Inhalt

VGH München, Beschluss v. 09.05.2023 – 19 CS 23.535
Titel:

Isolierte Anfechtung einer Nebenbestimmung zur Duldung

Normenkette:
AufenthG § 61 Abs. 1
Leitsatz:
Einer Duldung kann eine auflösende Bedingung beigefügt werden ("Die Duldung erlischt mit Bekanntgabe des Abschiebungs- oder Ausreisetermins"). (Rn. 7) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Isolierte Anfechtung einer Nebenbestimmung zur Duldung, Auflösende Bedingung, Erlöschen der Duldung mit Bekanntgabe des Abschiebungs- oder Ausreisetermins, Geltendmachung eines weiteren Duldungsgrundes, Verhältnismäßigkeit einer Nebenbestimmung, isolierte Anfechtung einer Nebenbestimmung zur Duldung, auflösende Bedingung
Vorinstanz:
VG Würzburg, Beschluss vom 23.02.2023 – W 7 S 23.158
Fundstelle:
BeckRS 2023, 15620

Tenor

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 1.250 Euro festgesetzt.

Gründe

1
Die zulässige Beschwerde ist unbegründet.
2
Der am ... 1992 geborene, nach eigenen Angaben zum ersten Mal am 15. Juni 2017, zum zweiten Mal am 3. Dezember 2017 auf dem Landweg aus Italien kommend in das Bundesgebiet eingereiste, im Asylverfahren erfolglose (ablehnender Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge <nachfolgend BAMF> vom 14.5.2020), mit seinen am ... 2019 und ... 2021 geborenen Töchtern und der Kindsmutter (alle nigerianische Staatsangehörige; bezüglich der älteren Tochter und der Kindsmutter wurden mit Bescheiden des BAMF vom 21.4.2022 jeweils Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Nigeria festgestellt; der jüngeren Tochter wurde mit Bescheid des BAMF vom 8.3.2023 die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt) zusammenlebende Antragsteller, beninischer Staatsangehöriger, verfolgt mit der Beschwerde seinen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage auf Aufhebung der Nebenbestimmung weiter, mit der seine am 7. Dezember 2022 erteilte und bis zum 6. April 2023 gültige Duldung versehen wurde („Die Duldung erlischt mit Bekanntgabe des Abschiebungs- oder Ausreisetermins“).
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Das Verwaltungsgericht führt zur Begründung der Antragsablehnung aus, das öffentliche Vollziehungsinteresse des Antragsgegners überwiege das Suspensivinteresse des Antragstellers, weil die Klage in der Sache voraussichtlich erfolglos bleiben werde. Die Nebenbestimmung des Antragsgegners in der Duldung vom 7. Dezember 2022 werde sich voraussichtlich als rechtmäßig erweisen und die Klage damit keinen Erfolg haben. Der Antragsteller sei aufgrund des ablehnenden Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 14. Mai 2020 vollziehbar ausreisepflichtig und seine Abschiebung nach Benin sei angedroht worden. Er werde durch den Antragsgegner geduldet. Die Rechtmäßigkeit der angegriffenen Nebenbestimmung in seiner Duldung, wonach diese mit der Bekanntgabe des Abschiebungs- oder Ausreisetermins erlösche, richte sich nach § 61 Abs. 1f AufenthG. Eine Bedingung sei auch statt einem alternativ möglichen Widerruf nach § 60a Abs. 5 Satz 4 AufenthG zulässig. In diesem Sinne gehe die Kammer davon aus, dass die beigefügte Nebenbestimmung, wonach die Duldung mit Bekanntgabe des Abschiebungs- oder Ausreisetermins erlösche, sich als rechtmäßig erweisen werde. Der Antragsgegner besorge gegenwärtig einen Heimreiseschein für den Antragsteller und wolle diesen im Anschluss umgehend abschieben, ohne dass es eines Widerrufs seiner Duldung nach § 60a Abs. 5 Satz 2 AufenthG bedürfe. Dieser Wertung stehe nicht entgegen, dass der Antragsgegner das ihm eingeräumte Ermessen nach Aktenlage nicht ausgeübt habe. Insoweit bedürfe es nicht stets besonderer Erwägungen der Behörde, da sie nach § 58 Abs. 1 AufenthG grundsätzlich verpflichtet sei, den Betroffenen im Falle seiner nicht freiwilligen Ausreise möglichst umgehend nach Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht abzuschieben. Gegen das Erfordernis vertiefter Ausführungen zum Ermessen spreche vorliegend auch, dass die gleiche Nebenbestimmung bereits in vorangegangen, bereits erloschenen Duldungen des Antragstellers enthalten gewesen sei, sodass die erneute Aufnahme dieser Nebenbestimmung für ihn keine neue Beeinträchtigung seiner Rechtsposition sei. Dass die angeordnete auflösende Bedingung gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und insbesondere Art. 6 GG bzw. Art. 8 EMRK verstoße, sei nicht zu erkennen. Soweit der Antragsteller sich auf seine im Bundesgebiet aufhaltende Lebensgefährtin und die gemeinsame Tochter, die am ... 2019geboren worden sei, beziehe, folge hieraus nicht, dass eine Abschiebung des Antragstellers nach Benin zur Nachholung eines Visumverfahrens diese Vorschriften verletzen würde. Insoweit könne auf die Ausführungen des Antragsgegners in seinem Schriftsatz vom 14. Februar 2023 Bezug genommen werden. Das Visumverfahren könne von hier aus durch Buchung eines Termins vorbereitet werden. Selbst wenn es im schlechtesten Fall mehrere Monate dauern sollte, sei dem Antragsgegner zuzustimmen, dass ein zu diesem Zeitpunkt voraussichtlich fast vier Jahre altes Kind den Kontakt zu seinem Vater mittels moderner Kommunikationsmittel aufrechterhalten könne und die Abwesenheit desselben damit nicht als dauerhaft erleben dürfte. Dass bei der Lebensgefährtin und dem Kind besondere Umstände des Einzelfalls vorlägen, die eine dauerhafte Anwesenheit des Antragstellers im Bundesgebiet erforderlich machten, sei weder vorgetragen worden noch sei dies ersichtlich. Die Erteilung eines Visums zu Gunsten des Antragstellers vor dem Hintergrund seines humanitären Aufenthaltsrechts erscheine grundsätzlich möglich.
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Zur Begründung seiner Beschwerde lässt der Antragsteller vortragen, es werde darauf verwiesen, dass der Antragsteller nicht nur eine Tochter im Alter von vier Jahren habe, sondern auch eine am ... 2021 geborene zweite Tochter, die als Flüchtling anerkannt worden sei. Dass diese Tochter den Kontakt zu ihrem Vater über digitale Kommunikationsmittel aufrechterhalten könne, sei mehr als zweifelhaft. Durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge sei die familiäre Lebensgemeinschaft nicht in Frage gestellt worden. Der Antragsteller lebe mit seiner Tochter und der restlichen Familie zusammen in einer Wohnung. Nachweise über das Bestehen einer familiären Lebensgemeinschaft könnten jederzeit nachgereicht werden. Die Abschiebung des Antragstellers sei entsprechend aus rechtlichen Gründen unmöglich. Ihr stehe eine durch Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK geschützte familiäre Bindung zu seiner Tochter entgegen. Vorliegend sei die Tochter des Antragstellers zwar keine deutsche Staatsangehörige (wie im Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 9.1.2009 – 2 BvR 1064/08), allerdings sei sie als Flüchtling anerkannt. Aufgrund dessen sei es dem Antragsteller auch nicht zumutbar, die familiäre Gemeinschaft mit seiner Tochter außerhalb des Bundesgebiets zu leben. Hinsichtlich der Anforderungen an die Zumutbarkeit der Nachholung des Visumverfahrens werde auf die Ausführungen des Senats im Beschluss vom 6. Februar 2012 (Az. 19 CS 11.2613) verwiesen.
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Unabhängig davon, ob die lediglich bis zum 6. April 2023 gültige Duldung mit der angegriffenen Nebenbestimmung verlängert worden ist (im Beschwerdeverfahren ist weder vorgetragen worden, dass der Antragsteller eine Verlängerung seiner Duldung <mit der angegriffenen Nebenbestimmung> beantragt hat, noch, dass diese verlängert worden wäre) rechtfertigen die in der Beschwerdebegründung angeführten Gründe, auf deren Prüfung sich das Beschwerdegericht grundsätzlich zu beschränken hat (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), keine Abänderung der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung.
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1. Die verwaltungsgerichtliche Auffassung zur grundsätzlichen Zulässigkeit der der Duldung des Antragstellers beigefügten auflösenden Bedingung greift das Zulassungsvorbringen bereits nicht an.
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Das Verwaltungsgericht ist insoweit zu Recht davon ausgegangen, dass eine auflösende Bedingung einer Duldung gemäß § 61 Abs. 1f AufenthG (vorher § 61 Abs. 1e bzw. § 61 Abs. 1 Satz 2 AufenthG) beigefügt werden kann (BayVGH, B.v. 10.9.2008 – 19 C 08.2007 – juris Rn. 4; B.v. 18.2.2015 – 10 C 14.1117, 10 C 14.1341 – juris Rn. 25; B.v. 9.7.2019 – 10 C 18.1082 – juris Rn. 14; OVG Berlin-Bdg, B.v. 7.12.2015 – OVG 12 S 77.15 – juris Rn. 7 <„Erlischt bei Besitz eines zur Ausreise bzw. Rückführung berechtigenden Dokuments“>; OVG Hamburg, B.v. 16.11.2004 – 3 Bs 503/04 – juris Rn. 4 <„Erlischt mit Flugtermin“>; VG Göttingen, B.v. 31.01.2023 – 1 B 240/22 – juris Rn. 7 <„Die Duldung erlischt mit dem Tage der Abschiebung“>; VG Bremen, B.v. 17.12.2018 – 4 K 1052/17 – juris Rn. 24 <„Sofern eine Rückführung zu einem früheren Zeitpunkt möglich ist, erlischt die Duldung ab dem von der Ausländerbehörde bestimmten Ausreisetag“>; Hailbronner in Hailbronner, AuslR, AufenthG, § 60a Rn. 142; vgl. Funke-Kaiser in Gemeinschaftskommentar, AufenthG, Stand März 2023, § 60a Rn. 114; Dollinger in Bergmann/Dienelt, AuslR, 14. Aufl. 2022, § 60a AufenthG Rn. 67; a.A. Bruns/Hocks in Hofmann, AuslR, 3. Aufl. 2023, § 60a Rn. 76; offenlassend OVG Bremen, B.v. 29.3.2011 – 1 B 57/11, 1 B 67/11 – juris Rn. 10).
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2. Die verwaltungsgerichtlichen Ausführungen zum Ermessen greift das Beschwerdevorbringen ebenfalls nicht an.
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3. Das sich (ausschließlich) gegen die verwaltungsgerichtliche Auffassung betreffend die Verhältnismäßigkeit der auflösenden Bedingung wendende Zulassungsvorbringen rechtfertigt keine Abänderung der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung.
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Eine Nebenbestimmung i.S.d. § 61 Abs. 1f AufenthG, die zum Erlöschen der Duldung führt, entspricht dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, wenn sie geeignet und erforderlich ist, den mit ihr verfolgten Zweck zu fördern, den Ausländer schon vor Ablauf der regulären Dauer der Duldung abschieben zu können, wenn die Abschiebungshindernisse weggefallen sind (zu den früheren Normen vgl. BayVGH, B.v. 18.2.2015 – 10 C 14.1117, 10 C 14.1341 – juris Rn. 26; OVG Bremen, B.v. 29.3.2011 – 1 B 57/11 – juris Rn. 10). Dies ist vorliegend der Fall.
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Der Antragsgegner hat im Rahmen des Beschwerdeverfahrens ausgeführt, dass bereits am 19. April 2022 ein Passersatzpapierverfahren eingeleitet worden sei und Heimreisepapiere oft nur für einen kurzen Zeitraum gälten. Um den Antragsteller während der Gültigkeitsdauer der Dokumente abschieben zu können, sei es erforderlich, die Duldung des Antragstellers unverzüglich nach der Ausstellung von Heimreisepapieren durch die beninischen Behörden und dem Vorliegen der Voraussetzungen für die Abschiebung zum Erlöschen zu bringen. In Anbetracht des Umstands, dass die Duldung des Antragstellers vier Monate – vom 7. Dezember 2022 bis zum 6. April 2023 – gültig war und Heimreisedokumente durchaus deutlich kürzer gültig sein können, ist die Auffassung des Antragsgegners nachvollziehbar und insoweit nicht zu beanstanden. Anhaltspunkte für eine Unverhältnismäßigkeit der auflösenden Bedingung sind insoweit nicht ersichtlich.
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Für die Annahme der Verhältnismäßigkeit der (allein den Streitgegenstand bildenden) Nebenbestimmung ist zudem der Umstand unerheblich, dass zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt neben der tatsächlichen Unmöglichkeit der Abschiebung wegen fehlender Heimreisedokumente ein (weiterer) Duldungsgrund wegen einer möglicherweise bestehenden schützenswerten Vater-Tochter-Beziehung gegeben sein könnte (einen solchen macht das Beschwerdevorbringen gerade geltend: „[Die] Abschiebung des Beschwerdeführers ist entsprechend aus rechtlichen Gründen unmöglich.“). Die Duldung erlischt vorliegend nicht mit Eingang der Heimreisepapiere beim Antragsgegner. Vielmehr ist er (jedenfalls) mit dem Eingang der Dokumente verpflichtet, anhand der zu diesem Zeitpunkt gegebenen Umstände zu überprüfen, ob die Abschiebung (weiter) betrieben werden kann oder ob ein anderer Duldungsgrund vorliegt. Insoweit wäre – im Falle einer schutzwürdigen Vater-Kind-Beziehung – auch eine Prognose der Trennungszeit anzustellen, in die insbesondere die zu erwartende Dauer des Visumverfahrens einzubeziehen ist (die derzeitige Annahme der Dauer des Visumverfahrens von „im schlechtesten Fall mehreren Monaten“ wird insoweit wohl als nicht ausreichend konkret anzusehen sein). Erst wenn der Antragsgegner zu dem Ergebnis kommt, dass kein weiterer Duldungsgrund gegeben ist, wird die Abschiebung betrieben und in der Folge die Duldung erlöschen.
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4. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 161 Abs. 1, 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf § 53 Abs. 2 Nr. 1 und 2, § 52 Abs. 1 GKG unter Berücksichtigung der Nrn. 1.5 und 8.3 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).