Titel:
Gerichtszuständigkeit bei vorzeitiger Besitzeinweisung wegen Errichtung einer Hochspannungsleitung
Normenketten:
BBPlG § 6
EnWG § 43, § 44b
LNGG § 12
VwGO § 48 Abs. 1 S. 1 Nr. 4, S. 3, § 50 Abs. 1 Nr. 6
Leitsätze:
1. Für einen Eilantrag, der sich auf einen Besitzeinweisungsbeschluss bezieht, der auf § 44b EnWG gestützt ist, ist das Bundesverwaltungsgericht erstinstanzlich zuständig. (Rn. 9 – 16) (redaktioneller Leitsatz)
2. § 50 Abs. 1 Nr. 6 VwGO iVm § 6 S. 1, 2 Nr. 1 BBPlG umfasst nicht nur die eigentlichen Planfeststellungsentscheidungen und die in § 6 S. 2 Nr. 1 BBPlG ausdrücklich genannten begleitenden Entscheidungen, sondern darüber hinaus auch die vorzeitige Besitzeinweisung. (Rn. 13 – 15) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
erstinstanzliche Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts für Klagen und Anträge in Bezug auf vorzeitige Besitzeinweisungen nach § 44b EnWG, sofern für die Klage gegen den zugrundeliegenden Planfeststellungsbeschluss das Bundesverwaltungsgericht nach § 50 Abs. 1 Nr. 6 VwGO i.V.m. § 6 BBPlG erstinstanzlich zuständig ist, vorzeitige Besitzeinweisung, Eilverfahren, Hochspannungsleitung, Planfeststellungsbeschluss, Gerichtszuständigkeit, erstinstanzlich, Bundesverwaltungsgericht
Fundstellen:
UPR 2023, 400
BeckRS 2023, 15636
LSK 2023, 15636
Tenor
I. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof ist sachlich unzuständig.
II. Der Rechtsstreit wird an das zuständige Bundesverwaltungsgericht verwiesen.
Gründe
1
Der Antragsteller erstrebt die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegen einen Bescheid des Antragsgegners, mit dem die Beigeladene zur Durchführung eines planfestgestellten Vorhabens zum Ersatzneubau einer Höchstspannungsfreileitung vorzeitig in den Besitz von Teilflächen eines Grundstücks des Antragstellers eingewiesen wurde.
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Mit Planfeststellungsbeschluss der Regierung der Oberpfalz vom 29. Juli 2022 (vgl. www.regierung.oberpfalz.bayern.de/mam/service/planfeststellung_energie/planfeststellungsbeschluss_ostbayernring_abschnitt_a/3321.0-2-31_pfb_ostbayernring_abschnitt_a_-_beschluss.pdf) wurde der Plan der Beigeladenen für den Ostbayernring – Ersatzneubau 380/110-kV-Höchstspannungsfreileitung Redwitz a.d. Rodach – Schwandorf einschließlich Rückbau der Bestandsleitung; Abschnitt Umspannwerk Schwandorf – Umspannwerk Etzenricht (Leitung Nr. B 161) unter erstmaliger teilweiser Mitnahme der Leitung O6 (Schwandorf – Schwarzenfeld) der B. N. GmbH im Bereich Mast 90A – Mast 106 (B 161) einschließlich Rückbau des entsprechenden Teils der Bestandsleitung (Mast 6 – 26 (O6)) festgestellt. Der Planfeststellungsbeschluss ist bestandskräftig und sofort vollziehbar.
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Der Antragsteller ist Eigentümer des Grundstücks FlNr. … der Gemarkung N. ..., von dem für die Realisierung des Vorhabens bestimmte Teilflächen auf Dauer und bestimmte Teilflächen vorübergehend in Anspruch genommen werden sollen.
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Mit Bescheid vom 4. Mai 2023 erließ das Landratsamt N. ... einen Besitzeinweisungsbeschluss, mit dem die Beigeladene zur Durchführung des genannten Bauvorhabens vorzeitig in den Besitz der erforderlichen Teilflächen des Grundstücks des Antragstellers eingewiesen wurde. Danach wurde die vorzeitige Besitzeinweisung am 29. Mai 2023 wirksam. Nach der beigefügten Rechtsbehelfsbelehrungkann Klage zum Bayerischen Verwaltungsgerichtshof erhoben werden. Der Besitzeinweisungsbeschluss wurde dem Antragsteller nach dessen Angaben am 11. Mai 2023 zugestellt.
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Mit Schriftsatz vom 22. Mai 2023, beim Verwaltungsgerichtshof am 24. Mai 2023 eingegangen, erhob der Kläger persönlich Klage gegen den Besitzeinweisungsbeschluss und beantragte, die aufschiebende Wirkung seiner Klage anzuordnen. Nach gerichtlichem Hinweis ließ der Antragsteller am 7. Juni 2023 erneut durch seinen Bevollmächtigten Klage erheben und den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung stellen.
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Mit gerichtlichem Schreiben vom 9. Juni 2023 wurden die Beteiligten zu einer beabsichtigten Verweisung des Rechtsstreits an das Bundesverwaltungsgericht angehört. Der Antragsteller trug mit Schreiben vom 12. Juni 2023 vor, aus seiner Sicht sei das Bundesverwaltungsgericht zuständig; Gleiches gilt für den Antragsgegner (Schriftsatz vom 16. Juni 2023). Die Beigeladene verzichtete auf eine Äußerung.
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Mit Schriftsatz vom 16. Juni 2023 trug der Antragsteller vor, die Beigeladene habe bereits damit begonnen, Bäume auf dem Grundstück des Antragstellers zu fällen. Nach telefonischer Mitteilung der Beigeladenen vom gleichen Tag trifft dies zu; es sei weiter beabsichtigt, ab Montag, dem 19. Juni 2023, mit weiteren Arbeiten wie dem Aushub einer Grube und dem Bau des Mastfundamentes zu beginnen. Eine Unterbrechung der Arbeiten würde zu einem erheblichen finanziellen Schaden führen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten verwiesen.
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Der Verwaltungsgerichtshof ist für die Entscheidung über den Antrag nicht zuständig; die Streitsache ist an das zuständige Bundesverwaltungsgericht zu verweisen.
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1. Anstelle des Verwaltungsgerichtshofs ist gemäß § 6 Satz 1, Satz 2 Nr. 1, Nr. 18 der Anlage zu § 1 Abs. 1 Bundesbedarfsplangesetz vom 23. Juli 2013 (BGBl I S. 2543; 2014 I S. 148, 271), zuletzt geändert durch Gesetz vom 22. Mai 2023 (BGBl I S. 133), (BBPlG) i.V.m. § 50 Abs. 1 Nr. 6 VwGO das Bundesverwaltungsgericht für die Entscheidung über den Antrag zuständig.
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Gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 VwGO entscheidet das Oberverwaltungsgericht im ersten Rechtszug über sämtliche Streitigkeiten, die Planfeststellungsverfahren gemäß § 43 EnWG betreffen, soweit nicht die Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts nach § 50 Abs. 1 Nr. 6 VwGO begründet ist. Nach § 50 Abs. 1 Nr. 6 VwGO entscheidet das Bundesverwaltungsgericht im ersten und letzten Rechtszug über sämtliche Streitigkeiten, die Planfeststellungsverfahren und Plangenehmigungsverfahren für Vorhaben betreffen, die u.a. in dem Bundesbedarfsplangesetz bezeichnet sind.
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Der vorliegende Eilantrag bezieht sich auf einen Besitzeinweisungsbeschluss, der auf § 44b EnWG gestützt ist. Der Besitzeinweisungsbeschluss steht im Zusammenhang mit der Realisierung eines Vorhabens nach § 43 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EnWG (vgl. den Planfeststellungsbeschluss der Regierung der Oberpfalz vom 29. Juli 2022, S. 76 und 80). Es stellt einen Teilabschnitt des unter Nr. 18 der Anlage zu § 1 Abs. 1 BBPlG aufgeführten Vorhabens „Höchstspannungsleitung Redwitz – Mechlenreuth – Etzenricht – Schwandorf; Drehstrom Nennspannung 380 kV“ dar (vgl. Planfeststellungsbeschluss S. 162). Für die Entscheidung über Klagen gegen den Planfeststellungsbeschluss selbst wäre daher gemäß § 6 Satz 1, Satz 2 Nr. 1, Nr. 18 der Anlage zu § 1 Abs. 1 BBPlG i.V.m. § 50 Abs. 1 Nr. 6 VwGO das Bundesverwaltungsgericht zuständig.
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Nach Auffassung des Senats umfasst § 50 Abs. 1 Nr. 6 VwGO i.V.m. § 6 Satz 1, Satz 2 Nr. 1 BBPlG nicht nur die eigentlichen Planfeststellungsentscheidungen und die in § 6 Satz 2 Nr. 1 BBPlG ausdrücklich genannten begleitenden Entscheidungen, sondern darüber hinaus auch die vorzeitige Besitzeinweisung.
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Zwar hat der Gesetzgeber in § 48 Abs. 1 Satz 3 VwGO eine Sonderregelung für Besitzeinweisungen getroffen, von der der Freistaat Bayern in Art. 5 AGVwGO Gebrauch gemacht hat. Danach entscheidet der Verwaltungsgerichtshof im ersten Rechtszug über Streitigkeiten, die Besitzeinweisungen in den Fällen des § 48 Abs. 1 Satz 1 VwGO betreffen. Unabhängig davon, dass § 48 Abs. 1 Satz 3 VwGO in den Fällen, in denen die Besitzeinweisung – wie hier – bundesrechtlich geregelt ist und die bundesrechtliche Regelung den Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten vorsieht, wohl nicht zur Anwendung kommen kann (vgl. Ziekow in Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 48 Rn. 32), liegt hier – bezogen auf den in § 48 Abs. 1 Satz 1 VwGO allein erwähnten Planfeststellungsbeschluss nach § 43 EnWG – ein Fall des § 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 VwGO aber gerade nicht vor, weil insoweit die Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts nach § 50 Abs. 1 Nr. 6 VwGO begründet ist (s.o.).
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Für eine weite Auslegung des § 50 Abs. 1 Nr. 6 VwGO i.V.m. § 6 BBPlG mit Blick auf die vorliegende vorzeitige Besitzeinweisung spricht zum einen die Zuweisung der Entscheidung über „sämtliche Streitigkeiten“, die Planfeststellungsverfahren nach den genannten Vorschriften betreffen, an das Bundesverwaltungsgericht (vgl. BVerwG, B.v. 10.2.2023 – 7 VR 1.23 – juris Rn. 12 in Bezug auf § 12 Satz 1 LNGG). Zudem ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts der Begriff der Zulassung des vorzeitigen Baubeginns nach § 12 Satz 2 Nr. 1 LNGG mit Blick auf das Energiewirtschaftsgesetz nicht auf die so bezeichnete Zulassung des vorzeitigen Baubeginns im Sinne des § 44c EnWG beschränkt. Er erfasst vielmehr auch die in § 44b EnWG geregelte vorzeitige Besitzeinweisung, die dasselbe Ziel der Ermöglichung des zügigen Baubeginns verfolgt. Das ist – bezogen auf das LNGG – aus der gesamten Zielsetzung des Gesetzes herzuleiten, das nach seinem § 1 Abs. 1 der zügigen Einbindung verflüssigten Erdgases in das bestehende Fernleitungsnetz dient. Nach der dortigen Gesetzesbegründung soll eine Aufteilung des Rechtsschutzes auf verschiedene Instanzen gerade vermieden werden (BVerwG, B.v. 10.2.2023 – 7 VR 1.23 – juris Rn. 12 mit Verweis auf BT-Drs. 20/1742 S. 38).
16
Vorliegend handelt es sich ebenfalls um eine vorzeitige Besitzeinweisung nach § 44b EnWG, wenn auch das zugrunde liegende Vorhaben nicht in den Anwendungsbereich des LNGG fällt (§ 2 LNGG), so dass vorliegend nicht § 12 LNGG zur Anwendung kommt. Für die Übertragung der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts auf § 6 BBPlG spricht aus Sicht des Senats insbesondere die Vergleichbarkeit des Wortlauts des § 6 Satz 2 Nr. 1 BBPlG und des § 12 Satz 2 Nr. 1 LNGG (Zulassungen des vorzeitigen Baubeginns) und darüber hinaus das beiden Vorschriften gleichermaßen zugrunde liegende Ziel der Beschleunigung der Verfahren. In Bezug auf § 6 Satz 2 Nr. 1 BBPlG ist dieses Ziel der Begründung des Gesetzes zur Beschleunigung des Energieleitungsausbaus vom 13. Mai 2019 (BGBl I S. 706) zu entnehmen, mit dem der jetzige § 6 Satz 2 Nr. 1 BBPlG eingefügt wurde (vgl. die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Energie, BT-Drs. 19/8913 S. 55, und deren Begründung auf BT-Drs. 19/9027 S. 20, dort wiederum Verweis auf die Begründung zur Änderung des § 44c Abs. 4 Satz 2 EnWG auf BT-Drs. 19/7375 S. 65). Danach soll durch die Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts eine einheitliche Befassung und Entscheidungsgeschwindigkeit für Entscheidungen gewährleistet werden, die Vorhaben aus dem Bundesbedarfsplangesetz oder Energieleitungsausbaugesetz betreffen. Könnte der Planfeststellungsbeschluss für ein solches Vorhaben vor dem Bundesverwaltungsgericht angegriffen werden, während der vorzeitige Baubeginn den normalen Instanzenzug durchlaufen müsste, könnte nach der Gesetzesbegründung der Beschleunigungseffekt der Rechtswegverkürzung in § 6 BBPlG zunichte gemacht werden. Vor diesem Hintergrund lassen sich die Erwägungen des Bundesverwaltungsgerichts zu § 12 LNGG ohne Weiteres auf § 6 BBPlG übertragen.
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2. Der Rechtsstreit ist daher gemäß § 83 Satz 1 VwGO i.V.m. § 17a Abs. 2 GVG an das Bundesverwaltungsgericht zu verweisen.
18
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 83 Satz 2, § 152 Abs. 1 VwGO).