „…“ jeweils erst ihrem „Frauchen“, der Klägerin zu 1), folgte, als diese versuchte, „…“ zurückzuhalten. Dies unterstützt den Vortrag der Kläger, „…“ sei ein Hund, der sich vor Menschen – außer ihren Haltern, den Klägern – fürchte. Es kann damit dahinstehen, ob sich „…“ beim Vorfall am 20. Dezember 2021 zusätzlich zur Leine gesichert am Gürtel der Klägerin zu 1) befand, da nach der Durchführung der mündlichen Verhandlung feststeht, dass sie sich nicht aktiv an jenem Vorfall beteiligte bzw. sich nicht von der Klägerin zu 1) losriss. Ein „(Klein-)Rudelverhalten“ der beiden Wolfshunde der Kläger (Seite 6 des Bescheids erster Absatz – zum Begriff des „Kleinrudelverbands“: BayVGH B.v. 21.10.2002 – 24 ZB 02.2109 – juris Rn. 19; vgl. auch VG München, B.v. 12.8.2010 – M 22 S 10.3500 – juris Rn. 24) i.S. einer erheblichen Reizschwellenabsenkung bzw. Gefahrerhöhung durch die Bindung der Artgenossen untereinander hat sich bezüglich „…“ mithin nach Durchführung der mündlichen Verhandlung gerade nicht bestätigt.
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Aus dem Vorbringen der Zeugin P. in der mündlichen Verhandlung ergab sich darüber hinaus, dass „…“ im Vergleich zu „…“ ein zurückhaltenderes Verhalten zeigt. Es ergeben sich mithin keine Anhaltspunkte dafür, dass „…“ zu anderen Hunden bzw. Menschen hinläuft. Der Vorfall, bei dem „…“ unstrittig ein Reh verfolgt und gerissen hat, genügt für sich genommen damit nicht, einen kombinierten Leinen- und Maulkorbzwang zu rechtfertigen. Zu diesem Zeitpunkt – am 22. November 2020 – war „…“ unbestritten noch sehr jung (6,5 Monate, vgl. Behördenakte, Bl. 93), zumal der Vorfall mittlerweile über zwei Jahre zurückliegt. Darüber hinaus steht fest, dass es bei diesem einmaligen Vorfall blieb, wobei angesichts der Gesamtumstände nicht zwangsläufig von der Jagd der Hündin auf ein Reh darauf geschlossen werden kann, dass „…“ ebenso andere Hunde verfolgen und angreifen würde. Zudem handelt es sich bei einem Reh um ein herrenloses Tier, wobei Tiere nur als Eigentumsobjekt, nicht aber um ihrer selbst willen geschützt sind (BeckOK PolR Bayern/Schwabenbauer, 15. Ed. 1.11.2020, LStVG Art. 18 Rn. 25 – andere Ansicht: Gefährdung des Jagdrechts, welches ebenfalls dem Eigentum an Grund und Boden folgt Bengl/Berner/Emmerig, LStVG, Okt. 2019, Art. 18 Rn. 9). Außerdem führten die Kläger in der mündlichen Verhandlung zur Überzeugung des Gerichts aus, dass sie mit beiden Hunden vor und nach dem Vorfall mit dem Reh in der Hundeschule gewesen seien. Nach den gegenständlichen Vorfällen seien beide Hunde noch fünfmal bei der Hundeschule R. gewesen. Das Gericht betrachtet es mithin als höchst wahrscheinlich, dass jedenfalls mittlerweile eine Wiederholung eines derartigen Vorfalls auch ohne den Erlass einer sicherheitsrechtlichen Anordnung ausgeschlossen werden kann. Es kann somit dahinstehen, ob sich der Vorfall mit dem Reh inner- oder außerorts ereignet hatte. Weiterhin als gefahrmindernd erachtete das Gericht die glaubhafte Versicherung der Kläger in der mündlichen Verhandlung, bereits gegenwärtig sowie künftig nur noch zu zweit die beiden Hunde gleichzeitig auszuführen, wobei jeweils ein Hund an die Leine genommen werde. Eine von „…“ ausgehende konkrete Gefahr ist mithin nicht in einem für die Anordnung eines Maulkorbzwangs ausreichendem Maße ersichtlich. Es besteht keine hinreichend konkrete Wahrscheinlichkeit, dass „…“ auch angeleint zubeißen oder sich hierfür von der Leine losreißen würde (vgl. BayVGH, B.v. 17.4.2013 – 10 ZB 12.2706; VG Augsburg, B.v. 26.4.2012 – Au 5 S 12.316; beide juris; Bengl/Berner/Emmerig, LStVG, Art. 18 Rn. 70). Ein zusätzlicher Maulkorbzwang ist damit für „…“ zur effektiven Gefahrenabwehr nicht unabdingbar.
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Hinsichtlich des Vorfalls mit dem Reh ist darüber hinaus anzuführen, dass der gegenständliche Bescheid nicht auf diesen gestützt wurde, auch wenn eine Einführung in das Verfahren durch die Antragserwiderung vom 4. März 2022 erfolgte. Entsprechende Ergänzungen der im Bescheid enthaltenen Ermessenserwägungen durch die Beklagte erfolgten im Rahmen der mündlichen Verhandlung nicht.
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4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
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5. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 VwGO i.V.m. §§ 709 Satz 1, 708 Nr. 11, 711 ZPO.