Inhalt

VGH München, Beschluss v. 16.06.2023 – 1 ZB 23.35
Titel:

Kein Vorbescheid für die Errichtung eines Mehrfamilienhauses im Außenbereich – Abgrenzung Innen-/Außenbereich

Normenketten:
VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 1, Nr. 2, Nr. 5, § 124a Abs. 4 S. 4
BauGB § 34 Abs. 1, § 35 Abs. 2, Abs. 3 S. 1 Nr. 1, Nr. 7
Leitsätze:
1. Für die Begrenzung des Bebauungszusammenhangs kommt es auf die Grundstücksgrenzen nicht an (wie BVerwG BeckRS 1993, 31228521 Rn. 3). (Rn. 9) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Ausweitung des Ortsteils über den Bebauungszusammenhang hinaus in den Außenbereich beeinträchtigt als Vorgang einer siedlungsstrukturell zu missbilligenden Entwicklung (§ 35 Abs. 3 S. 1 Nr. 7 BauGB) öffentliche Belange. (Rn. 11) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Vorbescheid, Abgrenzung Innen- und Außenbereich, Innerstädtischer Grünzug, bauplanungsrechtliche Zulässigkeit, Innenbereich, Bebauungszusammenhang, Teilnahme am Bebauungszusammenhang, Außenbereich, öffentlicher Belang, Ausweitung Ortsteil, Flächennutzungsplan
Vorinstanz:
VG München, Urteil vom 28.07.2022 – M 11 K 19.5334
Fundstelle:
BeckRS 2023, 15632

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 80.000 Euro festgesetzt.

Gründe

I.
1
Die Klägerin begehrt die Erteilung eines Vorbescheids für die Errichtung eines Mehrfamilienhauses mit 8 Wohneinheiten auf dem Grundstück FlNr. …, Gemarkung D..
2
Das Vorhaben soll südlich der dort bestehenden Bebauung an der L.-T.-Straße, für deren Erweiterung am Südflügel ebenfalls ein Verfahren anhängig ist (Az. 1 ZB 22.1868), errichtet werden. Die freie Fläche wird westlich von der Bebauung entlang der K.-A.-Straße und östlich von dem M.kanal begrenzt. Das Gelände fällt von Westen nach Osten steil ab und wird zum M.kanal hin eben; das Vorhaben soll in dem bestehenden Hang errichtet werden. Der Grünzug, der im Norden als schmaler Streifen bis zum M.kanal östlich der bestehenden Bebauung beginnt, setzt sich in unterschiedlicher Breite nach Süden fort; auf Höhe des Vorhabenstandorts beträgt die West-Ost-Ausdehnung der freien Fläche zwischen der bestehenden Bebauung im Westen und dem M.kanal etwa 50 m.
3
Die gegen den ablehnenden Bescheid der Beklagten erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht mit Urteil vom 28. Juli 2022 abgewiesen. Der Vorhabenstandort liege nicht mehr innerhalb eines im Zusammenhang bebauten Ortsteils. Auch wenn der Grünzug auf Höhe der Anwesen K.-A.-Straße 30 und S.weg 13a schmäler in Erscheinung trete, sei der nördliche Teil des Grünzugs nicht mehr von der umgebenden Bebauung geprägt. Der Bebauungszusammenhang reiche nicht bis zum M.kanal, sondern die Hangkante, die entlang der westlichen Grundstücksgrenze des Anwesens K.-A.-Straße 36 verlaufe und von der aus das Gelände nach Osten hin relativ steil abfalle, stelle für den Vorhabenstandort eine klare Trennlinie zwischen Innen- und Außenbereich dar. Der Bebauungszusammenhang ende auch nicht erst auf Höhe einer gedachten Linie zwischen dem Bestandgebäude und dem Gebäude auf dem Grundstück K.-A.-Straße 30. Die Grenze zwischen dem Innen- und Außenbereich könne nicht als eine an den nach „außen“ ragenden Gebäuden gebildete Mittellinie gezogen werden. Das nicht privilegierte Vorhaben widerspreche den Darstellungen des Flächennutzungsplans, beeinträchtige die natürliche Eigenart der Landschaft und ihren Erholungswert und lasse ein Ausufern der Bebauung in den Außenbereich hinein befürchten.
4
Mit dem Zulassungsantrag trägt die Klägerin ergänzend zum Sachverhalt vor, dass der M.kanal im Süden unmittelbar am Fuße des Altstadthangs verlaufe. Erst auf Höhe des Grundstücks K.-A.-Straße 16 beginne der eigentliche, eben verlaufende innerstädtische Grünzug westlich des M.kanals, welcher sich bis auf die Höhe des Bestandsgebäudes auf dem Vorhabengrundstück im Norden erstrecke. Der Übergang des Grünzugs in den ansteigenden Hang zur Altstadt hin erfolge erst westlich des Grünzugs. Die Bebauung auf der östlichen Seite der K.-A.-Straße sei zum Teil sehr deutlich mit den rückwärtigen Gebäudeteilen in den nach Osten abfallenden Altstadthang gebaut. Der aktuelle Flächennutzungsplan stelle für den Vorhabenstandort keine Grünfläche, sondern ein besonderes Wohngebiet dar. Der Antrag auf Zulassung der Berufung sei begründet, es lägen die Zulassungsgründe des § 124 Abs. 2 Nr. 1, 2 und 5 VwGO vor. Die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit des Vorhabens richte sich nach § 34 BauGB. Der gesamte, von Süden nach Norden verlaufende Hang selbst, beginnend ab dem Anwesen K.berg 7, sei nach der Verkehrsauffassung noch dem Innenbereich zuzuordnen. Dies folge daraus, dass über die gesamte Länge des D. „Altstadtberges“ stattliche Gebäude in den Hang hinein errichtet seien; hervorzuheben sei insbesondere auch das unmittelbar südlich an den Vorhabenstandort anschließende Gebäude, das hangseitig fünfgeschossig in Erscheinung trete und deutlich in Richtung Osten über die Hangkante hinaus in den Hang hinein errichtet sei. Es sei zwischen dem zum Altstadtbereich gehörenden Hang selbst und dem Grünzug am Fuße des Altstadthangs in ebenem Gelände zu unterscheiden. Sehe man nicht den gesamten Hang als Innenbereich an, sei der Vorhabenstandort aufgrund der Bestandsbebauung und der südlichen Nachbarbebauung, die jeweils nahe des M.kanals lägen, dem Bebauungszusammenhang zuzurechnen. Bei einer Einstufung des Vorhabens nach § 35 Abs. 2 BauGB sei eine Beeinträchtigung öffentlicher Belange nicht gegeben.
5
Die Beklagte tritt dem Zulassungsvorbringen entgegen.
6
Ergänzend wird auf die Gerichts- und Behördenakten verwiesen.
II.
7
Der zulässige Antrag bleibt ohne Erfolg. Die geltend gemachten Zulassungsgründe der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO), besonderer tatsächlicher Schwierigkeiten (§ 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) sowie des Vorliegens eines Verfahrensmangels (§ 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO) liegen nicht vor bzw. werden nicht dargelegt (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO).
8
1. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils, die die Zulassung der Berufung rechtfertigen, sind zu bejahen, wenn ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Verwaltungsgerichts mit schlüssigen Argumenten in Frage gestellt wird (vgl. BVerfG, B.v. 8.5.2019 – 2 BvR 657/19 – juris Rn. 33; B.v. 20.12.2010 – 1 BvR 2011/10 – NVwZ 2011, 546) und die Zweifel an der Richtigkeit einzelner Begründungselemente auf das Ergebnis durchschlagen (vgl. BVerwG, B.v. 10.3.2004 – 7 AV 4.03 – DVBl 2004, 838). Das ist nicht der Fall. Das Verwaltungsgericht hat zu Recht angenommen, dass der Standort des geplanten Vorhabens im Außenbereich liegt und das Wohnbauvorhaben öffentliche Belange beeinträchtigt (§ 35 Abs. 2, 3 BauGB).
9
Ein Bebauungszusammenhang im Sinn von § 34 Abs. 1 BauGB ist nach ständiger Rechtsprechung anzunehmen, soweit die aufeinanderfolgende Bebauung trotz etwa vorhandener Baulücken den Eindruck der Geschlossenheit und Zusammengehörigkeit vermittelt und die zur Bebauung vorgesehene Fläche (noch) diesem Zusammenhang angehört. Wie eng die Aufeinanderfolge von Baulichkeiten sein muss, um sich als zusammenhängende Bebauung darzustellen, ist nicht nach geografisch-mathematischen Maßstäben, sondern aufgrund einer umfassenden Würdigung der tatsächlichen örtlichen Gegebenheiten einzelfallbezogen zu entscheiden. Der Bebauungszusammenhang endet regelmäßig am letzten Baukörper. Örtliche Besonderheiten können es im Einzelfall aber ausnahmsweise rechtfertigen, ihm noch bis zu einem Geländehindernis, einer Erhebung oder einem Einschnitt (Damm, Böschung, Fluss, Waldrand o.ä.) ein oder mehrere Grundstücke zuzuordnen, die unbebaut sind oder trotz des Vorhandenseins von Baulichkeiten sonst nicht zur Prägung der Siedlungsstruktur beitragen. Maßgeblich ist dabei, ob diese besonderen topografischen oder geografischen Umstände den Eindruck der Geschlossenheit bzw. Zugehörigkeit einer Fläche zum Bebauungszusammenhang vermitteln (vgl. BVerwG, B.v. 8.10.2015 – 4 B 28.15 – ZfBR 2016, 67 m.w.N.). Für die Begrenzung des Bebauungszusammenhangs kommt es auf die Grundstücksgrenzen nicht an (vgl. BVerwG, B.v. 22.7.1993 – 4 B 78.93 – juris Rn. 3). Weiter muss die Grenzlinie zwischen Innen- und Außenbereich nicht gradlinig verlaufen, sondern darf grundsätzlich auch vor- und zurückspringen (vgl. BVerwG, B.v. 4.7.1990 – 4 B 103.90 – NVwZ 1990, 962).
10
Nach diesen Maßstäben ist das Verwaltungsgericht auf der Grundlage der im Rahmen einer Ortseinsicht getroffenen Feststellungen nachvollziehbar davon ausgegangen, dass die Fläche, auf der das Vorhaben realisiert werden soll, nicht mehr durch die umliegende Bebauung geprägt wird. Es hat die notwendige Gesamtbetrachtung angestellt und sowohl die Fläche des Vorhabengrundstücks als auch die gesamten Freiflächen sowie die topographischen Gegebenheiten in den Blick genommen; weiter hat es zutreffend auf die vorhandene Bebauung in der Umgebung abgestellt. Soweit die Klägerin meint, dass für ihr Vorhaben die Abgrenzung zum Außenbereich nicht entlang der Hangkante vorgenommen werden könne, sondern der gesamte Hang noch dem Bebauungszusammenhang zuzurechnen sei, erschließt sich dies dem Senat nicht. Der Hangbereich als solches stellt kein geeignetes Abgrenzungskriterium dar; insoweit sind die südlich gelegenen Anwesen unterschiedlich weit in den Hangbereich hinein bebaut, auch springt die Geländekante nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts vor und zurück. Soweit die Klägerin eine Linie zwischen dem südöstlichen Ende der bestehenden Bebauung auf dem Vorhabengrundstück und dem Gebäude auf dem Grundstück K.-A.-Straße 30 ziehen will, kann auf eine solche Linienziehung nach den oben dargestellten Grundsätzen nicht maßgeblich abgestellt werden. Das Verwaltungsgericht hat es auch zu Recht abgelehnt, die Grenze zum Außenbereich über die Bestandsbebauung hinaus bis zum M.kanal zu verschieben. Bei einer größeren Entfernung – wie im Bereich des Vorhabenstandorts – kann dies nur ausnahmsweise angenommen werden und wird regelmäßig weitere besondere Umstände voraussetzen, die hier nicht ersichtlich sind (vgl. BVerwG, B.v. 1.8.1994 – 4 B 203.93 – juris Rn. 7). Denn auch wenn die Klägerin geltend macht, dass die Freifläche bei der südlich liegenden Bebauung zum M.kanal schmäler ist, so ist sie doch in nennenswerter Breite vorhanden und wird vom Betrachter als zusammenhängende Freifläche wahrgenommen.
11
Das Vorhaben ist als nicht privilegiertes Außenbereichsvorhaben nach § 35 Abs. 2 i.V.m. Abs. 3 BauGB nicht zulässig. Dabei genügt bereits die Beeinträchtigung eines öffentlichen Belangs. Die Ausweitung des Ortsteils über den Bebauungszusammenhang hinaus in den Außenbereich beeinträchtigt als Vorgang einer siedlungsstrukturell zu missbilligenden Entwicklung (§ 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 7 BauGB) öffentliche Belange. Es ist Aufgabe der Bauleitplanung oder einer Satzung nach § 34 Abs. 4 BauGB, die städtebauliche Entwicklung zu ordnen und zu lenken (vgl. BVerwG, B.v. 11.10.1999 – 4 B 77.99 – BauR 2000, 1175; U.v. 25.1.1985 – 4 C 29.81 – NVwZ 1985, 747). Dieser Grundsatz gilt auch bei einer innerörtlichen Außenbereichsinsel (vgl. BayVGH, B.v. 8.2.2022 – 15 ZB 21.2602 – juris Rn. 18). Der Flächennutzungsplan trifft als vorbereitender Bebauungsplan allenfalls eine Aussage über die allgemeinen planerischen Vorstellungen der Gemeinde, ohne die Bebauung im Einzelnen zu regeln (vgl. BVerwG, B.v. 4.7.1990 – 4 B 103.90 – NVwZ 1990, 962; BayVGH, B.v. 3.2.2014 – 1 ZB 12.468 – juris Rn. 9). Im Übrigen sieht der vorgelegte Auszug aus dem Flächennutzungsplan für den nördlichen, bebauten Bereich des Vorhabengrundstücks keine Wohnbaufläche vor, sondern eine Fläche für den Gemeinbedarf, für Gebäude sozialer Zwecke. Auch der Vorhabenstandort ist entgegen den Ausführungen der Klägerin nicht mehr Bestandteil einer bebaubaren Fläche, sondern liegt innerhalb der ausgewiesenen Grünfläche bzw. der Schutz- und Leitpflanzung des M.kanals, wie sich aus dem vorgelegten Auszug aus dem Flächennutzungsplan sowie dem digital eingestellten Flächennutzungsplan auf der Internetseite der Beklagten ergibt. Somit widerspricht das Vorhaben, wie das Verwaltungsgericht zutreffend festgestellt hat, auch den Darstellungen des Flächennutzungsplans (§ 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 BauGB). Der Feststellung des Verwaltungsgerichts, dass das Vorhaben die natürliche Eigenart der Landschaft und ihren Erholungswert beeinträchtige, werden bereits keine substantiierten Einwendungen entgegengesetzt.
12
2. Die Rechtssache weist auch keine besonderen tatsächlichen Schwierigkeiten (§ 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) auf. Soweit vorgetragen wird, dass eine Inaugenscheinnahme durch den Senat erforderlich sei, kann die notwendige Überzeugungsbildung durch die Feststellungen des Verwaltungsgerichts aufgrund einer Ortseinsicht, die Schilderung der örtlichen Gegebenheiten durch die Klägerin und die Beklagte, die im Wesentlichen übereinstimmend sind, sowie durch das in BayernAtlas vorhandene Kartenmaterial bzw. die Luftbilder zusammen mit dem vorgelegten Bildmaterial erfolgen (vgl. BVerwG, B.v. 25.3.1992 – 4 B 30.92 – juris Rn. 3; U.v. 14.11.1991 – 4 C 1.91 – NVwZ-RR 1992, 227).
13
3. Soweit die Klägerin einen Verfahrensfehler darin sieht, dass das Verwaltungsgericht die nähere Umgebung im Rahmen des Augenscheins nicht hinsichtlich der prägenden näheren Umgebung betrachtet habe, kam es auf die im Vorbescheidsantrag gestellten Fragen zu Art und Maß der baulichen Nutzung sowie den weiteren Zulässigkeitskriterien des § 34 BauGB nicht mehr entscheidungserheblich an.
14
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Nr. 9.1.1.3 der Empfehlungen des Streitwertkatalogs und entspricht dem vom Verwaltungsgericht festgesetzten Betrag. Gegenstand des Vorbescheids ist die Klärung wesentlicher bauplanungsrechtlicher Fragen zur Zulässigkeit des Vorhabens, so dass eine Reduzierung des Streitwerts nach Nr. 9.2 des Streitwertkatalogs nicht angezeigt ist.
15
Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (vgl. § 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).