Titel:
rechtmäßige Ausweisung nach Kasachstan
Normenkette:
AufenthG § 53 Abs. 1, § 54 Abs. 1 Nr. 1, § 55 Abs. 1 Nr. 2, Nr. 4
Leitsätze:
1. Kann von einem Wegfall der für die Ausweisung erforderlichen Wiederholungsgefahr nicht ausgegangen werden, kann der Ausländer nicht beanspruchen, dass er sich so lange weiterhin im Bundesgebiet aufhalten darf und seine begonnene Therapie fortsetzen bzw. – noch weitergehend – nach Abbruch einer Therapie eine neue Behandlung antreten darf, bis seine Erkrankung (insbesondere Suchterkrankung) geheilt ist und keine Wiederholungsgefahr mehr besteht. (Rn. 38) (redaktioneller Leitsatz)
2. Eine dauerhafte Einstellungs- und Verhaltensänderung kann erst dann angenommen werden, wenn der Suchterkrankte eine Drogentherapie erfolgreich abgeschlossen hat und sich auch ohne die geschützte Umgebung einer Entziehungsanstalt bewährt hat. (Rn. 39) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Anfechtungsklage gegen eine für sofort vollziehbar erklärte Ausweisung eines Kasachen, besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse, Spezialprävention: Fortbestehende Wiederholungsgefahr nach Abbruch der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt und Rückverlegung in den Regelvollzug, Generalprävention: Verhaltenssteuerung bei potentiellen Körperverletzungsstraftätern aus dem Drogenmilieu mittels Ausweisung des Klägers, besonderes Vollzugsinteresse für Anordnung des Sofortvollzugs, Kasachstan, Ausweisung aus spezialpräventiven Gründen, Ausweisung aus generalpräventiven Gründen, Drogensucht, Suchterkrankung, Maßregelvollzug, Rückfallgefährdung, Wiederholungsgefahr
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 12.06.2023 – 19 CS 23.708
Fundstelle:
BeckRS 2023, 15623
Tenor
1. Der Antrag wird abgelehnt.
2. Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Der Streitwert wird auf 2.500,00 EUR festgesetzt.
Gründe
1
Der Antragsteller begehrt die Wiederherstellung bzw. Anordnung der aufschiebenden Wirkung einer Klage gegen eine für sofort vollziehbar erklärte Ausweisung, gegen die Anordnung eines auf fünf Jahre befristeten Einreise- und Aufenthaltsverbots, sowie gegen die Androhung der Abschiebung nach Kasachstan bzw. gegen die Anordnung der Abschiebung aus der Haft heraus.
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Der Antragsteller, geb. am … in … (Region …, Republik Kasachstan), verfügt über einen bis 10.01.2026 gültigen Reisepass seines Herkunftslandes. Er besuchte zunächst bis zur 5. Klasse die Schule in Kasachstan. Im Alter von 11 Jahren reiste er am 29.11.2003 zusammen mit seiner am … geborenen, seit 1992 geschiedenen Mutter ins Bundesgebiet ein, die einen Reisepass mit sich führte, in den ein auch für ihn gültiges Visum eingestempelt war. Seine Mutter heiratete in … seinen Stiefvater, der bereits 2009 bei einem Unfall ums Leben kam. Wie seine Mutter, die nach seinen Angaben inzwischen durch Einbürgerung Deutsche ist, lebte er seitdem (mit Ausnahme der Zeit seiner Inhaftierung) in … Der Antragsteller, der deutsch und russisch spricht, verließ die Hauptschule nach der 10. Klasse ohne qualifizierten Abschluss. Eine Ausbildung hat er nicht absolviert, sondern war bei verschiedenen Firmen bis April 2016 mit Unterbrechungen als Lagerarbeiter beschäftigt, bevor er dann seit April 2016 bis Ende 2020 dauerhaft ALG II-Leistungen bezog.
3
Am 20.04.2016 stürzte er sich im Drogenrausch vom Balkon im dritten Stock eines Wohnhauses. Dabei trug er laut einem Anfang 2017 vorgelegten Attest seines Hausarztes, eines Facharztes für Allgemeinmedizin, eine Berstungsfraktur der Lendenwirbelsäule, eine vollständige Lähmung des linken Beines, eine Arthrofibrose des linken Handgelenks und wiederkehrende Knochenentzündungen davon, die chronische Schmerzen verursachen, gegen die er dauerhaft Medikamente einnimmt. Nach eigenen Angaben musste er ein Jahr im Krankenhaus behandelt werden, war zwei Jahre auf einen Rollstuhl angewiesen und ist als schwerbehindert mit einem Grad der Behinderung von 80 anerkannt. Im Jahr 2017 erhielt der Antragsteller einen Betreuer mit den Aufgabenkreisen Gesundheitsfürsorge, Vermögenssorge und Vertretung u. a. gegenüber Behörden. Ein Einwilligungsvorbehalt für das Erheben von Klagen besteht nicht.
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Nachdem er zunächst eine Aufenthaltsgenehmigung gemäß § 20 Abs. 2 AuslG 1990 besessen hatte, erhielt er eine Aufenthaltserlaubnis nach § 32 Abs. 3 AufenthG, die anschließend bis 21.03.2011 verlängert wurde. Über seinen am 17.03.2011 gestellten Verlängerungsantrag wurde sechs Jahre nicht entschieden. In der Zwischenzeit erhielt er fortlaufend Fiktionsbescheinigungen gemäß § 81 Abs. 4 und 5 AufenthG. Am 19.04.2017 erteilte ihm die Antragsgegnerin eine Aufenthaltserlaubnis nach § 34 Abs. 2 AufenthG für ein Jahr, die am 12.06.2018 bis 11.06.2019 und anschließend, bisher letztmalig, am 09.12.2019 bis 17.07.2021 verlängert wurde. Über seinen erneuten Verlängerungsantrag wurde bisher nicht entschieden. Über die Fortgeltung seiner Aufenthaltserlaubnis gemäß § 34 Abs. 2 AufenthG stellte die Antragsgegnerin ihm Bescheinigungen nach § 81 Abs. 4 und 5 AufenthG aus, zuletzt am 12.01.2022 bis 11.07.2022.
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Strafrechtlich ist der Antragsteller wiederholt in Erscheinung getreten. Im Bundeszentralregister sind aktuell folgende rechtskräftige Verurteilungen eingetragen:
1. Urteil des Amtsgerichts … vom 14.05.2013 – Az. … – 30 Tagessätze zu je 10,00 EUR Geldstrafe wegen unerlaubten Aufenthalts ohne Pass.
2. Urteil des Landgerichts … vom 12.09.2013 – Az. … - 2 Jahre Jugendstrafe wegen vorsätzlicher Körperverletzung. Strafvollstreckung erledigt am 31.08.2015.
3. Urteil des Amtsgerichts … vom 21.02.2017 – Az. … - 60 Tagessätze zu je 15,00 Geldstrafe wegen Diebstahls in zwei tatmehrheitlichen Fällen.
4. Urteil des Amtsgerichts … vom 19.10.2018 – Az. … - 15 Tagessätze zu je 40,00 EUR Geldstrafe wegen Diebstahls.
5. Urteil des Amtsgerichts … vom 02.07.2019 – Az. … – 4 Monate Freiheitsstrafe wegen Diebstahls auf Bewährung – Bewährung widerrufen.
6. Urteil des Amtsgerichts … vom 01.07.2020 – Az. … - 2 Jahre und 4 Monate Freiheitsstrafe wegen Diebstahls in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung in Tatmehrheit mit gefährlicher Körperverletzung in Tatmehrheit mit vorsätzlichem unerlaubten Führen einer Schusswaffe. Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt.
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Dem letztgenannten Urteil lag zugrunde, dass der Antragsteller am 25.12.2019 seiner Verlobten, der deutschen Staatsangehörigen A.W., die bei ihm in der Wohnung schlief, aus der Geldbörse einen 100-EUR-Geldschein entwendete, um ihn für sich zu behalten. Als die Frau erwachte, gerieten die beiden in Streit. In dessen Verlauf verursachte er ihr Schmerzen, indem er sie mehrmals durch Stöße in den Rücken schubste, ihr mehrmals in den linken Oberschenkel biss und sie an den Haaren in Richtung Wohnungstür zog. Am 31.12.2019 warf der Antragsteller Frau W. zuerst eine Kosmetiktasche und dann eine Handtasche, in der sich eine volle Whiskeyfasche befand, an den Kopf, packte sie an den Haaren und schlug ihren Kopf gegen die Bettkante. Sodann legte er seine rechte Hand um ihren Hals und drückte fest zu, wobei er wusste oder zumindest billigend in Kauf nahm, dass er damit ihr Leben gefährden konnte. Am 01.01.2020 führte er in … außerhalb der eigenen Wohnung ohne die erforderliche Erlaubnis eine ungeladene Druckluftwaffe mit sich. Weiter ging das Schöffengericht, sachverständig beraten, davon aus, dass der Antragsteller aufgrund von erheblichem Alkoholgenuss am 31.12.2019 und der Einnahme von Opiaten und Cannabinoiden an Silvester und Neujahr erheblich in seiner Steuerungsfähigkeit eingeschränkt war. Zugunsten des Antragstellers wertete das Gericht bei der Strafzumessung, dass er ein Geständnis ablegte und die Taten in massiver Drogenabhängigkeit beging. Zu seinen Lasten berücksichtigte das Strafgericht seine einschlägigen Vorstrafen, die hohe Rückfallgeschwindigkeit, die offene Bewährung und die erheblichen psychischen Folgen beim Opfer. Die Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gemäß § 64 StGB begründete das Gericht mit der multiplen Abhängigkeit des Antragstellers von Betäubungsmitteln, so dass mit weiteren Straftaten von mindestens dieser Schwere zu rechnen sei, falls er weiterhin unkontrolliert diese Betäubungsmittel zu sich nehme. Die Therapie habe nach derzeitigem Sachstand ausreichend Aussicht auf Erfolg. Zwar müsse der Antragsteller, der sich mittlerweile therapiewillig zeige, Opiate als Schmerzmittel zu sich nehmen. Die Therapie könne aber zumindest dazu führen, dass er die Medikamente kontrolliert zu sich nehme.
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Der Antragsteller, der seit 04.01.2020 in Untersuchungshaft gewesen war, wurde nach Rechtskraft der Verurteilung ab 09.07.2020 in einer Suchttherapiestation des Bezirkskrankenhauses …, Klinik für Forensische Psychiatrie, untergebracht.
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In einem Schreiben vom 26.02.2022 an die Staatsanwaltschaft … empfahl die Klinik, die Maßregel zu beenden, weil keine hinreichenden Erfolgsaussichten auch bei einer Fortsetzung der Unterbringung und daher keine günstige Legal- und Suchtprognose gestellt werden könne. Der Chefarzt der Klinik und die Leitende Psychologin hielten zunächst als Diagnose Polytoxikomanie (ICD-10 F 19.2) und eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren (ICD-10 F 45.41) fest. Zur Biographie des Antragstellers führten sie aus, vor der Haft habe er mit der Freundin zusammen in … gewohnt. Soziale Kontakte habe er vorwiegend im Drogenmilieu unterhalten. Bis zu seinem Unfall am 02.04.2016 habe er zuletzt zweimal pro Monat Crystal genommen und jeden Tag Cannabis; seit dem Unfall bis zur Haft jeden dritten Tag 0,5 g Heroin sowie täglich Cannabis und das Medikament Subutex. Der Antragsteller gehöre zu einer Hochrisikopopulation von rückfallgefährdeten Gewaltstraftätern, weil er chronisch gewaltbereit sei, dazu neige, überproportional Gewalt anzuwenden, waffenaffin, wutgeprägt aggressiv, gesteigert eifersüchtig und drogensüchtig sei. Er könne sich nur in geringem Umfang in andere Menschen einfühlen und instrumentalisiere Beziehungen. Bei den zuletzt abgeurteilten Straftaten sei er äußerst entschlossen vorgegangen, die Tat habe wegen seiner Eifersucht leicht ausgelöst werden können und es bestehe ein hohes Schädigungspotenzial bei Vorhalten gefährlicher Waffen. Im Rahmen der eineinhalbjährigen Therapie sei es nicht gelungen, den Antragsteller dazu zu motivieren, eine deliktpräventive Behandlung durchzuführen, um seine Gefährlichkeit tatsächlich zu reduzieren. Stattdessen präsentiere er sich diesbezüglich mittlerweile als unbeeinflussbar. Soweit er sich überhaupt darauf eingelassen habe, habe er sich den Vorgaben der Therapie nur formal angepasst, um die Haft zu vermeiden. Außerdem sei seine Fähigkeit, sein eigenes Erleben und Verhalten zu betrachten, beschreiben und zu analysieren (sog. Introspektion) begrenzt. Während der Therapie sei es am 09.02.2022 zu einem deliktischen Zwischenfall gekommen. Er habe eine Assistenzärztin durch Drohungen dazu bringen zu wollen, ihm entgegen der Anordnung eines ihn behandelnden Orthopäden ein weiteres Schmerzmittel zu verabreichen und habe sie beleidigt, als sie sich weigerte. Es werde daher empfohlen, die Maßregel aus Gründen, die in der Person des Antragstellers liegen, wegen Aussichtslosigkeit zu beenden.
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Daraufhin erklärte das Landgericht … – Strafvollstreckungskammer – mit Beschluss vom 18.03.2022 die Unterbringung für erledigt. Der Antragsteller wurde ab 23.03.2022 zunächst in der JVA … und dann in der JVA … inhaftiert. Am 09.07.2022 wurde er wegen einer Gewalttat gegen einen Mitgefangenen und gegen einen Bediensteten in die JVA … überführt, wo er bis heute inhaftiert ist. Nachdem er am 31.12.2022 die Restfreiheitsstrafe nach der Unterbringung verbüßt hatte, trat er am 01.01.2023 nach dem Widerruf der Bewährung eine weitere Freiheitsstrafe von vier Monaten wegen Diebstahls aus dem Urteil des Amtsgerichts … vom 02.07.2019 an. Haftende ist der 25.04.2023.
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Während der Haftzeit wurde er mehrfach disziplinarisch belangt: Am 13.04.2022 erhielt er sieben Tage Arrest wegen des unerlaubten Besitzes eines Mini-Handys. Am 15.06.2022 wurden zwei Tage Arrest wegen ungebührlichen Verhaltens in der Arztsprechstunde verhängt. Auch der unerlaubte Besitz und Konsum von Betäubungsmitteln in der JVA … wurde am 22.07.2022 disziplinarisch geahndet. Da er in der JVA … einen Mitgefangenen zusammengeschlagen und einen Bediensteten mit der Faust ins Gesicht geschlagen hatte, wurden am 12.08.2022 weitere 14 Tage Arrest gegen ihn verhängt. Außerdem hat die Staatsanwaltschaft … am 14.02.2023 wegen dieser Taten Anklage (Az. …) zum Amtsgericht … wegen vorsätzlicher Körperverletzung in zwei tatmehrheitlichen Fällen, in einem Fall mit Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte und mit tätlichem Angriff auf Vollstreckungsbeamte erhoben. Schließlich wurde am 19.01.2023 als weitere Disziplinarmaßnahme wegen des Besitzes von unerlaubten Gegenständen in der JVA … seine Verfügung über Hausgeld/Eigengeld für drei Monate auf Bewährung beschränkt.
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Mit Schreiben vom 14.12.2022 wurde der Antragsteller zur beabsichtigten Ausweisung angehört. Am 10.01.2023 teilte sein Betreuer mit, der Antragsteller sei ein netter, zuvorkommender junger Mann mit Zukunft und Perspektive. Er lebe (trotz Inhaftierung) in einer Beziehung mit einer jungen Frau mit festem Wohnsitz, die kurz vor der Beendigung ihrer Ausbildung zur Einzelhandelskauffrau stehe. Mit Schreiben vom 11.01.2023 an die Antragsgegnerin bat der Antragsteller darum, ihn nicht abschieben zu lassen. Er lebe seit 20 Jahren in Deutschland, habe keinerlei soziale Bindungen in Kasachstan und könne nicht einmal russisch schreiben. Seine Verlobte, Frau A.W., stehe zu ihm. Seine Straftaten habe er immer aufgrund seiner Betäubungsmittelabhängigkeit begangen. Zwar sei sein erster Therapieversuch im Bezirkskrankenhaus … gescheitert, er habe aber in der Haft schon Kontakt zur Suchtberatung aufgenommen, die sich um die Kostenzusage und den Therapieplatz bemühten. Er bitte darum, ihm einen zweiten Therapieversuch möglich zu machen. Am gleichen Tag äußerte sich auch seine Verfahrensbevollmächtigte und führte u.a. ergänzend aus, der Antragsteller nehme in der JVA … am Substitutionsprogramm teil. Da er schwerbehindert und auf medizinische Hilfe und Medikamente angewiesen sei, komme ein Abschiebeverbot in Betracht.
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Mit dem streitgegenständlichen Bescheid vom 08.02.2023, der seinem damaligen Verfahrensbevollmächtigten am 10.02.2023 zustellt wurde, wies die Antragsgegnerin den Antragsteller aus der Bundesrepublik Deutschland aus (Ziff. 1), ordnete den Sofortvollzug dieser Maßnahme an (Ziff. 2), und befristete die Wirkungen der Ausweisung und einer eventuellen Abschiebung auf die Dauer von fünf Jahren ab Ausreise/Abschiebung (Ziff. 3). Weiter ordnete sie die Abschiebung des Antragstellers unmittelbar aus der Haft heraus, ggf. im Rahmen eines Verfahrens nach § 456a StPO, nach Kasachstan an. Die Abschiebung erfolge frühestens eine Woche nach Zustellung dieser Verfügung (Ziff. 4). Sollte die Abschiebung während der Haft nicht möglich sein und er deshalb aus der Haft entlassen werden, ohne vorher abgeschoben worden zu sein, werde er aufgefordert, das Bundesgebiet innerhalb einer Woche ab Haftentlassung zu verlassen; andernfalls werde ihm die Abschiebung nach Kasachstan angedroht (Ziff. 5).
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Zur Begründung führte die Antragsgegnerin aus, aufgrund der rechtskräftigen Verurteilung zu zwei Jahren und vier Monaten u.a. wegen Körperverletzung liege sowohl gemäß § 54 Abs. 1 Nr. 1 als auch gemäß § 54 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse vor. Da er als Minderjähriger eingereist sei und sich seit 19 Jahren im Bundesgebiet aufhalte, komme ihm ein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG zugute. Die Ausweisung erfolge zunächst aus generalpräventiven Gründen. Anderen Ausländern solle verdeutlicht werden, dass ein Ausländer, der wie der Antragsteller Straftaten begehe, wie in gleichgelagerter Fällen auch, mit aufenthaltsrechtlichen Konsequenzen zu rechnen habe und dadurch angehalten werden, die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland zu beachten. Die generalpräventive Ausweisung sei auch verhältnismäßig. Der Antragsteller habe zwar keine sozialen Bindungen nach Kasachstan. Wie seine diversen Straftaten, mit denen er Rechtsgüter hohen Ranges verletzt habe, zeigten, sei eine Integration in die hiesigen Lebensverhältnisse aber nicht erfolgt und auch nicht zu erwarten. Die Ausweisung sei aber auch spezialpräventiv motiviert. Die konkrete Gefahr, dass der Antragsteller erneut Straftaten begeht, bestehe aktuell weiterhin. Dafür spreche, dass er u. a. auch Körperverletzungs- und Eigentumsdelikte begangen habe. Diese Vortaten und das Ausbleiben einer Besserung durch Gefängnisaufenthalte hätten gezeigt, dass er der Rechtsordnung keine Bedeutung beimesse und während eines weiteren Aufenthalts mit gleichgelagerten Delikten erneut in Erscheinung treten werde. Daran ändere nichts, dass der Antragsteller angegeben habe, er wolle eine zweite Drogentherapie beginnen. Denn bei Straftaten im Zusammenhang mit Drogenmissbrauch sei erst dann nicht länger von einer Wiederholungsgefahr auszugehen, wenn der Ausländer eine Drogentherapie erfolgreich abgeschlossen und auch nach Therapieende glaubhaft gemacht habe, dass er sich nunmehr drogen- und straffrei verhalte. Das sei beim Antragsteller nicht der Fall. Denn seine Drogentherapie habe wegen Erfolglosigkeit und mangelnder Einsicht abgebrochen werden müssen. Darüber hinaus habe die Entziehungsanstalt ihm ausdrücklich keine günstige Sucht- und Legalprognose gestellt. Hinzukomme, dass damit zu rechnen sei, dass der Antragsteller seine Schmerzen, die zur Anerkennung einer Schwerbehinderung geführt hätten, nach der Haftentlassung mit Suchtmitteln bekämpfe. Bei der Abwägung könne er sich zu seinen Gunsten auch nicht mit Erfolg auf seine Beziehung zu seiner Verlobten berufen. Denn er sei (auch) wegen der Misshandlung der jungen Frau verurteilt worden und habe im Laufe der bisherigen Therapie weder seine Einstellung zu Frauen noch zur Gewalt geändert. Schließlich sei er als dreißigjähriger junger Mann in der Lage, sich in Kasachstan eine Existenz aufzubauen. Die Anordnung des Sofortvollzuges begründet die Antragsgegnerin damit, dass das Interesse des Antragstellers, sich weiter im Bundesgebiet aufzuhalten, bis über eine gegen die Ausweisung erhobene Klage rechtskräftig entschieden worden sei, hinter dem öffentlichen Interesse, den Aufenthalt auf der Grundlage der Ausweisung schon vorher zu beenden, zurücktreten müsse, weil die konkrete Gefahr bestehe, dass er nach seiner Haftentlassung am 25.04.2023 erneut Straftaten begehen werde. Bei der Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots im Rahmen einer Ermessensentscheidung ging die Antragsgegnerin davon aus, dass aufgrund der schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die vom Antragsteller ausgehe, dem Grunde nach eine Sperre von sieben Jahren in Betracht komme. Um den Bindungen des Antragstellers an das Bundesgebiet und seinem langjährigen Aufenthalt Rechnung zu tragen, werde die Sperrfrist auf fünf Jahre begrenzt. Unter Ziffer 4 („Abschiebungsandrohung“) führt die Antragsgegnerin aus, der Antragsteller befinde sich derzeit aufgrund richterlicher Anordnung in Haft und es sei aufgrund eines besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteresses ausgewiesen. Es müsse davon ausgegangen werden, dass er sich ausländerrechtlichen Maßnahmen nicht beugen und das Bundesgebiet nicht freiwillig verlassen werde. Die Abschiebung aus der Haft werde daher angeordnet. Sollte die Abschiebung nicht bis zum Ende der Haft durchführbar sein, werde er zur Ausreise binnen einer Woche aufgefordert und widrigenfalls nach Kasachstan abgeschoben. Ein Verbot der Abschiebung nach § 60 AufenthG oder Gründe für die Aussetzung der Abschiebung lägen auch unter Berücksichtigung von Art. 6 GG und Art. 8 EMRK nicht vor.
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Am 10.03.2023 hat der Antragsteller Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht Bayreuth erheben und beantragen lassen, den Bescheid vom 08.02.2023 aufzuheben. Dieses Verfahren wird unter dem Az. 6 K 23.207 geführt.
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Zugleich hat er gemäß § 80 Abs. 5 VwGO beantragen lassen,
die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Ausweisung und die Abschiebungsanordnung anzuordnen, hilfsweise die sofortige Vollziehung aufzuheben.
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Zur Begründung führt der Prozessbevollmächtigte des Antragstellers im Wesentlichen aus, der Antrag gemäß § 80 Abs. 5 VwGO habe schon deshalb Erfolg, weil es an einem, im Einzelnen zu begründenden besonderen Vollzugsinteresse gemäß § 80 Abs. 3 VwGO fehle, nachdem zwischen dem Zeitpunkt der Verurteilung am 01.07.2020 und dem Erlass der Ausweisungsverfügung am 08.02.2023 über zweieinhalb Jahre verstrichen seien. Darüber hinaus sei der Antrag auch begründet, weil ernsthafte Zweifel an der Rechtmäßigkeit der für sofort vollziehbar erklärten Ausweisungsverfügung und damit auch der Abschiebungsanordnung und der Abschiebungsandrohung bestünden. Gegen eine Ausweisung aus generalpräventiven Gründen spreche die dadurch eintretende Ungleichbehandlung mit den unionsrechtliche Freizügigkeitsberechtigten, die nicht generalpräventiv ausgewiesen werden dürften. Weiter sei eine generalpräventive Ausweisung unzulässig, wenn eine strafgerichtliche Verurteilung vorausgegangen und damit ein Schuldausgleich bereits erfolgt sei. Im Fall des Antragstellers sei sie außerdem unverhältnismäßig, weil er sich schon so lange im Bundesgebiet aufhalte. Gegen eine Ausweisung aus spezialpräventiven Gründen sei ins Feld zu führen, dass bei der Prüfung der Wiederholungsgefahr dem Antragsteller nicht zu Lasten angerechnet werden dürfe, dass die Therapie im Bezirkskrankenhaus habe abgebrochen werden müssen und ihm deshalb von der Entziehungsanstalt eine negative Prognose gestellt worden sei. Der Antragsteller habe nicht lediglich ein Suchtproblem, sondern sei auch psychisch krank. Zu seinen Gunsten sei zu berücksichtigen, dass er sich aus seiner Sicht um einen Therapieerfolg bemüht habe. Außerdem sei er fest entschlossen, nach seiner Entlassung, geläutert durch die weitere Haft, zusammen mit seiner Verlobten ein neues straffreies Leben zu beginnen. Deshalb bemühe er sich nunmehr ernsthaft, seine Drogenabhängigkeit durch eine erneute Therapie zu bekämpfen. Werde sein Aufenthalt beendet, werde ihm diese Möglichkeit verbaut, weil es in Kasachstan keine vergleichbaren Therapiemöglichkeiten wie in Deutschland gebe. Bei der Abwägung sei einzustellen, dass sich nahezu sein gesamtes persönliches Umfeld im Raum … befinde. Insbesondere sei seine Beziehung zu seiner Verlobten positiv zu würdigen. Da sich eine Eheschließung deshalb verzögert habe, dass der Antragsteller seit 2022 mehrmals von einer JVA in eine andere verlegt worden sei, sei seine Verlobte wie eine Ehefrau zu behandeln.
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Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO zurückzuweisen.
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Für das besondere Vollzugsinteresse für den Sofortvollzug der Ausweisung sei nicht darauf abzustellen, welche Zeitspanne seit dem Urteil des Amtsgerichts … am 01.07.2020 verstrichen sei, sondern wie lange der Abbruch der Unterbringung gem. § 64 StGB und die Stellungnahme des Bezirkskrankenhauses mit ihrer negativen Sucht- und Legalprognose zurücklägen. Eine Ausweisung sei als verwaltungsrechtliche Maßnahme neben einer strafgerichtlichen Verurteilung im öffentlichen Interesse zulässig und bezwecke nicht eine weitere Bestrafung des Antragstellers, sondern insbesondere die Abschreckung anderer Ausländer. Darüber hinaus bestehe beim Antragsteller trotz seiner Bemühungen um eine Therapie weiterhin aktuell die konkrete Gefahr des Drogenkonsums und daraus resultierend erheblicher Straftaten. An der Abwägung, die ergeben habe, dass das Ausweisungsinteresse überwiege, werde festgehalten. Dagegen könne nicht mit Erfolg geltend gemacht werden, dass der Antragsteller nunmehr beabsichtige, seine Verlobte, mit der er seit April 2019 liiert sei, zu heiraten. Vielmehr diene die Aufenthaltsbeendigung auch dem Schutz von Frau W., welcher der Antragsteller, der weiterhin gewaltbereit sei, Gewalt angetan habe. Auch die Verhältnisse, auf die er treffe, wenn er nach Kasachstan zurückkehren müsse, führten zu keiner anderen Bewertung. Der Antragsteller könne sich in Russisch, einer der beiden dortigen Amtssprachen, verständigen. Außerdem könne er in seiner Heimatstadt … medizinische Versorgung in ausreichendem Umfang in Anspruch nehmen. Der Sofortvollzug sei erforderlich, um erneute Straftaten des Antragstellers zu verhindern. Sobald das Gericht im Eilverfahren zu ihren Gunsten entschieden habe, werde die Antragsgegnerin über das Bayerische Landesamt für Asyl und Rückführungen die Abschiebung des Antragstellers veranlassen.
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Auf gerichtliche Anfrage hin legte die JVA … am 17.03.2023 einen Führungsbericht betreffend den Antragsteller vor. Daraus ergeben sich u.a. die verhängten Disziplinarmaßnahmen. Außerdem ist vermerkt, dass er Privatbesuch (nur) von seiner Freundin erhält.
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Für die weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichts- und die Behördenakte verwiesen.
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Der zulässige Antrag ist unbegründet.
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1. Der Antrag ist im Haupt- und im Hilfsantrag zulässig.
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a) Was die Klage gegen die von der Antragsgegnerin gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO für sofort vollziehbar erklärte Ausweisung (Ziff. 1 und 2 des Bescheides vom 08.02.2023) angeht, ist der Antrag als Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Anfechtungsklage gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 2 VwGO statthaft.
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b) Hinsichtlich der Anordnung und der Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes (Ziff. 3 des Bescheides vom 17.02.2023) ist ebenfalls ein Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO statthaft. Die Anordnung ist gem. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AufenthG i. V. m. § 84 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 AufenthG kraft Gesetzes sofort vollziehbar, so dass die Anfechtungsklage auch dagegen keine aufschiebende Wirkung hat (VGH BW, B. v. 13.11.2019 – 11 S 2996.19 – InfAuslR 2020, 106/111f.).
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c) Was die Klage gegen die Ziffer 4 und 5 des Bescheids vom 08.02.2023 betrifft, die sich gegen die Anordnung bzw. Androhung der Abschiebung, d.h. gegen Maßnahmen im Rahmen der Verwaltungsvollstreckung richtet, gegen die die Anfechtungsklage gemäß § 80 Abs. 2 Satz 2 VwGO, Art. 21a Satz 1 VwZVG keine aufschiebende Wirkung hat, ist im vorläufigen Rechtsschutz ein Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt.1 VwGO statthaft.
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d) Der Hilfsantrag ist ebenfalls statthaft. Die beantragte Aufhebung der Anordnung kommt dann in Betracht, wenn dem formellen Erfordernis einer einzelfallbezogenen Begründung der sofortigen Vollziehung gemäß § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO nicht Genüge getan ist (Bauer, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Aufl. 2022, Vor §§ 53-56 Rn. 163).
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2. Der Antrag ist insgesamt unbegründet.
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a) Der Antrag ist unbegründet, soweit damit begehrt wird, die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Ausweisung (Ziffer 1 des Bescheides) wiederherzustellen. Die von dem Antragstellerbevollmächtigen vorgetragenen „ernsthaften Zweifel“ an der Rechtmäßigkeit der Ausweisungsverfügung (Seite 8 der Antragsbegründung, Bl. 9. d.A.) bestehen nach Überzeugung der Kammer nicht.
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aa) Im Verfahren gemäß § 80 Abs. 5 VwGO entscheidet das Gericht auf der Grundlage einer eigenen Abwägung des von der Behörde geltend gemachten Interesses an der sofortigen Vollziehung des Bescheides und des Interesses des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung der Klage. Wesentliches Element dieser Interessenabwägung ist die Beurteilung der Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache, die dem Charakter des Eilverfahrens entsprechend auf der Grundlage einer summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage erfolgt (stRspr, vgl. nur BVerwG, B. v. 16.09.2014 – 7 VR 1/14 – NVwZ 2015, 82 Rn. 10). Die Anordnung der sofortigen Vollziehung einer Ausweisung aus spezialpräventiven Gründen setzt weiter voraus, dass die begründete Besorgnis besteht, dass sich die mit der Ausweisung bekämpfte Gefahr schon in dem Zeitraum bis zu einer rechtskräftigen gerichtlichen Hauptsacheentscheidung über die Rechtmäßigkeit der Ausweisungsverfügung realisieren wird (BayVGH, B.v. 25.10.2022 – 19 CS 22.1755 – juris Rn. 11; OVG Magdeburg, B. v. 28.03.2022 – 2 M 1/22 – juris Rn. 32; Bauer, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Aufl. 2022, Vor §§ 53-56 AufenthG Rn. 165).
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bb) Gemäß § 53 Abs. 1 AufenthG wird ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdet, ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt.
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§§ 54 und 55 AufenthG konkretisieren den in § 53 Abs. 1 AufenthG geregelten Grundtatbestand, indem sie, nicht abschließend, einzelnen in die Abwägung einzustellenden Ausweisung- und Bleibeinteressen von vornherein ein spezifisches, bei der Abwägung zu berücksichtigendes Gewicht beimessen, jeweils qualifiziert als entweder „besonders schwerwiegend“ (Abs. 1) oder als „schwerwiegend“ (Abs. 2). Auch wenn der Tatbestand eines besonderen Ausweisungsinteresses nach § 54 AufenthG verwirklicht ist, ist bei einer auf spezialpräventive Gründe gestützten Ausweisung stets festzustellen, ob die von dem Ausländer ausgehende Gefahr im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt fortbesteht. Darüber hinaus können auch generalpräventive Gründe ein Ausweisungsinteresse begründen. Nicht nur das persönliche Verhalten eines Ausländers kann eine Gefahr darstellen, sondern nach dem Wortlaut von § 53 Abs. 1 AufenthG kann auch bereits der weitere Aufenthalt als solcher eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit bewirken (BVerwG, U.v. 09.05.2019 – 1 C 21.18 – BVerwGE 165, 331 = InfAuslR 2019, 381 Rn.17).
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Bei der Abwägung zwischen den Ausweisungs- und den Bleibeinteressen, einer gebundenen und deshalb gerichtlich voll überprüfbaren Entscheidung auf der Tatbestandsseite, sind die in § 53 Abs. 2 AufenthG ebenfalls nicht abschließend aufgezählten Umstände und das Ausweisungs- bzw. Bleibeinteresse gemäß § 54 und § 55 AufenthG nach ihrem spezifischen Gewicht zu berücksichtigen (grundlegend zur spezialpräventiven Ausweisung BVerwG, U. v. 22.02.2017 – 1 C 3/16 – BVerwGE 157, 325 = NVwZ 2017, 1883, jew. Rn. 20-26; grundlegend zur generalpräventiven Ausweisung BVerwG, U. v. 09.05.2019 – 1 C 21.18 – BVerwGE 165, 331 = InfAuslR 2019, 381 Rn.17).
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cc) Zum Anlass für die Ausweisungsverfügung hat die Antragsgegnerin die Verurteilung des Antragstellers durch das Amtsgericht … vom 01.07.2020 genommen.
34
dd) Zu Recht ging die Antragsgegnerin davon aus, dass ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse i.S.v. § 54 Abs. 1 AufenthG vorliegt.
35
Der Antragsteller wurde rechtskräftig wegen Diebstahls in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung in Tatmehrheit mit gefährlicher Körperverletzung in Tatmehrheit mit unerlaubtem Führen einer Schusswaffe zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und vier Monaten verurteilt. Damit liegt zum einen eine noch nicht getilgte und deshalb aufenthaltsrechtlich noch verwertbare rechtskräftige Verurteilung wegen mehrerer vorsätzlicher Straftaten zu einer Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren vor (§ 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG). Zum anderen ahndete das Amtsgericht … mehrere vorsätzliche Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit rechtskräftig mit einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr (§ 54 Abs. 1 Nr. 1a Buchst. b AufenthG).
36
ee) Das Ausweisungsinteresse besteht sowohl aus spezial- als auch aus generalpräventiver Sicht fort.
37
aaa) Eine spezialpräventiv motivierte Ausweisung, die die Abwehr einer von dem Aufenthalt des Ausländers ausgehenden Gefährdung bezweckt, setzt die Feststellung einer Wiederholungsgefahr auf Grund einer individuellen Würdigung sämtlicher Umstände des konkreten Einzelfalls voraus, insbesondere der Höhe der verhängten Strafe, der Schwere der konkreten Straftat, der Umstände ihrer Begehung und des Gewichts des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts ebenso wie der Persönlichkeit des Täters und seiner Entwicklung und Lebensumstände bis zu dem maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt. An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind dabei umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (BayVGH, B.v. 09.01.2023 – 19 ZB 21.429 – juris Rn.15). Zu verneinen ist eine Wiederholungsgefahr, wenn bei Anwendung praktischer Vernunft das Risiko, das von dem Ausländer ausgeht, kein anderes ist als das, das bei jedem Menschen mehr oder minder besteht (Bauer, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Aufl. 2022, § 53 AufenthG Rn. 48).
38
Bei Straftaten, die auf einer Suchterkrankung des Ausländers beruhen oder dadurch gefördert wurden, kann von einem Wegfall der für die Ausweisung erforderlichen Wiederholungsgefahr nicht ausgegangen werden, solange der Ausländer eine erforderliche Therapie nicht erfolgreich abgeschlossen und die damit verbundene Erwartung eines künftig straffreien Verhaltens auch nach Therapieende glaubhaft gemacht hat. Solange sich der Ausländer nicht außerhalb des Straf- und Maßregelvollzugs bewährt hat, kann nicht mit der notwendigen Sicherheit auf einen dauerhaften Einstellungswandel und eine innerlich gefestigte Verhaltensänderung geschlossen werden, die ein Entfallen der Wiederholungsgefahr rechtfertigen würde (BayVGH, B. v. 09.01.2023 – 19 ZB 21.429 – juris Rn. 23). Konnte die negative Gefahrenprognose nach diesen Grundsätzen bislang nicht ausgeräumt werden, kann der Ausländer nicht beanspruchen, dass er sich solange weiterhin im Bundesgebiet aufhalten darf und seine begonnene Therapie fortsetzen bzw. – noch weitergehend – nach Abbruch einer Therapie eine neue Behandlung antreten darf, bis seine Erkrankung (insbesondere Suchterkrankung) geheilt ist und keine Wiederholungsgefahr mehr besteht (BayVGH, B.v. 10.02.2022 – 19 ZB 21.2650 – juris Rn. 23).
39
Nach diesen Maßstäben gefährdet der Aufenthalt des Antragstellers weiterhin die öffentliche Sicherheit und Ordnung, weil aktuell das erhebliche Risiko besteht, dass er erneut Straftaten von mindestens vergleichbarem Gewicht wie seine Vortaten begehen wird. Zwar hat er durch seinen Prozessbevollmächtigten in der Antragsbegründung vortragen lassen, er sei fest entschlossen, künftig ein straffreies Leben zu führen. Dem steht jedoch gegenüber, dass der Antragsteller erhebliche Straftaten, insbesondere gegen das hohe Rechtsgut der körperlichen Unversehrtheit gerichtete Körperverletzungsdelikte begangen hat, die mit beträchtlichen Strafen, geahndet wurden. Eine eineinhalbjährige Therapie im Maßregelvollzug hat weder an der Suchtmittelproblematik noch an der Gewaltneigung und -bereitschaft des Antragstellers etwas geändert. Für die fortbestehende Gewaltbereitschaft des Antragstellers spricht die gewalttätige Auseinandersetzung mit einem Mitgefangenen und einem Bediensteten während seiner Inhaftierung in …, wegen der er nach Erlass der Ausweisungsverfügung am 14.02.2023 angeklagt wurde. Für seine Neigung, seine Interessen mit körperlicher Gewalt und Drohungen durchzusetzen, spricht der Vorfall mit der Assistenzärztin in der Entziehungsanstalt, der mitausschlaggebend für den Abbruch der Therapie war. Die Wiederholungsgefahr ist ersichtlich nicht dadurch entfallen, dass der Antragsteller angibt, er bemühe sich um eine stationäre Behandlung, mit der vor allem auch seine Drogenprobleme beseitigt werden sollen. Denn beim Antragsteller, der an einer Suchterkrankung leidet, könnte erst dann eine dauerhafte Einstellungs- und Verhaltensänderung angenommen werden, wenn er eine Drogentherapie erfolgreich abgeschlossen hätte und sich auch ohne die geschützte Umgebung einer Entziehungsanstalt bewährt hätte. Die Drogentherapie des Antragstellers ist aber nicht nur lediglich nicht abgeschlossen, sie musste vielmehr abgebrochen werden, weil er sich als nicht therapierbar erwies. Nicht zuletzt auch wegen der nach eineinhalb Jahren Therapie fachärztlich und psychologisch gestellten negativen Sucht- und Legalprognose kann der Antragsteller nicht, wie er es für sich in Anspruch nimmt, verlangen, so lange nicht ausgewiesen zu werden, bis die Behandlung, sofern überhaupt möglich, den für den Wegfall der Wiederholungsgefahr erforderlichen langfristigen Erfolg zeitigt. Das Gericht nimmt zur Verdeutlichung der vorstehenden Erwägungen Bezug auf folgende aussagekräftige Ausführungen in der Stellungnahme des Bezirkskrankenhauses … vom 26.02.2022 (Bl. 692 ff. d. Behördenakte):
„Herr … ist stark mit einer delinquenten Kultur identifiziert, polymorph kriminell. Sein Einfühlungsvermögen in andere Menschen ist gering, er instrumentalisiert Beziehungen und neigt zu überproportionaler Gewaltanwendung. (…).
Das Risikoprofil der deliktrelevanten Problembereiche besteht bei Herrn … aus einer chronifizierten Gewaltbereitschaft, einer Waffenaffinität, einer wutgeprägten Aggressivität, einer gesteigerten Eifersucht und einer risikorelevanten Drogenproblematik.“ (…)
Zusammenfassend lässt sich aus psychiatrisch-psychotherapeutischer Sicht festhalten, dass die Mittel für eine erfolgsversprechende Suchtbehandlung im Rahmen des § 64 StGB vollumfänglich erschöpft sind (…) Seine dispositionelle Bereitschaft, Gewalt anzuwenden zeigt sich in der weiterhin leichten Auslösbarkeit und einer positiv bejahenden Grundeinstellung gegenüber Gewalt, häufig im Zusammenhang mit ihrem zielgerichteten, subjektiv nützlichen Einsatz, wie er sie gerade in der zur Anzeige führenden Attacke gegenüber der ärztlichen Kollegin offenbarte. Verbale und expressive, aber auch körperliche Gewaltanwendung ist eine Herrn … vertraute, weiterhin als legitim und nützlich bewertete Handlungsweise, die eine selbstverständliche Verhaltensoption darstellt. Die eigene Legitimationsstrategie ist dabei das berechtigte Durchsetzen seiner ihm scheinbar zustehenden Anliegen. Dabei besteht eine aggressive, durch starkes Wutempfunden geprägte Grunddisposition als stabiler und prägender Persönlichkeitszug. Er zeigt sich in einer generellen Problematik mit Aggression und ihren vielfältigen Erscheinungsformen. Leitsymptome sind die leichte Auslösbarkeit, die hohe Intensität und die oft lange zeitliche Dauer von ausgeprägtem Wutempfinden. (…). Verschiedenste Versuche zum Wecken einer entsprechenden Motivation für eine die Gefährlichkeit tatsächlich reduzierende deliktpräventive Behandlung schlugen fehl, Herr … präsentiert sich diesbezüglich mittlerweile als unbeeinflussbar, im Gegenteil es kam unter den beschützten Unterbringungsbedingungen zu einem einschlägigen gravierenden Verhaltensrückfall (…).
Wir empfehlen daher aus Gründen, die in der Person des Herrn … liegen, die Maßregel wegen Aussichtslosigkeit zu beenden. Wie detailliert dargelegt, werden – trotz intensiver Bemühungen seitens der mit dem Patienten befassten Mitarbeiter über einen längeren Zeitraum – keine Erfolgsaussichten mehr gesehen, diese sind auch durch eine Fortsetzung der Unterbringung nicht mehr zu erwarten. Eine günstige Legal- und Suchtprognose kann daher nicht gestellt werden.“
40
bbb) Beim Antragsteller liegen daneben auch generalpräventive Gründe für eine Ausweisung vor.
41
Ein generalpräventives Ausweisungsinteresse besteht, wenn im Fall des Unterbleibens einer ausländerrechtlichen Reaktion andere Ausländer nicht wirksam davon abgehalten werden, vergleichbare Delikte zu begehen. Dazu ist es erforderlich, dass eine kontinuierliche Ausweisungspraxis vorliegt und dass angesichts der Schwere der Straftat ein dringendes Bedürfnis auch für eine ordnungsrechtliche Prävention besteht. Jedes generalpräventive Ausweisungsinteresse verliert mit zunehmendem Zeitabstand an Bedeutung und kann ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr herangezogen werden (BayVGH, B.v. 09.01.2023 – 19 ZB 21.429 – juris Rn. 34f.).
42
Nach diesen Maßstäben hat die Antragsgegnerin die Ausweisung zu Recht auch auf generalpräventive Gründe gestützt. Das generalpräventive Ausweisungsinteresse, das sich maßgeblich auf die Verurteilung des Antragstellers durch das Amtsgericht … am 01.07.2020 stützt, ist nach den in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (U.v. 12.07.2018 – 1 C 16/17 – NVwZ 2019, 486/488 Rn. 23) entwickelten Maßstäben ersichtlich noch hinreichend aktuell. Durch die Ausweisung, die die Antragsgegnerin nach eigenen Angaben auch in vergleichbaren Fällen verfügt hat, kann eine Verhaltenssteuerung und Abschreckung erreicht werden. Denn die Antragsgegnerin hat damit deutlich gemacht, dass sie insbesondere nicht bereit ist, die Ausübung körperlicher Gewalt hinzunehmen. Als Adressaten, die veranlasst werden könnten, von Körperverletzungsdelikten Abstand zu nehmen, um eine ihnen sonst drohende Ausweisung zu verhindern, kommen insbesondere die Freunde und Bekannten des Antragstellers aus dem Drogenmilieu in Betracht, in dem sich der Antragsteller bis zu seiner Inhaftierung bewegte.
43
ff) Auf ein gesetzlich typisiertes Bleibeinteresse, insbesondere gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 2 oder Nr. 4 AufenthG, kann sich der Antragsteller nicht mit Erfolg berufen.
44
Gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG wiegt ein Bleibeinteresse i.S.v. § 53 Abs. 1 AufenthG besonders schwer, wenn der Ausländer eine Aufenthaltserlaubnis besitzt, als Minderjähriger in das Bundesgebiet eingereist ist und sich seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat. Entgegen der Rechtsauffassung der Antragsgegnerin greift diese Vorschrift nicht zu Gunsten des Antragstellers. Maßgeblicher Beurteilungszeitpunkt ist insoweit der Zeitpunkt der Zustellung der Ausweisungsverfügung. Eine Aufenthaltserlaubnis besitzt ein Ausländer nur dann, wenn die Ausländerbehörde ihm eine Aufenthaltserlaubnis erteilt, nicht bereits dann, wenn er sie beantragt hat oder wenn die Voraussetzungen für eine Erteilung vorliegen (BayVGH, B. v. 30.04.2019 – 10 C 18.2425 – juris Rn.10). Zum Zeitpunkt der Zustellung des Ausweisungsbescheides am 10.02.2023 besaß der Antragsteller keine Aufenthaltserlaubnis. Er hatte zwar vor Ablauf der Geltungsdauer seiner letzten Aufenthaltserlaubnis ihre Verlängerung beantragt. Die Antragsgegnerin hatte aber nicht darüber entschieden, so dass ihm, auch als die Geltungsdauer seiner Fiktionsbescheinigung am 11.07.2022 abgelaufen war, zwar die Fiktionswirkung gemäß § 81 Abs. 4 Satz 1 AufenthG zugutekam (Zimmerer, in: Decker/Bader/Kothe, BeckOK MigR, Stand 15.01.2023, § 81 AufenthG Rn. 37), er aber nicht im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis war.
45
Gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG wiegt ein Bleibeinteresse i.S.v. § 53 Abs. 1 AufenthG besonders schwer, wenn der Ausländer mit einem deutschen Familienangehörigen in familiärer Lebensgemeinschaft lebt. Ein Bleibeinteresse auf dieser Grundlage scheitert, unabhängig davon, ob der Antragsteller mit Frau W. vor seiner Inhaftierung überhaupt in familiärer Lebensgemeinschaft gelebt hat, und zu erwarten ist, dass er nach Haftende mit ihr zusammenleben wird, bereits daran, dass eine Verlobte keine Familienangehörige i.S.v. § 53 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG ist (Bauer, in: Bergmann /Dienelt, Ausländerrecht, 14. Aufl. 2022, § 55 AufenthG Rn. 11 m.w.N.).
46
Die vom Gesetzgeber typisierend bezeichneten Bleibeinteressen sind jedoch nicht abschließend. Zugunsten des Antragstellers ist daher in die gebotene Abwägung einzustellen, dass er bereits als Minderjähriger nach Deutschland gekommen ist und in der Vergangenheit langjährig einen legalen Aufenthaltsstatus hatte. Nach seinen Angaben hat er keine sozialen Bindungen in seinem Herkunftsland Kasachstan; seine Verwandtschaft hält sich nach seinen Angaben in Deutschland auf.
47
gg) Die Abwägung des öffentlichen Interesses an der Ausreise des Antragstellers mit dem privaten Interesse an seinem weiteren Verbleib im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausweisung überwiegt. Dem besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteresse steht kein zumindest annähernd gleichgewichtiges Bleibeinteresse gegenüber. Die besondere Gefährlichkeit des Antragstellers und die daraus folgende hinreichend konkrete Gefahr, dass er nach seiner Haftentlassung weitere erhebliche Straftaten begehen wird, ergibt sich aus den bisher begangenen Straftaten, der unbehandelten Suchtmittelproblematik, der fortbestehenden Gewaltbereitschaft, den mehr als deutlichen Aussagen in dem Bericht des Bezirkskrankenhauses … sowie den Vorkommnissen während der Haftzeit. Der Antragsteller wurde bereits als Heranwachsender straffällig und hat dieses Verhalten bis heute fortgesetzt. Eine frühere Strafaussetzung zur Bewährung musste widerrufen werden. Auch vorangegangene Freiheitsentziehungen hat sich der Antragsteller nicht zur Warnung gereichen lassen. Der Vortrag in der Antragsbegründung (Seite 7, Bl. 8 d.A.), der Antragsteller habe sich aus seiner Sichtweise heraus sehr um einen Therapieerfolg bemüht und sei auch durch die anschließende weitere Haftzeit „geläutert“, steht in erheblichem Widerspruch zu den Ausführungen im Bericht des Bezirkskrankenhauses vom 26.02.2022 und im Führungsbericht der JVA … vom 17.03.2023. Im Hinblick darauf überwiegt das Ausweisungsinteresse das Bleibeinteresse auch unter besonderer Berücksichtigung des langjährigen Aufenthalts des Antragstellers im Bundesgebiet. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Antragsteller trotz dieses langjährigen Aufenthalts sozial und wirtschaftlich nicht in die hiesigen Lebensverhältnisse integriert ist. Es mag sein, dass sich die Verwandtschaft des Antragstellers jedenfalls überwiegend in Deutschland aufhält. Diesem Umstand kommt bei dem volljährigen Antragsteller aber kein ausschlaggebendes Gewicht zu. Was die nicht-eheliche Beziehung zu Frau W. angeht, ist darauf hinzuweisen, dass diese aufgrund der mehrjährigen Inhaftierung des Antragstellers schon über einen längeren Zeit im Alltag nicht gelebt werden konnte und der Grund dieser Inhaftierung im Übrigen insbesondere in den von dem Antragsteller gegenüber Frau W. begangenen Straftaten liegt. Eine Berufsausbildung hat der Antragsteller nicht. Die letzten Jahre vor seiner (erneuten) Inhaftierung hat er Sozialleistungen bezogen. Es ist ihm demgegenüber – auch unter Berücksichtigung seiner gesundheitlichen Beschwerden – zuzumuten, in seinem Herkunftsland Kasachstan, in dem er seine Kindheit verbracht hat, Anstrengungen zu unternehmen, sich in die dortigen Lebensverhältnisse zu integrieren, wirtschaftlich Fuß zu fassen und auch eine etwaig erforderliche medizinische Behandlung dort in Anspruch zu nehmen. Der Antragsteller kann in diesem Zusammenhang nicht mit dem Vortrag durchdringen, dass er nicht über die erforderlichen Sprachkenntnisse verfüge, die er benötige, um in Kasachstan zurechtzukommen. Der Antragsteller ist im Alter von 11 Jahren nach Deutschland gekommen. Er ist also in der Sprachumgebung seines Herkunftslandes aufgewachsen und hat dort eine Schule besucht. Dem Vortrag des Antragstellerbevollmächtigten, der Antragsteller könne sich „sprachbedingt schon nicht verständlich machen“ (Antragsbegründung Seite 4, Bl. 5 d.A.), schenkt das Gericht vor diesem Hintergrund keinen Glauben. Was die schriftlichen Sprachkenntnisse angeht, ist es dem Antragsteller zuzumuten, sich die kyrillische Schrift selbst anzueignen. Es entspräche keiner sachgerechten Abwägung von Ausweisungs- und Bleibeinteresse, wenn alle Risiken der gescheiterten Integration des Antragstellers von der Bundesrepublik Deutschland und nicht von der Republik Kasachstan, deren Staatsangehöriger der Antragsteller ist, zu tragen wären.
48
hh) Das für die Anordnung des Sofortvollzugs einer Ausweisung erforderliche besondere Vollzugsinteresse liegt ebenfalls vor. Dieses ergibt sich aus der alsbald bevorstehenden Haftentlassung des Antragstellers und der deshalb hinreichend konkret bestehenden Gefahr, dass dieser nach Haftentlassung in kurzer Zeit weitere Straftaten von erheblichem Gewicht begehen wird. Dem kann der Antragsteller nicht mit Erfolg entgegenhalten, dass die der derzeitigen Inhaftierung zugrundeliegende Verurteilung bereits längere Zeit zurückliegt. Während der Haftzeit bestand die von dem Antragsteller ausgehende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ersichtlich nicht in gleichem Umfang wie dies nach der Haftentlassung der Fall sein wird. Zu Recht weist die Antragsgegnerin in der Antragserwiderung auch darauf hin, dass die Stellungnahme des Bezirkskrankenhauses … vom 26.02.2022 und die erfolglose Beendigung des Maßregelvollzugs, welche die Gefährlichkeit des Antragstellers und die negative Legal- und Suchtprognose in besonderem Maße untermauern, eben gerade nicht mehrere Jahre zurückliegen. Es ist auch nichts dafür ersichtlich, dass die Antragsgegnerin bei dem Antragsteller das berechtigte Vertrauen erweckt haben könnte, sie werde von einer Ausweisung, auch verbunden mit der Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit, Abstand nehmen. Aus den bereits oben genannten Gründen, insbesondere aufgrund der dargelegten hohen und fortgesetzten Gewaltneigung und -bereitschaft und der nicht bewältigten Suchtproblematik des Antragstellers, besteht im vorliegenden Fall die begründete Besorgnis und auf einer belastbaren Tatsachengrundlage beruhende Gefahr, dass sich die mit der Ausweisung bekämpfte Gefahr schon in dem Zeitraum bis zu einer rechtskräftigen gerichtlichen Hauptsacheentscheidung über die Rechtmäßigkeit der Ausweisungsverfügung realisieren wird. Die bei einem Aufschub des Vollzugs drohenden Nachteile für die gefährdeten Rechtsgüter überwiegen dabei die den Antragsteller treffenden Folgen der sofortigen Vollziehung. Die Kammer verkennt nicht, dass die sofortige Vollziehung der Ausweisung durch die Aufenthaltsbeendigung eine einschneidende Maßnahme ist, die erheblich in die Lebensgestaltung eingreift. Der Antragsteller war jedoch schon vor seiner Inhaftierung nicht sozial und wirtschaftlich im Bundesgebiet integriert. Er unterhielt soziale Kontakte überwiegend im Drogenmilieu und bezog über einen längeren Zeitraum Sozialleistungen. Er ist ledig, kinderlos und konnte die nicht-eheliche Beziehung zu Frau W. wegen seiner Inhaftierung schon seit längerer Zeit im Alltag nicht leben. Die durch die drohenden Straftaten, insbesondere Gewaltdelikte, eintretenden Schäden sind regelmäßig irreparabel. Demgegenüber stehen für den Fall, dass sich die Ausweisung im Hauptsacheverfahren nach erfolgter Aufenthaltsbeendigung (entgegen der dargestellten gewichtigen Faktenlage) nicht als rechtmäßig erweisen sollte, weitgehend reparable Nachteile (zeitweise Erschwerung sozialer Kontakte ins Bundesgebiet, kein erneuter Versuch der Suchttherapie) für den Antragsteller gegenüber. Die Anordnung des Sofortvollzugs ist daher gerechtfertigt.
49
b) Der Antrag ist weiter unbegründet, soweit er sich gegen die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes richtet (Ziff. 3). Gerichtlich überprüfbare Ermessensfehler der Befristungsentscheidung sind nicht ersichtlich. Die Antragsgegnerin hat sich unter Würdigung der für und gegen den Antragsteller sprechenden Umstände trotz des an sich gemäß § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG eröffneten erweiterten Fristrahmens dafür entschieden, zugunsten des Antragstellers eine innerhalb der Regelfrist des § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG liegende Befristung von fünf Jahren auszusprechen.
50
c) Der Antrag ist auch unbegründet, soweit er sich gegen Ziffern 4 und 5 des Bescheids vom 08.02.2023 richtet. Die Abschiebungsandrohung bzw. Anordnung der Abschiebung aus der Haft kann sich in rechtlich zulässiger Weise auf § 59 Abs. 1 und Abs. 5 AufenthG stützen (vgl. BayVGH, B.v. 25.10.2022 – 19 CS 22.1755 – juris Rn. 1 u. 39; VG Ansbach, U.v. 27.11.2019 – AN 5 K 18.01356 – juris Rn. 19 u. 46; B.v. 09.11.2020 – AN 5 S 20.1515 – BeckRS 2020, 47522 Rn. 9 u. 57; VG Augsburg, U.v. 29.01.2020 – Au 6 K 19.1083 – juris Rn. 24 u. 122). Umstände, die – entgegen den Ausführungen der Antragsgegnerin im angegriffenen Bescheid – auf ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot hindeuten könnten, sind weder substantiiert vorgetragen noch sonst ersichtlich.
51
d) Der Hilfsantrag auf Aufhebung der sofortigen Vollziehung ist schließlich ebenfalls unbegründet. Die Begründung der Anordnung des Sofortvollzugs wird den Anforderungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO gerecht. Der Antragsgegnerin hat in den Bescheidsgründen zum Ausdruck gebracht, dass die Anordnung der sofortigen Vollziehung die Ausnahme zum gesetzlichen Regelfall des § 80 Abs. 1 VwGO ist, und dass hierfür ein besonderes öffentliches Vollzugsinteresse, das über das bloße Interesse am Vollzug eines rechtmäßigen Verwaltungsakts hinausgeht, erforderlich ist. Die Ausführungen unter Ziffer II.2 der Bescheidsgründe sind ersichtlich einzelfallbezogen und nicht etwa nur „floskelhaft“.
52
3. Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 154 Abs. 1 VwGO. Der Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Ziff. 8.2 und 1.5 des Streitwertkatalogs.