Titel:
Asyl, Irak: Erfolgloser Berufungszulassungsantrag. Keine systematische Verfolgung von Jesiden im Irak.
Normenketten:
AsylG §§ 3 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, § 3b Abs. 1 Nr. 4, § 78 Abs. 3
ZPO § 114 Abs. 1 S. 1
AufenthG § 60 Abs. 5, 7 S. 1
Leitsätze:
1. Es ist von einer Gruppenverfolgung von Jesiden im nordöstlichen Teil der Provinz Ninive durch den IS derzeit nicht mehr auszugehen. Eine Gruppenverfolgung von Jesiden durch den irakischen Staat liegt nach den Erkenntnismitteln ebenfalls nicht vor. Auch eine Gruppenverfolgung durch sonstige nichtstaatliche Akteure wird von der der neueren obergerichtlichen Rechtsprechung verneint. (Rn. 11) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ein Abschiebungsverbot aufgrund der Sicherheits- und Versorgungslage im Irak kann nicht für alle irakischen Staatsangehörigen mit kurdischer Volkszugehörigkeit und jesidischem Glauben zuerkannt werden. Das gilt auch und gerade für junge jesidische Kurden aus der kurdischen Autonomieregion und dem angrenzenden Hauptsiedlungsgebiet der Jesiden in der Provinz Ninive. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Asylklage, Herkunftsland Irak, Gruppenverfolgung von Jesiden (verneint), Asyl, Existenzminimum, keine grundsätzliche Bedeutung, interne Fluchtalternative, Provinz Ninive, Sicherheitslage
Vorinstanz:
VG Ansbach, Urteil vom 26.04.2021 – AN 10 K 18.31359
Fundstelle:
BeckRS 2023, 15653
Tenor
I. Der Antrag des Klägers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Zulassungsverfahren und Beiordnung seines Bevollmächtigten wird abgelehnt.
II. Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
III. Der Kläger hat die Kosten des Zulassungsverfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Gründe
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1. Der Antrag des Klägers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Verfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof ist abzulehnen, weil die Rechtsverfolgung des Klägers aus den nachfolgenden Gründen keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO).
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2. Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. Die Berufung ist nicht wegen der allein geltend gemachten grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (vgl. § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) zuzulassen. Der Zulassungsgrund ist schon nicht ausreichend dargelegt (vgl. § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG).
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Der Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung setzt voraus, dass eine konkrete, bisher höchstrichterlich oder obergerichtlich nicht beantwortete Rechts- oder Tatsachenfrage formuliert wird, die für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts von Bedeutung (entscheidungserheblich) war, deren Klärung im Berufungsverfahren zu erwarten und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder Weiterentwicklung des Rechts geboten ist und der eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukommt (vgl. Happ in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 124a Rn. 72). Bei einer auf tatsächliche Verhältnisse gestützten Grundsatzrüge muss der Rechtsmittelführer Erkenntnisquellen zum Beleg dafür angeben, dass die Feststellungen, Erkenntnisse und Einschätzungen des Verwaltungsgerichts unzutreffend oder zumindest zweifelhaft sind (vgl. BayVGH, B.v. 21.9.2017 – 4 ZB 17.31091 – juris Rn. 8 f. m.w.N.).
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a) Der Kläger hält die Frage für grundsätzlich bedeutsam, ob „aufgrund eines Wiedererstarken des Islamischen Staates im Irak ein Angehöriger der Religionsgemeinschaft der Jeziden im Irak und Nordirak/Kurdistan Verfolgung durch den Islamischen Staat/nichtstaatliche Akteure aufgrund der Religionszugehörigkeit droht.“
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Die Frage ist schon nicht klärungsfähig, soweit sie sich auf das gesamte Staatsgebiet des Irak bezieht. Bei der Prüfung einer Verfolgung nach § 3 AsylG kommt es auf die Herkunftsregion der schutzsuchenden Person an, wie schon die Vorschrift des § 3e AsylG (landesinterner Schutz) belegt.
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Aber auch, soweit man die Frage auf die Herkunftsregion des Klägers, die nordöstliche Provinz Ninive, bezieht, wird eine Verfolgung des Klägers allein wegen seiner Zugehörigkeit zu der Glaubensgemeinschaft der Jesiden (sog. Gruppenverfolgung) in der Zulassungsbegründung nicht ausreichend dargelegt (vgl. § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG) und lässt sich auch den vom Verwaltungsgericht in das Verfahren eingeführten Erkenntnismitteln nicht entnehmen.
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Wie das Verwaltungsgericht in seinem Urteil (UA S. 6) zutreffend ausgeführt hat, ist für die Annahme einer alle Gruppenmitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht (vgl. BVerwG, U.v. 31.4.2009 – 10 C 11.08 – AuAs 2009, 173; v. 1.2.2007 – 1 C 24.06 – NVwZ 2007, 590; v. 18.7.2006 – 1 C 15.05 – BVerwGE 126, 243 – BayVBl 2007, 151).
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Im Falle einer staatlichen Gruppenverfolgung sind zwar keine Vergleichsfälle bisher durchgeführter Verfolgungsmaßnahmen zum Nachweis einer jedem Gruppenmitglied drohenden „Wiederholungsgefahr“ darzulegen, sondern es reicht aus, wenn hinreichend sichere Anhaltspunkte für ein staatliches Verfolgungsprogramm vorliegen, dessen Umsetzung bereits eingeleitet ist oder alsbald bevorsteht (BVerwG, U.v. 5.7.1994 – 9 C 158.94 – juris Rn 20). Das kann z.B. der Fall sein, wenn festgestellt werden kann, dass der Heimatstaat ethnische oder religiöse Minderheiten physisch vernichten oder aus seinem Staatsgebiet vertreiben möchte.
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Diese Grundsätze zur Gruppenverfolgung gelten nicht nur für die unmittelbare und mittelbare staatliche Gruppenverfolgung, sondern sind auch auf die Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure übertragbar, wie sie durch das Asylgesetz ausdrücklich als schutzbegründend geregelt ist (vgl. BVerwG, U.v. 21.4.2009 – 10 C 11.08 – juris Rn. 14).
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Die in der Zulassungsbegründung aufgestellte Behauptung, Jesiden müssten im gesamten irakischen Staatsgebiet oder jedenfalls in der Provinz Ninive mit einer weiteren Verfolgung durch den Islamischen Staat (IS) rechnen, wird durch keine Erkenntnismittel belegt.
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Ungeachtet der systematischen Verfolgung von Jesiden durch den IS insbesondere in den Jahren 2014 und 2015 im Distrikt Sindschar ist nach der Bewertung des Verwaltungsgerichts im angefochtenen Urteil von einer Gruppenverfolgung von Jesiden im nordöstlichen Teil der Provinz Ninive durch den IS derzeit nicht mehr auszugehen. Eine Gruppenverfolgung von Jesiden durch den irakischen Staat liegt nach den Erkenntnismitteln nicht vor und wird in der Zulassungsbegründung auch nicht behauptet. Das Verwaltungsgericht hat auch eine Gruppenverfolgung durch sonstige nichtstaatliche Akteure verneint. Diese Beurteilung des Verwaltungsgerichts stimmt im Übrigen mit der neueren obergerichtlichen Rechtsprechung überein (vgl. OVG NW, U.v. 21.12.2022 – 9 A 1740/20.A – juris Rn. 33 ff.; VGH BW, U.v. 7.12.2021 – A 10 S 2189/21 – juris Rn. 20 ff.; OVG Saarl, B.v. 5.10.2022 – 2 A 252/21 – juris Rn. 11; NdsOVG, B.v. 11.3.2021 – 9 LB 129/19 – juris Rn. 41 ff.). Dass der IS wieder derart erstarken könnte, dass er erneut zu einer Gruppenverfolgung von Jesiden in der Provinz Ninive in der Lage wäre, ist nach den vom Verwaltungsgericht eingeführten Erkenntnismitteln nicht zu erwarten.
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Etwas anderes ergibt sich nicht aus den Darlegungen des Klägers im Zulassungsverfahren, die sich ohnehin nicht konkret auf die Provinz Ninive beziehen. Insbesondere lassen die Ausführungen keine Rückschlüsse auf eine aktuelle Verfolgungsdichte zu. Vereinzelte Übergriffe oder auch eine Vielzahl einzelner Übergriffe auf Jesiden reichen für die Annahme einer Gruppenverfolgung nicht aus.
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b) Im Zusammenhang damit, dass das Verwaltungsgericht das Vorliegen eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG verneint hat (UA S. 11 bis 15), hält der Kläger die Frage für grundsätzlich bedeutsam, „ob einem jungen yesidischen Rückkehrer in die Region Kurdistan alsbald die Verelendung droht und ein menschenwürdiges Existenzminimum nicht erwirtschaftet werden kann.“
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Diese Frage zur Sicherstellung des Existenzminimums ist nicht grundsätzlich bedeutsam, sondern kann nur unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls beantwortet werden.
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Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte können schlechte humanitäre Verhältnisse (nur) in ganz außergewöhnlichen Fällen Art. 3 EMRK verletzen (U.v. 28.6.2011 – 8319/07 – NVwZ 2012, 681 Rn. 278). Die Frage, ob ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK im Hinblick auf die Sicherung des Existenzminimums vorliegt, hängt neben den konkreten Verhältnissen in der Herkunftsregion der betroffenen Person oder einer anderen Region, in der die Person Zuflucht finden kann, von einer Vielzahl individueller Umstände und Faktoren wie etwa dem Alter, dem Geschlecht, dem Gesundheitszustand, der Volkszugehörigkeit, der Ausbildung, der finanziellen Situation und den familiären oder freundschaftlichen Verbindungen ab (vgl. nur OVG Saarl, B.v. 12.3.2020 – 2 A 160/19 – juris Rn. 12). Sie ist einer grundsätzlichen Klärung nicht zugänglich, sondern bedarf stets einer Würdigung des konkreten Einzelfalls.
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Der Gerichtshof der Europäischen Union stellt in seiner jüngeren Rechtsprechung zu Art. 4 GRCh, der mit Art. 3 EMRK identisch ist, darauf ab, ob sich die betroffene Person unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befinde, die es ihr nicht erlaube, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtige oder sie in einen Zustand der Verelendung versetze, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim, C- 297/17 u.a. – juris; BayVGH, U.v. 1.10.2020 – 13a B 20.31004 – juris Rn. 21).
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Hieran gemessen kann ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG in i.V.m. Art. 3 EMRK aufgrund der Sicherheits- und Versorgungslage im Irak nicht für alle irakischen Staatsangehörigen mit kurdischer Volkszugehörigkeit und jesidischem Glauben – unabhängig von den oben genannten Kriterien des Einzelfalls – zuerkannt werden. Das gilt auch und gerade für junge jesidische Kurden aus der kurdischen Autonomieregion und dem angrenzenden Hauptsiedlungsgebiet der Jesiden in der Provinz Ninive. Zutreffend hat das Verwaltungsgericht in seinem Urteil (UA S. 9) darauf hingewiesen, dass es dem Kläger als Kurden möglich ist, in die kurdische Autonomieregion, insbesondere die Provinz Dohuk, in der viele tausend Jesiden Zuflucht gefunden haben, einzureisen und sich dort aufzuhalten.
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Das Verwaltungsgericht hat entsprechend bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG in i.V.m. Art. 3 EMRK die individuellen Umstände des Klägers berücksichtigt (UA S. 12). Auch ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hat das Verwaltungsgericht richtigerweise im Hinblick auf das Alter sowie den Gesundheitszustand des Klägers und auch unter Berücksichtigung der (allgemeinen) Gefahr einer Ansteckung mit Covid-19 verneint.
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3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
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Dieser Beschluss, mit dem die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig wird (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG), ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).