Inhalt

VGH München, Beschluss v. 25.05.2023 – 19 ZB 22.2395
Titel:

Ausweisung eines US-Amerikaners nach rechtskräftiger Verurteilung wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes

Normenketten:
VwGO § 124 Abs. 2
AufenthG § 53 Abs. 1, Abs. 2, § 54 Abs. 1, § 55 Abs. 1
Leitsätze:
1. Die Anwendung der auf einer rechtskräftigen strafgerichtlichen Verurteilung beruhenden Ausweisungstatbestände erfordert regelmäßig keine Prüfung, ob der Betroffene tatsächlich eine Straftat begangen hat. (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)
2. Zwar besteht – beispielsweise im Rahmen der Feststellung einer Wiederholungsgefahr – keine strikte Bindung an eine rechtskräftige Verurteilung. Die Ausländerbehörden – und demzufolge auch die zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Ausweisungsverfügung berufenen Gerichte – können in dieser Beziehung aber ohne weiteres in aller Regel von der Richtigkeit der Verurteilung ausgehen und dürfen die darin getroffenen Feststellungen ihrer Entscheidung zugrunde legen. (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)
3. Allenfalls in Sonderfällen kann anderes gelten, wenn die Ausländerbehörde ausnahmsweise in der Lage ist, den Vorfall besser als die Strafverfolgungsorgane aufzuklären, oder für die Ausländerbehörde ohne weiteres erkennbar ist, dass die Verurteilung auf einem Irrtum beruht. (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Ausweisung eines US-Amerikaners, Sexueller Missbrauch eines Kindes, Geständnis im Strafverfahren, Zulassung der Berufung, Ausweisung, US-Amerikaner, Verurteilung, sexueller Missbrauch eines Kindes, Geständnis, Geständniswiderruf, Wiederholungsgefahr
Vorinstanz:
VG Regensburg, Urteil vom 07.10.2022 – RN 9 K 21.1581
Fundstelle:
BeckRS 2023, 15624

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger hat die Kosten des Berufungszulassungsverfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert für das Berufungszulassungsverfahren wird auf 10.000,00 Euro festgesetzt.

Gründe

1
Der Antrag auf Zulassung der Berufung bleibt ohne Erfolg.
2
Der in K... am ... 1955 geborene, die USamerikanische Staatsangehörigkeit besitzende, erstmals am 3. Juni 1999 unter seinem (anderslautenden) damaligen Namen in das Bundesgebiet eingereiste, seit dem 24. Mai 2000 befristete Aufenthaltserlaubnisse besitzende (zuletzt eine bis 4.10.2020 befristete Aufenthaltserlaubnis nach § 18 Abs. 4 AufenthG), seit dem 8. Juli 2019 zunächst in Untersuchungshaft und in der Folge in Strafhaft sitzende und seit dem ... 2022 mit einer deutschen Staatsangehörigen verheiratete Kläger wendet sich gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts vom 7. Oktober 2022, durch das seine Klage gegen den Bescheid des Beklagten vom 13. Juli 2021 abgewiesen worden ist. Mit diesem Bescheid wies der Beklagte den Kläger aus dem Bundesgebiet aus (Nr. 1 des Bescheids), erließ ein Einreise- und Aufenthaltsverbot, das auf die Dauer von sieben Jahren, beginnend mit der Ausreise, befristet wurde (Nr. 2 des Bescheids), lehnte die Anträge auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis (Nr. 3 des Bescheids) und auf Erteilung/Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis ab (Nr. 4 des Bescheids) und drohte dem Kläger die Abschiebung aus der Haft heraus bzw. nach Haftentlassung unter Setzung einer Frist zur freiwilligen Ausreise insbesondere in die Vereinigten Staaten von Amerika an (Nr. 5 des Bescheids).
3
Zur Klageabweisung führt das Verwaltungsgericht insbesondere aus, der angegriffene Bescheid erweise sich nicht mangels örtlicher Zuständigkeit als rechtswidrig. Die Ausweisung des Klägers erweise sich als rechtmäßig. Durch die Verurteilung vom 17. März 2021 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 6 Jahren 4 Monaten wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes in 75 Fällen (unter Einbeziehung des landgerichtlichen Urteils vom 19.5.2020: Gesamtfreiheitsstrafe von 2 Jahren 3 Monate wegen Steuerhinterziehung in 10 tatmehrheitlichen Fällen) erfülle der Kläger ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse gemäß § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG sowie nach § 54 Abs. 1 Nr. 1a Buchst. c) AufenthG. Darüber hinaus erfülle der Kläger jeweils ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse gemäß § 54 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 9 AufenthG. Auch wenn beim Kläger weder ein Hang noch Pädophilie habe festgestellt werden können, sei vorliegend eine Wiederholungsgefahr unter spezialpräventiven Gesichtspunkten jedenfalls bezogen auf Sexualdelikte zu bejahen. Weiterhin sprächen auch generalpräventive Gründe für eine Ausweisung des Klägers. Dem Kläger stehe weder ein besonders schwerwiegendes noch ein schwerwiegendes Bleibeinteresse im Sinne des § 55 Abs. 1 und 2 AufenthG zur Seite. Zwar sei der Kläger seit ... 2022 mit der deutschen Staatsangehörigen M. verheiratet. Jedoch erfülle dies nicht die Voraussetzungen des in § 55 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG vertypten Bleibeinteresses. Die Eheschließung sei im Rahmen der Abwägung nach § 53 Abs. 1 AufenthG zu berücksichtigen. Weiterhin sei der Kläger zum maßgeblichen Zeitpunkt des Ergehens der Ausweisungsverfügung weder im Besitz einer Niederlassungserlaubnis (§ 55 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG) noch einer Aufenthaltserlaubnis im Sinne des § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG gewesen. Das öffentliche Interesse an einer Ausreise überwiege das Interesse des Klägers an einem weiteren Verbleib im Bundesgebiet. Zugunsten des Klägers sei zu berücksichtigen, dass er sich seit dem Jahr 2000/2001 im Bundesgebiet aufhalte, hier eine langjährige deutsche Lebensgefährtin, mit der er inzwischen auch verheiratet sei, und sowohl freundschaftliche wie berufliche bzw. wirtschaftliche Bindungen habe. Wenngleich der Kläger wohl seitens bestimmter Ärzte langjährige Behandlung erfahren habe und erfahre, spreche dieser Umstand nicht durchgreifend zu Gunsten eines Bleibeinteresses. Dies umso mehr als die medizinische Versorgung in den Vereinigten Staaten auf höchstem Niveau gewährleistet sei und der Kläger ausweislich seines eigenen Vortrags über erhebliche finanzielle Mittel verfüge, mit deren Hilfe er sich diese ggf. auch leisten könnte. Soweit in diesem Zusammenhang die Reisefähigkeit des Klägers in Frage gestellt werde, handle es sich hierbei um eine Frage, die sich erst im Rahmen einer zwangsweisen Durchsetzung der Ausweisung mittels Abschiebung, nicht hingegen bei der Ausweisung selbst stellen würde. Weiterhin sei der Kläger im Bundesgebiet im Verhältnis zum Zeitpunkt seiner Aufenthaltsbegründung im Bundesgebiet erst verhältnismäßig spät, dafür aber gravierend, strafrechtlich in Erscheinung getreten. Wenngleich eine gewisse „Verwurzelung“ des Klägers in Deutschland festzustellen sein möge, sei dies für eine „Entwurzelung“ bezogen auf die Vereinigten Staaten nicht der Fall. Auch die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf nunmehr vier Jahre ab Ausreise erweise sich als rechtmäßig. Die Abschiebungsandrohung nach vollzogener Strafhaft bzw. aus der Haft heraus sei nicht zu beanstanden. Angesichts der Erfolglosigkeit der Klage bestehe kein Anspruch auf eine Tragung der Verfahrenskosten durch den Beklagten, weshalb auch die begehrte Aufhebung von Nr. 6 des streitgegenständlichen Bescheids erfolglos bleibe. Der Erteilung bzw. Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis stehe die Titelerteilungssperre des § 11 Abs. 1 Satz 2 AufenthG und § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG entgegen.
4
Das der rechtlichen Überprüfung durch den Senat ausschließlich unterliegende Vorbringen in der Begründung des Zulassungsantrags (§ 124a Abs. 4 Satz 4, Abs. 5 Satz 2 VwGO) rechtfertigt keine Zulassung der Berufung. Die geltend gemachten Zulassungsgründe der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO), der besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten (§ 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) und der grundsätzlichen Bedeutung (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO), deren Beurteilung sich grundsätzlich nach dem Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs richtet (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10.12 – juris Rn. 12), sodass eine nachträgliche Änderung der Sach- und Rechtslage bis zum Zeitpunkt der Entscheidung in dem durch die Darlegung des Rechtsmittelführers vorgegebenen Prüfungsrahmen zu berücksichtigen ist (BayVGH, B.v. 20.2.2017 – 10 ZB 15.1804 – juris Rn. 7), liegen nicht vor oder sind nicht hinreichend dargelegt.
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1. Die Berufung des Klägers ist nicht aufgrund ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils zuzulassen (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO). Der Zulassungsgrund ist nicht hinreichend dargelegt (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO).
6
Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts bestünden nur dann, wenn die Klägerseite im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (BVerfG, B.v. 10.9.2009 – 1 BvR 814/09 – juris Rn. 11; B.v. 9.6.2016 – 1 BvR 2453/12 – juris Rn. 16). Solche schlüssigen Gegenargumente liegen bereits dann vor, wenn im Zulassungsverfahren substantiiert rechtliche oder tatsächliche Umstände aufgezeigt werden, aus denen sich die gesicherte Möglichkeit ergibt, dass die erstinstanzliche Entscheidung unrichtig ist (BVerfG, B.v. 20.12.2010 – 1 BvR 2011/10 – juris Rn. 19). Es reicht nicht aus, wenn Zweifel lediglich an der Richtigkeit einzelner Rechtssätze oder tatsächlicher Feststellungen bestehen, auf welche das Urteil gestützt ist. Diese müssen vielmehr zugleich Zweifel an der Richtigkeit des Ergebnisses begründen. Das wird zwar regelmäßig der Fall sein. Jedoch schlagen Zweifel an der Richtigkeit einzelner Begründungselemente nicht auf das Ergebnis durch, wenn das angefochtene Urteil sich aus anderen Gründen als richtig darstellt (BVerwG, B.v. 10.3.2004 – 7 AV 4/03 – juris Rn. 9). Beruht das angegriffene Urteil des Verwaltungsgerichts auf mehreren selbständig tragenden Gründen (Mehrfachbegründung), darf die Berufung nur zugelassen werden, wenn hinsichtlich jeder der tragenden Gründe ein Zulassungsgrund besteht (vgl. BayVGH, B.v. 24.4.2020 – 1 ZB 19.1444 – juris Rn. 4; vgl. zu den Darlegungsanforderungen im Revisionsverfahren BVerwG, B.v. 12.1.2017 – 4 BN 1.17 – juris Rn. 2; B.v. 17.12.2010 – 9 B 60.10 – BayVBl 2011, 352). Denn ist nur bezüglich einer Begründung ein Zulassungsgrund gegeben, dann kann diese Begründung hinweggedacht werden, ohne dass sich der Ausgang des Verfahrens ändert (vgl. BVerwG, B.v. 21.8.2018 – 4 BN 44.17 – BauR 2018, 1982).
7
Zur Begründung des Zulassungsgrundes der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung lässt der Kläger vortragen, die (nunmehrige) Bevollmächtigte des Klägers habe dessen Ehefrau bereits im September 2022 mitgeteilt, dass sowohl die Ausländerbehörde als auch das Verwaltungsgericht keine andere Wahl gehabt hätten, als den Aufenthalt zu beenden und die Ausweisung zu bestätigen, weil der Kläger bisher nur befristete Aufenthaltserlaubnisse gehabt habe, die Ehe in der Haft geschlossen worden sei und die Behörden bei einem derart häufigen und schwerwiegenden sexuellen Missbrauch von einer Wiederholungsgefahr ausgingen. Sowohl das angegriffene Urteil als auch der Ausweisungsbescheid seien auf die strafrechtlichen Verurteilungen des Klägers gestützt. Dem Kläger sei durchaus bewusst, dass die Verwaltungsbehörden und Verwaltungsgerichte an rechtskräftige Strafurteile gebunden seien; dieser Grundsatz werde allerdings von Art. 19 GG durchbrochen, wenn die rechtskräftigen Urteile durch derart prozessual fehlerhaftes Verhalten (des früheren Bevollmächtigten) zustande gekommen seien, dass eine Wiederaufnahme der Verfahren gerechtfertigt sei. Der Kläger habe nunmehr einen Strafverteidiger für die Wiederaufnahme der Strafverfahren beauftragt, da das Verhalten und Agieren der bisherigen Kanzlei des Klägers äußerst fragwürdig gewesen sei. Der frühere Bevollmächtigte habe Rechnungen für das erstinstanzliche ausländerrechtliche Verfahren gestellt, die 38-mal höhere Beträge enthielten als die gesetzlichen Gebühren nach dem RVG. Hinsichtlich eines Antrags auf Zulassung der Berufung habe der frühere Bevollmächtigte gegenüber dem Kläger erklärt, das Gericht werde nur arbeiten, wenn der Kläger zuvor eine Summe von 25.000 EUR zahle. Der Kläger und seine Ehefrau seien von dem früheren Anwalt nicht über die Erfolgsaussichten der ausländerrechtlichen Klage informiert worden. Natürlich gehe es grundsätzlich die Gerichte nichts an, wieviel die Mandanten ihren Anwälten zahlen oder zu zahlen bereit seien; aber in diesem ausländerrechtlichen Verfahren sei eine derart hohe Rechnung bei diesen Erfolgschancen indiskutabel und moralisch/standesrechtlich fragwürdig. Der Kläger habe im Missbrauchsverfahren das Geständnis nur unterschrieben, weil ihm sein ehemaliger Anwalt gesagt habe, ihm drohe ohne Geständnis Sicherungsverwahrung. Gleichzeitig habe der ehemalige Bevollmächtigte die Erstellung des psychologischen Gutachtens durch ein persönliches Gespräch mit dem Kläger unterbunden, obwohl der Kläger durchaus zur Aussage wie auch zur Untersuchung bereit gewesen sei. Das Gutachten im Strafverfahren sei daher nur aufgrund der Aktenlage, der Aussage der Polizisten und dem Verhalten des Klägers bei den Verhandlungstagen erstellt worden. Da das Strafurteil hauptsächlich auf dem Geständnis des Klägers und auf den Aussagen der Polizisten, die mit dem Mädchen gesprochen hätten, basiere, habe das Ergebnis einer narzisstischen manipulativen Persönlichkeit herauskommen müssen. Die gutachterliche Beurteilung (hochmanipulative Aspekte, Egozentrik, charismatisches und gewinnendes Auftreten, Mangel an Empathie, übersteigertes Selbstwertgefühl, niedrige Schwelle für Ärger, Affekte und aggressives Verhalten) widerspreche den Berichten der JVA, in der das Personal tagtäglich den Kläger erlebe und selbst Menschenkenntnis habe. Der Kläger trete dort völlig unauffällig auf, habe sich ein- und untergeordnet („…ungezwungen, beherrscht, sachlich und taktvoll… freundlich, höflich und respektvoll“). Wäre der Kläger der Machtmensch, als der er beschrieben worden sei, dann hätte er gerade in einer solchen Konfliktlage wie das Gefängnisleben massiven Ärger bekommen. Wenn man den Kläger sehe, sei er äußerst unauffällig, anhand des Gutachtens sei man geradezu enttäuscht. Es sei daher offensichtlich, dass dieses Bild eines hochmanipulativen charismatischen Narzissten (Guru) dadurch entstanden sei, dass die Gutachterin nur die Akten zur Verfügung gehabt habe und dass sich die Sachlage, die sich unwidersprochen aus der Akte ergebe, nur so ergeben könne, wenn der Kläger dieses Persönlichkeitsbild habe – anders hätte man die mutmaßlichen Taten nicht erklären können. Es sei daher ein extremer anwaltlicher Fehler, dem Gutachten nicht zu widersprechen bzw. eine Untersuchung des Klägers nicht zu erlauben oder ein Gegengutachten vorzulegen. Aus dieser Begutachtung folge gleichzeitig der Grund für die spezialpräventive Ausweisung; der Kläger erscheine derart gefährlich, dass man von einer Wiederholungsgefahr ausgehen müsse. Das angegriffene Urteil beruhe daher direkt auf dem Gutachten bzw. der Unterlassung eines Gegengutachtens. Ein weiterer Fehler sei, dass der frühere Bevollmächtigte gar nicht mit dem mutmaßlichen Opfer gesprochen habe. Mit dem mutmaßlichen Opfer habe die Polizei einmal gesprochen, sonst niemand. Ganz offensichtlich habe das Mädchen keine Aussage machen wollen. An dem Sachverhalt sei äußerst auffällig, dass die vielen Zeuginnen, die angeblich Sex mit dem Kläger gehabt hätten, immer vom Vaginalverkehr gesprochen hätten; bei dem Mädchen soll Analverkehr ausgeübt worden sein, also eine Änderung des modus operandi. Der Großteil der Schilderung des sexuellen Missbrauchs beruhe nicht einmal auf den Angaben des Mädchens, sondern seiner Mutter. Äußerst auffällig sei, dass die Mutter auf Nachfrage des Ermittlers gesagt habe, sie habe den Angeklagten mit dem Missbrauch ihrer Tochter konfrontiert; der Kläger habe es geschafft, sie vor allen anderen Seminarteilnehmern als unglaubwürdig darzustellen, die Missbräuche der Tochter seien dann weitergegangen. Es handle sich bei dem Kläger nicht um einen Sektenführer; er halte Seminare ab, die von unterschiedlichen Leuten besucht würden, allerdings auch mit gewisser Stammkundschaft. Es bestehe keinerlei Abhängigkeitsverhältnis, die Betroffenen lebten nicht zusammen. Es sei daher niemand gezwungen, weitere Seminare zu buchen. Die Mutter hätte daher den Kläger jederzeit bei der Polizei anzeigen können – selbst wenn angeblich andere Seminarmitglieder sie als unglaubwürdig ansehen würden. Sie hätte ihre Tochter ganz einfach vor dem Missbrauch schützen können, indem sie mit ihrer Tochter dort nicht mehr hinfahre. Dass die Mutter also sehenden Auges angeblich den Missbrauch weiter durch weitere Teilnahmen an Seminaren, Meditationen etc toleriert haben solle, mache sie entweder unglaubwürdig oder aber so unfähig, dass das Jugendamt hätte einschreiten müssen. Die Mutter sei auch deswegen unglaubwürdig, weil sie mit ihrer Tochter trotz angeblich jahrelangen Missbrauchs nicht beim Frauenarzt gewesen sei. Es lägen daher keine ärztlichen oder anderen Nachweise vor, dass es den Missbrauch tatsächlich gegeben habe. Der ehemalige Bevollmächtigte hätte daher zumindest die Mutter als Zeugin befragen und hinterfragen müssen, nachdem es keine Beweise für den Missbrauch gegeben habe. Bei dem Unternehmen des Klägers handle es sich nicht um eine Kommune, um ein geschlossenes System wie Scientology, sondern Menschen aller Art könnten Seminare zur persönlichen Weiterbildung buchen. Wenn ihnen das Konzept nicht gefalle oder sie der Meinung seien, der Kläger rede Unsinn, dann könnten sie ihren Beitrag zurückverlangen und einfach gehen. Mit den Teilnehmern sei vereinbart worden, dass den Ablauf des Seminars störende Teilnehmer 100 EUR in die Kaffeekasse zahlten; die Kaffeekasse gehöre der „Gemeinschaft“. Es sei geplant gewesen, ein Seminarhaus zu kaufen, da ein anderes Projekt gescheitert sei. Die „Strafzahlung“ habe daher nicht der Bereicherung des Unternehmens gedient, was steuerrechtlich auch habe nachgewiesen werden können. Es mache daher keinen Sinn, dass diese Strafzahlung als Grund dafür angegeben worden sei, den sexuellen Missbrauch aus Angst vor dieser Zahlung zu thematisieren – nachdem die Mutter ja regelmäßig die Seminare bezahlt habe. Zudem sei der Betrag nicht derart hoch, dass dieser Menschen ängstigen oder zum Schweigen oder zum Dulden von sexuellem Missbrauch führen würde. Da diese Zahlungen als das Druckmittel des Klägers zur Disziplinierung und Unterdrückung bzw. Durchsetzung des sexuellen Missbrauchs benannt worden seien, hätte dieses System und diese Aussage an sich vom früheren Bevollmächtigten hinterfragt werden müssen. Mit den angeblichen (früheren) Sexualpartnerinnen des Klägers und den massenhaften DVDs mit pornographischen Inhalt (ausdrücklich nicht pädophil), werde das Bild von einem Guru gezeichnet, in dessen Haus es ständig Sex und Machtspiele gegeben haben solle, ohne dass dieses verifiziert worden sei. Zudem hätten viele Menschen Pornos ohne sexuellen Missbrauch zu begehen. Durch diese Faktoren in Verbindung mit dem Geständnis und dem Gutachten, das wiederum auf diesen Faktoren beruhe, sei das Bild des hochgefährlichen Mannes geschaffen worden, der den ganzen Tag nur seinen Trieb befriedigen möge, ohne dass dies sein früherer Bevollmächtigter durch Zeugenbefragung hinterfragt habe. Auch dass der Kläger einer Teilnehmerin die Abtreibung eines Kindes befohlen habe, sei völlig abwegig, denn es sei ja nicht einmal seines gewesen. Es widerspreche völlig seinen „Lehren“. Die Teilnehmerin habe ein Kind von einem Mann erwartet, der bereits drei Kinder gehabt habe und mit denen sie bereits überfordert gewesen sei. Da sie die Abtreibung gewollt habe, habe sie der Kläger in einem Gespräch dabei unterstützt. Sie müsse wissen, was gut für sie sei. Er habe es ihr aber nicht befohlen. Es habe auch in keinster Weise in seinem Interesse gelegen, ob sie abtreibe oder nicht. Auch hier hätte der Anwalt einschreiten und hinterfragen müssen. Das Strafurteil stelle selbst fest, dass der Kläger schwer krank sei. Aus dem vorgelegten ärztlichen Gutachten des Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. med. U.W. gehe hervor, dass der Kläger seit Jahren unter derartig schweren Erkrankungen leide, dass er derzeit transportunfähig sei. Diese Erkrankungen schlössen ein derart aktives Sexualleben, welches dem Kläger hier unterstellt werde, völlig aus. Er könne mit seinem kaputten Rücken, der Prostataproblematik gar nicht alles ausüben; er werde seit Jahren wegen Impotenz behandelt (daher die Pornos). Es hätte daher dringend ein ärztliches Gutachten veranlasst werden müssen, ob denn der Kläger überhaupt körperlich in der Lage gewesen wäre, diesen Missbrauch durchzuführen (zudem sei bekannt, „dass Männer Schmerzen beim Ejakulieren haben, wenn sie an der Prostata erkrankt sind, dass sie massive Potenzprobleme haben“). Der Kläger habe eine schwere Herzkreislauferkrankung. Da sexueller Verkehr den Blutdruck und den Kreislauf antreibe, hätte er den vielen Verkehr, der ihm hier unterstellt werde, gar nicht aushalten können. Er leide an Kurzatmigkeit und Atemnot. Es komme zu einer mangelhaften Durchblutung des Gehirns. Allein bei diesen Symptomen sei permanenter Sex völlig ausgeschlossen. Des Weiteren leide er seit Jahren an einem chronischen Nierenstein- bzw. Blasensteinleiden, mit wiederkehrenden Steinen in unterschiedlicher Größe in den Nieren und Harnblase. Seit seiner Jugend habe er eine vergrößerte Prostata. Erektionen und Geschlechtsverkehr sollten aufgrund des permanenten Drucks auf Blase und Harnleiter unterbleiben, weil der Druck noch größer werden würde. Der Kläger sei aufgrund der vielfachen Erkrankungen impotent. Es sei daher völlig ausgeschlossen, dass der sexuelle Missbrauch „auf Befehl“ so stattgefunden haben könne, da er diese Erkrankungen seit Jahren bzw. seiner Jugend habe. Er könne das nicht kontrollieren und würde daher ständig Gefahr laufen, bei sexuellen Kontakten impotent aufzufallen. Zudem sei der Gedanke an Oralverkehr schon äußerst peinlich, weil er an Inkontinenz leide. Dass diese Erkrankungen/Phänomene bei den Beschreibungen des Sexualverkehrs mit dem Kläger nicht erwähnt worden seien, seien der Beweis dafür, dass sie so nicht stattgefunden haben könnten. Es sei daher völlig unverständlich, dass der ehemalige Bevollmächtigte kein medizinisches Gutachten beantragt habe. Das vorgelegte Attest sei „zwar“ von seinem langjährigen Hausarzt erstellt worden, sei aber durch Befunde anderer Ärzte untermauert worden. Es handle sich daher nicht um ein Gefälligkeitsgutachten. Der Kläger berichte, dass er in der Haft vor einigen Monaten ins Krankenhaus gekommen sei, weil er „aus sämtlichen Öffnungen geblutet hat“. Dass er während der Haftzeit immer wieder im Krankenhaus gewesen sei, könne durch die Justizvollzugsanstalt belegt werden. Er habe ständigen Harndrang. Somit könne man sich nicht vorstellen, wie 75mal sexuelle Handlungen durchgeführt worden sein sollten, ohne dass seine Impotenz oder Inkontinenz oder ständiges Laufen zur Toilette aufgefallen wäre. Somit hätte zwingend ein medizinisches Gutachten erstellt werden müssen. Diese Erkrankungen schlössen eine Wiederholungsgefahr durch den Kläger gleichzeitig aus: er sei ein Wrack. Sein Zustand werde sich auf Dauer nicht verbessern, sondern weiter verschlechtern. Ein zukünftig aktives Sexualleben sei völlig ausgeschlossen. Aufgrund der Aufzählung der verschiedenen Mängel, auf denen das Strafurteil beruhe, sei nachvollziehbar, dass trotz der hohen Hürden eines Wiederaufnahmeverfahrens ein Level an Unterlassungen erreicht sei, der zu einer Wiederaufnahme führen könne. Diese werde daher baldmöglichst beantragt werden. Die Berufung sei daher zuzulassen, da es ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils gebe, da das Urteil auf den strafrechtlichen Verurteilungen beruhe, die aufgrund anwaltlicher Vertretungsmängel entstanden seien. Die Zulassung der Berufung führe zu der Erhaltung des Status Quo im ausländerrechtlichen Status des Klägers, so dass er die Wiederaufnahme des Strafverfahrens beantragen könne.
8
Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils ergeben sich aus dem Zulassungsvorbringen des Klägers auch unter Berücksichtigung der aktuellen Entwicklung nicht.
9
1.1 Mit seinem Zulassungsvorbringen hat der Kläger die Gefahrenprognose des Verwaltungsgerichts nicht ernstlich im Sinn des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO in Zweifel gezogen.
10
Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung der Ausweisung ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Berufungsgerichts (stRspr, vgl. BVerwG, U.v. 22.02.2017 – 1 C 3/16 – juris Rn. 18; U.v. 30.7.2013 – 1 C 9.12 – juris Rn. 8 m.w.N.).
11
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts haben Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte bei spezialpräventiven Ausweisungsentscheidungen und deren gerichtlicher Überprüfung eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen (BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10.12 – juris Rn. 18). Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (BayVGH, U.v. 30.10.2012 – 10 B 11.2744 – juris Rn. 33 m.w.N.). Da jeder sicherheitsrechtlichen Gefahrenprognose nach den allgemeinen Grundsätzen des Gefahrenabwehrrechts eine Korrelation aus Eintrittswahrscheinlichkeit und (möglichem) Schadensausmaß zugrunde liegt, sind – entgegen der Auffassung des Klägers – an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts bei dieser Prognose umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (stRspr; vgl. BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10/12 – juris Rn. 16; U.v. 10.7.2012 – 1 C 19/11 – juris Rn. 16; U.v. 4.10.2012 – 1 C 13.11 – juris Rn. 18; U.v. 6.9.1974 – 1 C 17.73 – juris Rn. 23; U.v. 17.3.1981 – 1 C 74.76 – juris Rn. 29; U.v. 3.7.2002 – 6 CN 8.01 – juris Rn. 41).
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1.1.1 Der Kläger ist im Bundesgebiet wiederholt und erheblich strafrechtlich in Erscheinung getreten. So wurde er am 19. Mai 2020 wegen Steuerhinterziehung in zehn tatmehrheitlichen Fällen zu einer Freiheitsstrafe von 2 Jahren 3 Monaten verurteilt. Ausweislich des strafgerichtlichen Urteils, dem eine Verständigung nach § 257c StPO vorausgegangen war, hat der Kläger durch Einkommen- und Gewerbesteuererklärungen für die Veranlagungszeiträume 2013 bis 2017 eine Verkürzung der Einkommen- und Gewerbesteuern von insgesamt 1.017.265 EUR zu seinen Gunsten erreicht. Dabei habe er in acht Fällen (Einkommensteuer der Jahre 2013-2017 und Gewerbesteuer der Jahre 2014-2016) jeweils Steuern von mehr als 50.000 EUR, somit in großem Ausmaß, verkürzt, womit er jeweils das Regelbeispiel des § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO verwirklicht habe. Die Aufdeckung der Taten sei durch die Steuerfahndungsstelle des Finanzamtes L. erfolgt. Zugunsten des Klägers wurden u.a. dessen Geständnis und die erfolgte vollständige Rückzahlung der Steuerschulden gewertet. Es folgte am 17. März 2021 die der Ausweisung zugrundeliegende Verurteilung des Klägers wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes in 75 tatmehrheitlichen Fällen unter Einbeziehung der durch Urteil des Landgerichts R. vom 19. Mai 2020 verhängten Strafen und unter Auflösung der dort gebildeten Gesamtstrafe zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 6 Jahren 4 Monaten. Er nahm an der am ... 2004 geborenen Geschädigten sexuelle Handlungen vor bzw. ließ sexuelle Handlungen von der Geschädigten an sich vornehmen, wobei ihm bei allen sexuellen Handlungen jeweils bewusst war, dass die Geschädigte zu den Tatzeitpunkten noch nicht 14 Jahre alt war. Laut den Ausführungen im strafgerichtlichen Urteil sei der Kläger bei Begehung sämtlicher verfahrensgegenständlicher Taten jeweils nicht in seiner Einsichts- und Steuerungsfähigkeit eingeschränkt gewesen. Bei der im Rahmen des Strafverfahrens erfolgten psychiatrischen Begutachtung seien keine krankhaften Störungen etc. festgestellt worden. Eine Unterbringung oder Sicherungsverwahrung wurde nicht angeordnet. Im Rahmen der Strafzumessung wurde zugunsten des Klägers insbesondere berücksichtigt, dass er sich geständig gezeigt habe und mit seinem Geständnis der Geschädigten, aber auch deren Mutter eine Zeugenaussage erspart habe (die Geschädigte sei zwar zum Zeitpunkt der strafgerichtlichen Entscheidung kein Kind im rechtlichen Sinne mehr gewesen, nichtsdestotrotz hätte eine solche Aussage, welche das damalige Erleben wieder aktualisiert, bei ihr als Jugendliche durchaus traumatische Erinnerungen hervorrufen können), dass er Tendenzen von Reue gezeigt habe, indem er durch die Zahlung eines Geldbetrages in Höhe von 50.000 EUR an die Geschädigte das Einsehen seines Fehlverhaltens und sein Bemühen um eine Form der Wiedergutmachung dokumentiert habe, dass er bei Begehung der Taten weder vorgeahndet noch vorbestraft gewesen sei, dass das Geständnis des Klägers ohne vorangegangene Verfahrensabsprache erfolgt sei und dass die Tatbegehungen letztlich durch eine Vernachlässigung der Fürsorgepflicht der Mutter der Geschädigten massiv erleichtert und begünstigt worden seien. Zulasten des Klägers hätten die näheren Umstände der Begehungsweise (insbesondere ungeschützter Geschlechtsverkehr), die lange Zeitdauer der einzelnen Missbrauchshandlungen (als die Geschädigte jeweils bei ihm von Samstag auf Sonntag zu Hause gewesen sei), das jeweils planvolle und manipulative Vorgehen des Klägers unter Missbrauch seiner Stellung als Seminarleiter und der Umstand, dass der Kläger der Geschädigten vermittelt habe, dass sie die Taten geheim halten solle, berücksichtigt werden müssen.
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Der Senat hat auch unter Berücksichtigung des Zulassungsvorbringens von der Richtigkeit des landgerichtlichen Urteils vom 17. März 2021 auszugehen.
14
Die Anwendung der auf einer rechtskräftigen strafgerichtlichen Verurteilung beruhenden Ausweisungstatbestände erfordert regelmäßig keine Prüfung, ob der Betroffene tatsächlich eine Straftat begangen hat (st. Rspr. vgl. BVerwG, B.v. 24.2.1998 – 1 B 21.98 – juris Rn. 4 zu § 47 Abs. 1 AuslG 1990; B. v. 8.5.1989 – 1 B 77.89 – InfAuslR 1989, 269 zu § 10 Abs. 1 Nr. 2 AuslG 1965; B.v. 16.9.1986 – 1 B 143/86 – juris Rn. 5 zu § 10 Abs. 1 Nr. 2 AuslG 1965 jeweils m.w.N.; BayVGH, B.v. 5.10.2021 – 10 ZB 21.1725 – juris Rn. 6). Zwar besteht – beispielsweise im Rahmen der Feststellung einer Wiederholungsgefahr – keine strikte Bindung an eine rechtskräftige Verurteilung. Es ist aber geklärt, dass die Ausländerbehörden – und demzufolge auch die zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Ausweisungsverfügung berufenen Gerichte – in dieser Beziehung ohne weiteres in aller Regel von der Richtigkeit der Verurteilung ausgehen können und die darin getroffenen Feststellungen ihrer Entscheidung zugrunde legen dürfen. Allenfalls in Sonderfällen kann anderes gelten, wenn die Ausländerbehörde ausnahmsweise in der Lage ist, den Vorfall besser als die Strafverfolgungsorgane aufzuklären, oder für die Ausländerbehörde ohne weiteres erkennbar ist, dass die Verurteilung auf einem Irrtum beruht (BVerwG, B.v. 24.2.1998 – 1 B 21.98 – juris Rn. 4 zu § 47 Abs. 1 AuslG 1990; B. v. 8.5.1989 – 1 B 77.89 – InfAuslR 1989, 269 zu § 10 Abs. 1 Nr. 2 AuslG 1965; B.v. 16.9.1986 – 1 B 143/86 – juris Rn. 5 zu § 10 Abs. 1 Nr. 2 AuslG 1965; BayVGH, B.v. 5.9.2018 – 10 ZB 18.1121 – juris; B.v. 10.4.2019 – 19 ZB 17.1535 – juris Rn. 17; B.v. 5.10.2021 – 10 ZB 21.1725 – juris Rn. 8; OVG NRW, B.v. 8.12.2015 – 18 A 2462/13 – juris Rn. 11).
15
Ein solcher Sonderfall ist vorliegend allerdings nicht ersichtlich. Ein entsprechender Vortrag ist im erstinstanzlichen Verfahren schon gar nicht erfolgt.
16
Darüber hinaus ergeben sich solche entsprechende (konkrete) Anhaltspunkte auch nicht aus dem Zulassungsvorbringen. Dass die Verurteilung des Klägers auf einem Irrtum des Strafgerichts beruht, ist weder vorgetragen noch ersichtlich. Soweit der Kläger vortragen lässt, der Grundsatz, dass Verwaltungsbehörden und Verwaltungsgericht an rechtskräftige Strafurteile gebunden seien, werde von Art. 19 GG durchbrochen, „wenn die rechtskräftigen Urteile durch derart prozessual fehlerhafte Verfahren zustande gekommen sind, daß eine Wiederaufnahme der Verfahren gerechtfertigt ist“, und „aus dem Urteil wegen des sexuellen Mißbrauchs [wurden vom nunmehr mit der Beantragung der Wiederaufnahme beauftragten Strafverteidiger] so viele handwerkliche Fehler herausgelesen“, ist festzustellen, dass das Zulassungsvorbringen dem Strafgericht keinerlei Verfahrensfehler vorwirft (sondern nur dem früheren Bevollmächtigten des Klägers). Solche vom Gericht begangenen Verfahrensfehler sind auch nicht ersichtlich. Auch eine bessere Aufklärung durch die Ausländerbehörde bzw. das Gericht ist nicht erkennbar.
17
Der Kläger hat die angeklagten Taten im strafgerichtlichen Verfahren umfassend gestanden und die gegen ihn erhobenen Tatvorwürfe vollumfänglich in objektiver und subjektiver Hinsicht eingeräumt. Er hat insoweit über seinen früheren Bevollmächtigten in der Hauptverhandlung vortragen lassen, er entschuldige sich bei der Geschädigten, bereue sein Verhalten und wolle sowohl der Geschädigten als auch der Mutter der Geschädigten eine Aussage vor Gericht ersparen. Das Landgericht hat sich mit der Glaubhaftigkeit des Geständnisses, das im Rahmen der Strafzumessung zugunsten des Klägers berücksichtigt worden ist, umfassend auseinandergesetzt.
18
Ob der Kläger nunmehr die abgeurteilten Taten gänzlich oder nur teilweise abstreitet („so nicht stattgefunden haben können“), lässt sich dem Zulassungsvorbringen nicht abschließend entnehmen. Auch enthält die Zulassungsbegründung keinerlei ausdrückliche Aussage, ob der Kläger sein Geständnis aus dem Strafverfahren bereits widerrufen hat (offen ist auch, ob ein Antrag auf Wiederaufnahme des Strafverfahrens mittlerweile gestellt worden ist).
19
Selbst wenn man von einem bereits erfolgten Geständniswiderruf ausgehen würde, fehlt es in der Zulassungsbegründung an einer nachvollziehbaren Begründung, warum der Kläger die Tat in der Hauptverhandlung der Wahrheit zuwider zugegeben haben will und weshalb er das Geständnis nunmehr widerruft (vgl. BGH, B.v. 7.7. 1976 – 5 (7) (2) StE 15/56 – NJW 1977, 59 m.w.N.; BayVerfGH, B.v. 11.3.2003 – Vf 29-VI-02 – NStZ 2004, 447/449). Soweit der Kläger vortragen lässt, er habe „aus Angst vor einer möglichen (lebenslangen) Sicherungsverwahrung (…) das Geständnis unterschrieben“, vermag dies sein Geständnis nach Auffassung des Senats nicht zu erschüttern. Dass die Angst vor einer Sicherungsverwahrung den Kläger dazu bewegt hat, ein Geständnis abzulegen, ohne aber die Taten begangen zu haben, ist (insbesondere da diesem keine Verfahrensabsprache vorangegangen war <der diesbezügliche Ablauf war dem Kläger aus seinem früheren Steuerstrafverfahren bekannt, da dem diesbezüglichen Urteil eine Verständigung nach § 257c StPO vorausgegangen war>) keineswegs glaubhaft. Dies würde der im Strafverfahren abgegebenen Erklärung auch entgegenstehen. Ausweislich des Protokolls über die Verhandlung des Landgerichts vom 9. Februar 2021 hat außerhalb der Hauptverhandlung zwischen den Verfahrensbeteiligten (ohne dass vorher Gespräche zur Herbeiführung einer Verständigung gemäß § 257c StPO stattgefunden hätten) ein Rechtsgespräch stattgefunden, in dem der damalige Bevollmächtigte für den Kläger erklärte, die Frage einer eventuellen Ausweisung, die Prüfung der Sicherungsverwahrung sowie die Öffentlichkeit seien ein großes Thema. Zudem wies der damalige Bevollmächtigte des Klägers darauf hin, dass die Zeugenaussagen bei der Polizei teilweise in Anwesenheit anderer Zeugen stattgefunden hätten sowie keine Arztberichte und keine direkten Zeugen vorhanden seien. Darauf hat die Vorsitzende der Jugendkammer insbesondere erwidert, dass dies zwar gegebenenfalls den Beweiswert dieser Zeugen schmälern könnte, nach Aktenlage aber dennoch ein hinreichender Tatverdacht bestehe, dass zur Frage der Ausweisung naturgemäß nichts gesagt werden könne, dass die Frage der Sicherungsverwahrung einer Verständigung nicht zugänglich sei und dass sich die Kammer unter Einbeziehung der Strafen aus der Vorverurteilung bei einem glaubhaften Geständnis des Klägers und einer relevanten Zahlung an die potentiell Geschädigte eine Gesamtfreiheitsstrafe um die sechs Jahre vorstellen könne. Daraufhin gab der damalige Bevollmächtigte im nächsten Hauptverhandlungstermin am 1. März 2021 (ohne dass vorher Gespräche zur Herbeiführung einer Verständigung gemäß § 257c StPO stattgefunden hätten) eine vom Kläger autorisierte Verteidigererklärung mit dem Inhalt ab, dass der dem Kläger zur Last gelegte Sachverhalt in objektiver und subjektiver Hinsicht eingeräumt werde. Daher war allen Beteiligten bereits zum Zeitpunkt des Rechtsgesprächs klar, dass die Frage der Sicherungsverwahrung unabhängig von einem Geständnis zu bewerten ist (das Landgericht ist letztlich davon ausgegangen, dass die Voraussetzungen für eine Sicherungsverwahrung gemäß § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StGB beim Kläger nicht vorlägen, da nicht mit der notwendigen Sicherheit davon ausgegangen werden könne, dass beim Kläger ein Hang vorliege; ebenso hätte der Ausspruch des Vorbehalts der Unterbringung in einer Sicherungsverwahrung zu unterbleiben). Anhaltspunkte dafür, dass der frühere Anwalt dem Kläger gesagt habe, er müsse das Geständnis unterschreiben, da ihm sonst die Sicherungsverwahrung drohen würde, sind weder substantiiert dargelegt noch ersichtlich.
20
Auch die übrigen Ausführungen in der Zulassungsbegründung zum vermeintlichen Fehlverhalten des früheren Bevollmächtigten im Strafverfahren vermögen das Geständnis nicht zu erschüttern.
21
Wie bereits geschildert, wurde vom früheren Bevollmächtigten des Klägers im Rechtsgespräch mit den Verfahrensbeteiligten angesprochen, dass die Zeugenaussagen bei der Polizei teilweise in Anwesenheit anderer Zeugen stattgefunden hätten sowie keine Arztberichte und keine direkten Zeugen vorhanden seien. Soweit das Zulassungsvorbringen anführt, der frühere Anwalt habe gar nicht mit dem mutmaßlichen Opfer gesprochen, der Großteil der Schilderung des sexuellen Missbrauchs beruhe auf den Angaben der Mutter des Mädchens und es lägen keine ärztlichen oder anderen Nachweise vor, dass es den Missbrauch tatsächlich gegeben habe, sodass zumindest die Mutter als Zeugin vom ehemalige Anwalt hätte befragt werden müssen, nachdem es keine Beweise für den Missbrauch gegeben habe, geht es schon deshalb ins Leere, weil das Geständnis in Kenntnis dieser Punkte abgegeben worden ist.
22
Das Zulassungsvorbringen im Hinblick auf die (angeblich) unterschiedlichen Sexualpraktiken („die vielen Zeuginnen, die angeblich Sex mit dem Angeklagten haben, haben immer vom Vaginalverkehr gesprochen; bei dem Mädchen soll Analverkehr ausgeübt worden sein, also eine Änderung des modus operandi.“) greift schon deshalb nicht durch, weil nur eine frühere Sexualpartnerin des Klägers gegenüber der Polizei ausschließlich von Vaginalverkehr gesprochen hat, dem Urteil bzgl. der anderen Partnerinnen diesbezüglich aber keine konkreten Ausführungen zu entnehmen sind. Selbst wenn der Kläger mit weiteren früheren Partnerinnen lediglich Vaginalverkehr gehabt haben sollte, spricht dies aber nicht zwingend dagegen, dass der Kläger mit der Geschädigten Analverkehr ausgeübt hat.
23
Auch die vom Kläger angeführten Krankheiten („Daß diese Erkrankungen/Phänomene bei den Beschreibungen des Sexualverkehrs mit dem Kläger nicht erwähnt worden sind, sind der Beweis dafür, daß sie so nicht stattgefunden haben können.“) vermögen keine Zweifel an der vom Strafgericht angenommenen Glaubhaftigkeit des Geständnisses zu begründen. Diese sind bereits nicht durch fachärztliche Atteste nachgewiesen. Die Ausführungen im Zulassungsverfahren zum Gesundheitszustand des Klägers beruhen „nur“ auf der „Ärztliche[n] Bescheinigung“ vom 26. September 2022 seines langjährigen Hausarztes, dem Facharzt für Allgemeinmedizin Dr. med. U.W.. Dieser benennt zwar auch fachärztliche Befunde. Eine Vorlage dieser Atteste ist im Rahmen des Zulassungsvorbringens aber nicht erfolgt. Zudem lässt sich den Ausführungen in der Bescheinigung nicht entnehmen, welche Krankheit in welcher Intensität während des Tatzeitraums bestanden hat. Bzgl. der Erkrankung der Nieren, Harnwege und Prostata, die im Zulassungsvorbringen für eine bestehende Inkontinenz und Impotenz (bzgl. letzterer sind dem ärztlichen Attest keine Ausführungen zu entnehmen) angeführt wird, deuten die Ausführungen in der ärztlichen Bescheinigung, durch die starke Prostatavergrößerung werde die durch die Prostata verlaufende Harnröhre eingeengt und es komme beim Kläger zusätzlich zu der geschilderten Nierensteinproblematik „nun auch“ seitens der vergrößerten Prostata zu sehr unangenehmen Problemen beim Wasserlassen, auf eine aktuelle Verschlimmerung der Problematik hin. Es ist aufgrund dieser Ausführungen unter keinen Umständen ausschließbar, dass sich die gesundheitlichen Probleme des Klägers, die das Zulassungsvorbringen nun gegen die Annahme einer weiterhin bestehenden Wiederholungsgefahr anführt, erst nach dem Tatzeitraum verstärkt haben (die Ausführungen zu den <akuten> Behandlungsfällen während des Haftaufenthalts lassen dies vermuten). Gleiches gilt auch für die übrigen Erkrankungen (die Diagnose zur Herzkrankheit wurde ausweislich der ärztlichen Bescheinigung vom 26.9.2022 erst im Jahr 2018 gestellt; aufgrund der Rückenschmerzen ist der Kläger erst ab Ende Juni 2018 in Behandlung; Beschwerden bei der Nasenatmung ist der Kläger erst Ende Juli 2018 nachgegangen).
24
1.1.2 Die Entwicklung des Klägers in der Folgezeit nach der Anlassverurteilung lässt nicht darauf schließen, dass die durch diese Delinquenz indizierte Gefährlichkeit des Klägers abgenommen hat oder gar beseitigt ist.
25
Das Verwaltungsgericht hat eine Wiederholungsgefahr unter spezialpräventiven Gesichtspunkten jedenfalls bezogen auf Sexualdelikte bejaht und sich insoweit ausführlich mit dem im Rahmen des strafgerichtlichen Verfahrens (aufgrund der Aktenlage, der Aussagen der Polizisten und dem Verhalten des Klägers während der Hauptverhandlung) erstellten Gutachten auseinandergesetzt. Diese Ausführungen sind nicht zu beanstanden. Der Senat schließt sich diesen an.
26
Auch das Zulassungsvorbringen zieht die aus dem Gutachten vom Verwaltungsgericht gezogenen Schlüsse zur Wiederholungsgefahr nicht in Zweifel. Es geht selbst davon aus, dass sowohl die Ausländerbehörde als auch das Verwaltungsgericht wegen der Höhe der Haftstrafen keine andere Wahl hätten, als den Aufenthalt des Klägers zu beenden bzw. seine Ausweisung zu bestätigen, und dass aus der Begutachtung im strafgerichtlichen Verfahren (aufgrund der Aktenlage, der Aussagen der Polizisten und dem Verhalten des Klägers während der Hauptverhandlung) der Kläger derart gefährlich erscheint, „daß man von einer Wiederholungsgefahr ausgehen muß“.
27
Soweit das Zulassungsvorbringen anführt, es sei ein „extremer anwaltlicher Fehler [gewesen], dem Gutachten nicht zu widersprechen bzw. eine Untersuchung des Klägers nicht zu erlauben oder ein Gegengutachten vorzulegen“ (dass der frühere Bevollmächtigte eine Begutachtung unterbunden hat, ist weder substantiiert vorgetragen noch ersichtlich) und diese Beurteilung widerspreche den Berichten der Justizvollzugsanstalt, wird das Gutachten nicht in substantiierter Weise erschüttert.
28
Das (mangels entgegenstehender Anhaltspunkte wohl) beanstandungsfreie Verhalten des Klägers während des Strafvollzugs ist zwar prognostisch heranzuziehen, aber für die Frage eines späteren straffreien Lebens in Freiheit nur bedingt aussagekräftig, da es im geschützten und kontrollierten Rahmen des Strafvollzugs, der die Möglichkeiten zur Begehung von Straftaten wesentlich verringert, und unter dem Druck der gegenständlichen Ausweisung stattgefunden hat. Der weiterhin inhaftierte Kläger hat sich noch nicht außerhalb der Justizvollzugsanstalt über einen längeren Zeitraum bewährt und durch gesetzeskonformes Verhalten gezeigt, dass er auch ohne den Druck des Strafvollzugs in der Lage ist, nicht straffällig zu werden (BayVGH, B.v. 24.2.2016 – 10 ZB 15.2080 – juris Rn. 10).
29
Dass Sexualstraftaten in Zukunft aufgrund des körperlichen Gesundheitszustands des Klägers ausgeschlossen wären, ist mangels Vorlage von aktuellen fachärztlichen Stellungnahmen nicht substantiiert dargelegt. Darüber hinaus ist (wenn der Kläger nunmehr eine Inkontinenz und Impotenz geltend macht) zu berücksichtigen, dass der sexuelle Missbrauch durch den Kläger nicht allein durch Geschlechtsverkehr erfolgt ist (für jede der tatmehrheitlich begangenen Taten hat das Strafgericht eine Einzelstrafe von 2 Jahren 4 Monaten für tat- und schuldangemessen gehalten).
30
1.2 Unabhängig vom Vorliegen einer Wiederholungsgefahr hat das Verwaltungsgericht die Ausweisung auch als aus generalpräventiven Gründen für gerechtfertigt angesehen. Die (insoweit nicht zu beanstandenden) selbstständig die Entscheidung tragenden verwaltungsgerichtlichen Ausführungen zur generalpräventiven Ausweisung (weshalb der Aufenthalt des Klägers die öffentliche Sicherheit und Ordnung der Bundesrepublik Deutschland gefährdet) greift das Zulassungsvorbringen nicht an.
31
1.3 Mit seinem Zulassungsvorbringen hat der Kläger die Gesamtabwägung des Verwaltungsgerichts gemäß § 53 Abs. 1 und 2 AufenthG nicht ernstlich im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO in Zweifel gezogen.
32
Das Zulassungsvorbringen macht eine derzeitige Transportunfähigkeit des Klägers aufgrund seiner Erkrankungen geltend. Eine (nicht ausdrücklich geltend gemachte) Unrichtigkeit der Gesamtabwägung des Verwaltungsgerichts gemäß § 53 Abs. 1 und 2 AufenthG ergibt sich daraus nicht.
33
Zwar ist die Aufzählung der in § 53 Abs. 2 AufenthG genannten Kriterien nicht abschließend und es können auch Gründe nach § 60a AufenthG, die einer Abschiebung des Ausländers entgegenstehen, Berücksichtigung finden (BT-Drs. 18/4097, S. 50). Nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist die Abschiebung eines Ausländers so lange auszusetzen, wie sie aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist. Eine rechtliche Unmöglichkeit der Abschiebung ist u.a. dann gegeben, wenn die konkrete Gefahr besteht, dass sich der Gesundheitszustand des Ausländers durch die Abschiebung wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtert, und wenn diese Gefahr nicht durch bestimmte Vorkehrungen ausgeschlossen oder gemindert werden kann. Diese Voraussetzungen können nicht nur erfüllt sein, wenn und solange der Ausländer ohne Gefährdung seiner Gesundheit nicht transportfähig ist (Reiseunfähigkeit im engeren Sinn), sondern auch, wenn die Abschiebung als solche – außerhalb des Transportvorgangs – eine erhebliche konkrete Gesundheitsgefahr für den Ausländer bewirkt (Reiseunfähigkeit im weiteren Sinn; vgl. BVerfG, B.v. 17.9.2014 – 2 BvR 732/14 – juris Rn. 13). In Betracht kommen damit nur inlandsbezogene Abschiebungsverbote. Das dabei in den Blick zu nehmende Geschehen beginnt regelmäßig bereits mit der Mitteilung einer beabsichtigten Abschiebung gegenüber dem Ausländer. Besondere Bedeutung kommt sodann denjenigen Verfahrensabschnitten zu, in denen der Ausländer dem tatsächlichen Zugriff und damit auch der Obhut staatlicher deutscher Stellen unterliegt. Hierzu gehören das Aufsuchen und Abholen in der Wohnung, das Verbringen zum Abschiebeort sowie eine etwaige Abschiebungshaft ebenso wie der Zeitraum nach Ankunft am Zielort bis zur Übergabe des Ausländers an die Behörden des Zielstaats. In dem genannten Zeitraum haben die zuständigen deutschen Behörden von Amts wegen in jedem Stadium der Abschiebung etwaige Gesundheitsgefahren zu beachten. Diese Gefahren müssen sie entweder durch ein (vorübergehendes) Absehen von der Abschiebung mittels einer Duldung oder aber durch eine entsprechende tatsächliche Gestaltung des Vollstreckungsverfahrens mittels der notwendigen Vorkehrungen abwehren (BVerfG, B.v. 17.9.2014 – 2 BvR 939/14 – juris Rn. 13).
34
Vorliegend ist aber eine Reiseunfähigkeit des Klägers nicht substantiiert glaubhaft gemacht. Unabhängig davon, dass das Zulassungsvorbringen nur von einer „derzeitig[en]“ und folglich nicht dauerhaften Transportunfähigkeit ausgeht, liegt eine fachärztliche Bescheinigung (bezogen auf die jeweiligen Erkrankungen), dass beim Kläger eine Reiseunfähigkeit besteht, nicht vor. Selbst wenn man auf die ärztliche Bescheinigung vom 26. September 2022 des Hausarztes des Klägers abstellen würde, wird darin „lediglich“ eine „eingeschränkt[e]“ Transport- und Flugtauglichkeitsfähigkeit angenommen. Nach Ansicht des Hausarztes sei bei einem Transport, egal mit welchem Verkehrsmittel, eine Begleitung durch einen Arzt alleine nicht ausreichend. Vielmehr müsse es auf dem Transportweg zumindest die Möglichkeit einer intensivmedizinischen Intervention mit einem geschulten Notfallteam geben, um bei Auftreten von unvorhersehbaren Komplikationen sofort Einschreiten zu können und ärztliche Hilfe zu leisten, um das Leben des Patienten nicht zu gefährden. Die bekannte chronische Erkrankung der Nasennebenhöhlen könne durch den im Flugzeug vorherrschenden Druck zu unerträglichen Kopfschmerzen bzw. auch zu Schäden am Trommelfell führen, weshalb die Flugtauglichkeit des Klägers in dieser Hinsicht grundsätzlich einschränkt sei. Im Abschiebeland müsse gewährleistet sein, dem Kläger vom Transport weg lückenlos und sofort in kompetente ärztliche Betreuung zukommen zu lassen. Selbst unter Berücksichtigung dieser Ausführungen des Hausarztes des Klägers ist es keinesfalls ausgeschlossen, dass entsprechende Vorkehrungen für die Abschiebung getroffen werden könnten, um eine (möglicherweise bestehende) Gefahr der wesentlichen Verschlechterung des Gesundheitszustands des Klägers jedenfalls zu mindern.
35
Soweit der Hausarzt auch die Sicherstellung einer dauerhaften ärztlichen Betreuung des Klägers im Herkunftsland anmahnt (und behauptet, dass nach seinem Kenntnisstand eine erforderliche kontinuierliche hausärztliche und fachärztliche Betreuung mit regelmäßigen Untersuchungen und Kontrollen der Medikamentendosierung im Gesundheitssystem der USA nicht selbstverständlich und nur eingeschränkt möglich sei), gilt insoweit ebenfalls, dass entsprechende fachärztliche Bescheinigungen über die tatsächlich erforderliche Behandlung des Klägers nicht vorgelegt worden sind. Darüber hinaus ist jedoch anzumerken, dass der Kläger über ein erhebliches Vermögen verfügt (ausweislich des strafgerichtlichen Urteils vom 17. März 2021 hatte der Kläger in den Jahren 2013 bis 2017 Einkünfte aus Gewerbebetrieb von über 2,4 Mio. Euro).
36
2. Der Zulassungsgrund der besonderen tatsächlichen und rechtlichen Schwierigkeiten gem. § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO liegt nicht vor.
37
Besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten im Sinne dieser Vorschrift weist eine Rechtssache dann auf, wenn die Beantwortung der für die Entscheidung erheblichen Fragen in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht voraussichtlich das durchschnittliche Maß nicht unerheblich überschreitende Schwierigkeiten bereitet, wenn sie sich also wegen der Komplexität und abstrakten Fehleranfälligkeit aus der Mehrzahl der verwaltungsgerichtlichen Verfahren heraushebt (BayVGH, B.v. 10.4.2017 – 15 ZB 16.673 – juris Rn. 42 m.w.N.).
38
Besondere tatsächliche Schwierigkeiten einer Rechtssache entstehen durch einen besonders unübersichtlichen und/oder einen schwierig zu ermittelnden Sachverhalt. Ob besondere tatsächliche Schwierigkeiten bestehen, ist unter Würdigung der aufklärenden Tätigkeit des Verwaltungsgerichts zu beurteilen (Happ in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 124 Rn. 33). Eine Rechtssache weist besondere rechtliche Schwierigkeiten auf, wenn eine kursorische, aber sorgfältige, die Sache überblickende Prüfung der Erfolgsaussichten einer Berufung keine hinreichend sichere Prognose über den Ausgang des Rechtsstreits erlaubt. Die Offenheit des Ergebnisses charakterisiert die besondere rechtliche Schwierigkeit und rechtfertigt – insbesondere zur Fortentwicklung des Rechts – die Durchführung des Berufungsverfahrens (Happ in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 124 Rn. 16, 25, 27). Dabei ist der unmittelbare sachliche Zusammenhang des § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO mit Abs. 2 Nr. 1 VwGO in den Blick zu nehmen (Happ in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 124 Rn. 25). Schwierigkeiten solcher Art liegen vor, wenn der Ausgang des Rechtsstreits aufgrund des Zulassungsvorbringens bei summarischer Prüfung als offen erscheint und sich die aufgeworfenen Rechts- und Tatsachenfragen nicht schon ohne Weiteres im Zulassungsverfahren, sondern erst in einem Berufungsverfahren mit der erforderlichen Sicherheit klären und entscheiden lassen.
39
Für die Darlegung der besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten genügt dabei die allgemeine Behauptung eines überdurchschnittlichen Schwierigkeitsgrads nicht. Vielmehr ist erforderlich, dass sich die Kläger mit dem verwaltungsgerichtlichen Urteil substanziell auseinandersetzen und im Einzelnen darlegen, hinsichtlich welcher aufgrund der erstinstanzlichen Entscheidung auftretenden Fragen sich besondere rechtliche oder tatsächliche Schwierigkeiten ergeben sollen (BayVGH, B.v. 2.5.2011 – 8 ZB 10.2312 – juris Rn. 21 m.w.N.).
40
Zur Begründung des Zulassungsgrundes lässt der Kläger vortragen, die Rechtssache „hat dementsprechend rechtliche und tatsächliche Schwierigkeiten, weil aus Gründen des effektiven Rechtsschutzes die Berufung gegen strafrechtliche Urteile, die heute zwar bindend sind, aber dennoch falsch Zustande gekommen sind, zuzulassen ist, obwohl oder gerade weil die verwaltungsgerichtlichen Urteile auf gerade einem solchen Urteil beruhen“.
41
Dieses Vorbringen führt nicht zur Zulassung der Berufung durch. Die erforderliche Prüfung der Erfolgsaussichten einer Berufung führt hier zur Prognose, dass diese zurückzuweisen wäre. Da die vom Kläger vorgebrachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils nicht bestehen (vgl. die Ausführungen zu Nr. 1), ist die Rechtssache im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO nicht besonders schwierig.
42
3. Die Rechtssache hat nicht die grundsätzliche Bedeutung (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO), die der Kläger ihr zumisst.
43
Um den auf die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache gestützten Zulassungsantrag zu begründen, muss der Rechtsmittelführer eine konkrete Rechts- oder Tatsachenfrage formulieren, ausführen, weshalb diese Frage entscheidungserheblich ist, erläutern, weshalb die vorformulierte Frage klärungsbedürftig ist, und darlegen, warum der Frage eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukommt (stRspr vgl. z.B. BayVGH, B.v. 17.12.2015 – 10 ZB 15.1394 – juris Rn. 16 m.w.N.).
44
Die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache setzt voraus, dass für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts eine konkrete, jedoch fallübergreifende Rechts- oder Tatsachenfrage von Bedeutung ist, deren noch ausstehende obergerichtliche Klärung im Berufungsverfahren zu erwarten ist und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zu einer bedeutsamen Weiterentwicklung des Rechts geboten erscheint. Dementsprechend verlangt die Darlegung (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO) der rechtsgrundsätzlichen Bedeutung, dass eine konkrete Rechts- oder Tatsachenfrage formuliert und aufgezeigt wird, weshalb die Frage im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Fortentwicklung des Rechts klärungsbedürftig und entscheidungserheblich (klärungsfähig) ist; ferner muss dargelegt werden, worin die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung dieser Frage besteht (stRspr., vgl. BayVGH, B.v. 12.4.2019 – 10 ZB 19.275 – juris Rn. 7; B.v. 8.9.2019 – 10 ZB 18.1768 – Rn. 11; B.v. 14.2.2019 – 10 ZB 18.1967 – juris Rn. 10; BayVGH, B.v. 17.12.2015 – 10 ZB 15.1394 – juris Rn. 16 m.w.N.; Happ in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 124a Rn. 72). Klärungsbedürftig sind solche Rechts- oder Tatsachenfragen, deren Beantwortung zweifelhaft ist oder zu denen unterschiedliche Auffassungen vertreten werden und die noch nicht oder nicht hinreichend ober- und höchstrichterlich geklärt sind (vgl. BVerfG, B.v. 28.4.2011 – 1 BvR 3007/07 – juris Rn. 21; Roth in Posser/Wolff, BeckOK, VwGO, Stand 1.1.2019, § 124 Rn. 55 m.w.N.; Happ in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 124 Rn. 38). Ein derartiger Klärungsbedarf besteht nicht, wenn die Rechtsfrage bereits geklärt ist oder auf der Grundlage der bestehenden Rechtsprechung mit Hilfe der anerkannten Auslegungsregeln auch ohne Durchführung eines Berufungsverfahrens beantwortet werden kann (stRspr., BVerwG, B.v. 9.4.2014 – 2 B 107.13 – juris Rn. 9 m.w.N.; BVerfG, B.v. 29.7.2010 – 1 BvR 1634/04 – juris Rn. 64).
45
Der Kläger wirft die Frage auf, „ob ausnahmsweise die mangelhafte Vertretung in einem Prozeß, der zu verwaltungsrechtlich relevanten Urteilen führt, den Grundsatz durchbricht, daß der Mandant für seinen Anwalt bzw. die schlechte Vertretung haftet, da ansonsten die Rechte des Mandanten völlig ausgehebelt werden“.
46
Zur Begründung des Zulassungsgrundes der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache lässt der Kläger vortragen, aufgrund der dargelegten Mängel in der Verteidigung und die massiv überhöhten Rechnungen (der ehemalige Bevollmächtigte habe für das Strafverfahren 90.000 EUR und für das ausländerrechtliche Verfahren 95.000 EUR verlangt) liege der Verdacht einer mangelhaften Vertretung nahe. Diese seien ausnahmsweise derart offensichtlich, weil sie sich direkt aus dem Urteil herauslesen ließen, ohne bei der Verhandlung gewesen zu sein oder die Akten zu kennen. Das Strafurteil wegen sexuellen Missbrauchs benenne die Mängel im Endeffekt selbst, genauso die Schlussfolgerungen und Konsequenz. Durch die Strafurteile bestehe bei dem Kläger die Gefahr, nach Amerika ausreisen zu müssen. Eine Schadensersatzklage gegen seinen Anwalt wegen mangelhafter Vertretung helfe dem Kläger nicht, seine Rechte zu wahren. Die Rechte des Klägers könnten daher nur gewahrt werden, wenn er aufgrund seiner Kenntnis der mangelhaften Vertretung die Wiederaufnahme beantrage. Dazu sei allerdings die Erhaltung seines Status Quo und damit die Zulassung der Berufung erforderlich.
47
Die vom Kläger aufgeworfene Frage rechtfertigt die Zulassung der Berufung nicht. Sie ist nicht klärungsbedürftig, da bereits höchstrichterlich geklärt ist, wann Feststellungen eines Strafgerichts im Rahmen eines ausländerrechtlichen Ausweisungsverfahrens nicht zugrunde gelegt werden können (vgl. insoweit die Ausführungen zu Nr. 1.1.1; ein solcher Sonderfall liegt vorliegend nicht vor).
48
4. Die Zulassungsbegründung des früheren Bevollmächtigten mit am 12. Dezember 2022 bei Gericht eingegangenem Schriftsatz vom selben Tag ist – was von der nunmehrigen Bevollmächtigten (deren Vertretungsanzeige erfolgte gegenüber dem Senat mit Schriftsatz vom 9.11.2022) auch nicht bezweifelt wird – nicht berücksichtigungsfähig. Die nunmehrige Bevollmächtigte hat mit am 10. Dezember 2022 dem Gericht übermittelten Schriftsatz vom selben Tag mitgeteilt, dass sie der Kläger beauftragt habe, das Mandatsverhältnis mit dem früheren Bevollmächtigten mit sofortiger Wirkung zu kündigen, und das Mandat somit beendet sei. Der frühere Prozessbevollmächtigte war daher zum Zeitpunkt des Eingangs seines Begründungsschriftsatzes am 12. Dezember 2022 nicht mehr bestellt und konnte somit den Kläger nicht mehr wirksam vertreten.
49
5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf § 63 Abs. 3 Satz 1, § 47, § 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Ziff. 8.1 und 8.2 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013.
50
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).