Titel:
Entziehung der Fahrerlaubnis wegen Nichtbeibringung eines ärztlichen Gutachtens (Herzrhythmusstörungen, Zustand nach Schlaganfall, Gehirnschäden, Gehirnschwund, fortgeschrittene Durchblutungsstörungen) – einstweiliger Rechtsschutz
Normenketten:
VwGO § 80 Abs. 3 S. 1, Abs. 5
StVG § 3 Abs. 1 S. 1
FeV § 11 Abs. 2 S. 1, S. 3 Nr. 5, Abs. 8 S. 1, § 46 Abs. 1 S. 1, Anl. 4 Nr. 4, Nr. 6.4, Nr. 6.5
Leitsätze:
1. Das Interesse am Erlass einer Fahrerlaubnisentziehung ist bei Kraftfahrern, denen die erforderliche Eignung zum Führen eines Kraftfahrzeugs fehlt, regelmäßig mit dem Vollzugsinteresse identisch. Bei dieser häufig wiederkehrenden Sachverhaltsgestaltung, der eine typische Interessenlage zugrunde liegt, reicht es für die Begründung der Vollziehungsanordnung aus, wenn die Fahrerlaubnisbehörde die Interessenlage aufzeigt und deutlich macht, dass sie nach ihrer Auffassung auch im konkreten Fall vorliegt. Im Übrigen kommt es auf die inhaltliche Richtigkeit oder Tragfähigkeit dieser Begründung nicht an, da § 80 Abs. 3 S. 1 VwGO eine formelle und keine materielle Rechtmäßigkeitsvoraussetzung normiert (stRspr, vgl. VGH München BeckRS 2021, 24889 Rn. 22 mwN). (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)
2. Können – etwa durch einen Arztbrief – bekannt gewordene Erkrankungen den in der Anl. 4 FeV aufgezählten Erkrankungen und Mängeln zugeordnet werden, die typischerweise die Fahreignung für längere Zeit beeinträchtigen oder sogar aufheben können und daher die Vermutung der Fahreignungsrelevanz gleichsam in sich tragen bzw. hinreichenden Anlass zu Fahreignungszweifeln bieten, besteht für die Fahrerlaubnisbehörde zunächst Anlass, die Fahreignungsrelevanz der bekannt gewordenen Erkrankungen weiter aufzuklären; dabei obliegt es dem Betroffenen, ggf. besondere Umstände in seiner Person, die ein Abweichen von der Regelvermutung rechtfertigen sollen, schlüssig darzulegen und ggf. nachzuweisen (stRspr, vgl. VGH München BeckRS 2023, 979 Rn. 15 mwN). (Rn. 21 – 24) (redaktioneller Leitsatz)
3. Der Schluss von einer unzureichenden Mitwirkung des Fahrerlaubnisinhabers an der Aufklärung seiner Erkrankungen auf seine fehlende Fahreignung liegt nicht im Ermessen der Fahrerlaubnisbehörde. Trotz der Verwendung des Wortes "darf" eröffnet § 11 Abs. 8 S. 1 FeV keinen Ermessensspielraum, sondern enthält einen Grundsatz der Beweiswürdigung, der auf der Überlegung beruht, dass eine grundlose Verweigerung einer Begutachtung zu der Vermutung berechtigt, der Fahrerlaubnisinhaber wolle einen ihm bekannten Eignungsmangel verbergen, sodass ein Eignungsmangel durch die Weigerung zur Vorlage des angeforderten Gutachtens als nachgewiesen gilt (stRspr, vgl. VGH München BeckRS 2021, 33594 Rn. 15 mwN). Die daran anknüpfende Entziehung der Fahrerlaubnis ist zum Schutz von Leben und Gesundheit der anderen Verkehrsteilnehmer zwingend und verhältnismäßig. (Rn. 17 und 28) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Entziehung der Fahrerlaubnis wegen Nichtbeibringung eines ärztlichen Gutachtens, sofortige Vollziehung, Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör, Ermessensfehler, Herzrhythmusstörungen, Zustand nach Schlaganfall, Gehirnschäden, Gehirnschwund, fortgeschrittene Durchblutungsstörungen mangelnde Mitwirkung an der Aufklärung der Fahreignungszweifel, Angewiesenheit auf die Fahrerlaubnis, Verwirkung wegen Zeitablaufs, Streitwert für die Klassen 1 und 3 (alt), Begründung der Vollziehungsanordnung, typische Interessenlage, formelle Rechtmäßigkeitsvoraussetzung, Erkrankung nach Anlage 4 zur FeV, Vermutung der Fahreignungsrelevanz, Aufklärungsanlass, unzureichende Mitwirkung, Schluss auf fehlende Fahreignung, Grundsatz der Beweiswürdigung
Vorinstanz:
VG Ansbach, Beschluss vom 07.12.2022 – AN 10 S 22.1960
Fundstelle:
BeckRS 2023, 15598
Tenor
I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Der Streitwert wird unter Abänderung der Nummer 3. des Beschlusses des Verwaltungsgerichts vom 7. Dezember 2022 für beide Rechtszüge auf jeweils 7.500,- EUR festgesetzt.
Gründe
1
Der Antragsteller wendet sich gegen die sofortige Vollziehbarkeit der Entziehung der ihm am ... 1958 erteilten Fahrerlaubnis der Klassen 1 und 3 (alt).
2
Durch Arztbrief einer internistischen Klinik vom 30. Juni 2021 wurde dem Landratsamt A. bekannt, dass beim Antragsteller u.a. nach einem Schlaganfall Gehirnschäden, fortgeschrittene Durchblutungsstörungen und Gehirnschwund sowie neben einem Verdacht auf subakute Mitralklappenendokarditis auch Herzrhythmusstörungen (paroxysmales Vorhofflimmern) diagnostiziert worden sind.
3
Daraufhin forderte ihn das Landratsamt zur Stellungnahme bis 16. September 2021 auf. Mit Schreiben seines Bevollmächtigten vom 9. Oktober 2021 ließ der Antragsteller vortragen, es bestehe kein Einverständnis mit dem behördlichen Vorgehen. Er sei mit 82 Jahren absolut in der Lage, ein Fahrzeug verkehrssicher und ordnungsgemäß zu führen. Die Ärzte hätten ihm mündlich bestätigt, dass er auch vor einer Herzklappenoperation in der Lage sei zu fahren. Eine Überprüfung der Fahreignung sei übertrieben und nicht notwendig.
4
Mit Schreiben vom 8. März 2022 forderte ihn das Landratsamt auf, bis 22. März 2022 ein Attest des behandelnden Arztes zu den vorliegenden Erkrankungen und den damit einhergehenden körperlichen und geistigen Symptomen vorzulegen.
5
Dies ließ der Antragsteller mit Schreiben seines Bevollmächtigten vom 22. März 2022 ablehnen und weiter mitteilen, dass er schon seit einiger Zeit nicht mehr gefahren sei.
6
Mit Schreiben vom 31. März 2022 forderte ihn das Landratsamt wegen der von der Klinik gestellten Diagnosen zur Beibringung eines ärztlichen Gutachtens zu Erkrankungen nach Nr. 4, 6.4 und 6.5 der Anlage 4 zur FeV und zu damit zusammenhängenden medizinischen Fragen bis 27. Mai 2022 auf.
7
Eine Begutachtungsstelle benannte der Antragsteller in der Folge nicht. Am 20. Mai 2022 teilte er dem Landratsamt telefonisch mit, er habe die letzten Tage im Krankenhaus verbracht. Der ihn behandelnde Facharzt für Allgemeinmedizin teilte am 1. Juni 2022 telefonisch mit, der Antragsteller sei vom 10. bis 12. Mai 2022 stationär im Krankenhaus behandelt worden; ihm sei es auch an den Tagen bzw. Wochen danach nicht möglich gewesen, länger außer Haus zu sein. Außerdem benötige er aufgrund der Grunderkrankungen und des Alters jemanden, der ihm die Schreiben des Landratsamts und deren Inhalte langsam und verständlich erkläre. Der Antragsteller legte ein ärztliches Attest vom 31. Mai 2022 vor, wonach er wegen einer akut aufgetretenen Erkrankung mit stationärer Behandlung den „Gerichtstermin“ am 27. Mai 2022 nicht habe wahrnehmen können.
8
Im Anhörungsverfahren zur Entziehung der Fahrerlaubnis zeigte sich der Antragsteller mit einer Beschränkung seiner Fahrerlaubnis auf 15 km rund um seinen Wohnort einverstanden.
9
Mit Bescheid vom 4. August 2022 entzog das Landratsamt dem Antragsteller gestützt auf § 11 Abs. 8 FeV die Fahrerlaubnis, gab ihm unter Androhung eines Zwangsgelds auf, den Führerschein spätestens innerhalb einer Woche ab Zustellung des Bescheids beim Landratsamt abzugeben, und ordnete die sofortige Vollziehung dieser Verfügungen an.
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Am 5. September 2022 ließ der Antragsteller beim Verwaltungsgericht Ansbach Anfechtungsklage erheben und die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes beantragen.
11
Mit Beschluss vom 7. Dezember 2022 lehnte das Verwaltungsgericht den Antrag gemäß § 80 Abs. 5 VwGO mit der Begründung ab, das Landratsamt habe die Anordnung des Sofortvollzugs ordnungsgemäß begründet, zu Recht die Beibringung eines ärztlichen Gutachtens angeordnet und nach dessen Nichtbeibringung auf der Grundlage von § 11 Abs. 8 FeV die Fahrerlaubnis entzogen. Die auf § 11 Abs. 2 FeV gestützte Beibringungsaufforderung sei rechtmäßig gewesen, denn der Fahrerlaubnisbehörde seien zum Zeitpunkt der Anordnung konkrete Tatsachen bekannt gewesen, die auf Erkrankungen nach Anlage 4 der FeV hinwiesen hätten. Nach dem Arztbrief habe der Antragsteller an verschiedenen Erkrankungen des Herzens (u.a. Vorhofflimmern) und des Nervensystems (Hirnsubstanzinvolution) gelitten. Dabei handle es sich um Erkrankungen, die in Nr. 6 (Krankheiten des Nervensystems) sowie Nr. 4 (Herz- und Gefäßkrankheiten) der Anlage 4 zur FeV aufgelistet seien. Die Vorlage ärztlicher Atteste über die Auswirkungen und Symptome seiner Krankheit habe der Antragsteller verweigert. Die Fahrerlaubnisbehörde habe daher nur über ein ärztliches Gutachten den Zweifeln an seiner Fahreignung nachgehen können. Auch formell sei die Anordnung rechtmäßig gewesen. Insbesondere sei nicht davon auszugehen, dass das Gutachten aus Zeitmangel nicht vorgelegt worden sei. Zwar sei der Antragsteller nach seinen Angaben vom 10. bis 12. Mai 2022 stationär behandelt worden und danach nur eingeschränkt mobil sowie am Tag des Fristablaufs akut erkrankt gewesen. Allerdings habe er weder vor dem Krankenhausaufenthalt noch bis zum Fristablauf eine Begutachtungsstelle benannt und keine Fristverlängerung beantragt. Es sei nicht ersichtlich, dass ihm dies nicht möglich gewesen wäre. Die Fragestellung sei anlassbezogen und verhältnismäßig gewesen. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verbiete es grundsätzlich, zu weit gefasste Fragestellungen zum Gegenstand der Untersuchung zu machen. Da der Antragsteller jedoch keine ärztlichen Unterlagen vorgelegt habe, hätten die im Arztbrief genannten Diagnosen, die Zweifel an seiner Fahreignung hervorgerufen hätten, vorab nicht weiter aufgeklärt werden können. Die vom Antragsteller vorgeschlagene Auflage käme als milderes Mittel erst dann in Frage, wenn abschließend hätte geklärt werden können, inwieweit die Fahreignung durch Auflagen oder Beschränkungen (bedingt) hergestellt werden könne. Die Fahrerlaubnisbehörde habe ihr Ermessen ordnungsgemäß ausgeübt. Ermessenfehler seien nicht ersichtlich.
12
Mit seiner Beschwerde, der der Antragsgegner entgegentritt, bemängelt der Antragsteller, das Verwaltungsgericht habe seinen Vortrag, insbesondere aus der Klageschrift, nicht hinreichend berücksichtigt, darunter, dass das Landratsamt fast ein Jahr lang nichts unternommen habe und er über viele Monate hinweg weiterhin beanstandungsfrei am Straßenverkehr habe teilnehmen können. Insofern sei das rechtliche Gehör verletzt worden. Auch die Stellungnahmen gegenüber dem Landratsamt seien nicht hinreichend berücksichtigt worden. Das Verwaltungsgericht verkenne, dass tatsächlich ein Ermessen bestanden habe. Insofern sei von einem Ermessensnichtgebrauch bzw. -fehlgebrauch auszugehen. Nach dem Gesetz dürfe die sofortige Vollziehung auch bei der Entziehung von Fahrerlaubnis nur ausnahmsweise angeordnet werden. Es sei auf jeden Fall eine Einzelfallbetrachtung vorzunehmen. Eine Interessenabwägung nehme das Gericht jedoch nicht vor. Es unterstelle vielmehr unzutreffend und nicht nachvollziehbar, dass der Antragsteller ein ungeeigneter Kraftfahrer sei. Die Verkehrssicherheit sei nicht beeinträchtigt (gewesen). Die Entziehung der Fahrerlaubnis stelle eine unzumutbare Härte dar, da der Antragsteller dringend auf sie angewiesen sei, z.B. für Einkäufe und Fahrten zu Ärzten. Auch zur ordnungsgemäßen Interessenabwägung durch das Landratsamt fehlten Ausführungen. Eine Beeinträchtigung öffentlicher Belange sei nicht anzunehmen. Deshalb sei die Entziehung der Fahrerlaubnis auch nicht wegen des öffentlichen Interesses erforderlich. Eine Gefährdung der Verkehrssicherheit durch den Antragsteller werde zu Unrecht angenommen. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz werde nicht hinreichend beachtet. Die Güterabwägung sei fehlerhaft. Die Belange des Antragstellers überwögen. Dem Antragsgegner sei es zuzumuten, den Ausgang des Gerichtsverfahrens abzuwarten. Ein Zusammenhang etwaiger gesundheitlicher Beeinträchtigung mit einer Teilnahme am Straßenverkehr sei nicht gegeben. Es werde nicht behauptet und bewiesen, dass der Antragsteller in einem Zustand am Straßenverkehr teilgenommen habe, welcher Gefährdungen impliziere. Das Verwaltungsgericht verkenne, dass die Anordnung der sofortigen Vollziehung rechtswidrig sei. Auch soweit das Landratsamt davon ausgehe, dass die Fahrerlaubnis zwingend zu entziehen sei, verkenne es die Rechtslage. Die Vorgaben der Anlage 4 zur FeV würden nur für den Regelfall gelten. Das Landratsamt und das Verwaltungsgericht hätten jedoch nicht hinreichend dargelegt, dass ein solcher vorliege. Die Anordnung eines ärztlichen Gutachtens sei nicht rechtmäßig gewesen. Es sei nicht festgestellt worden, dass der Antragsteller einen Verkehrsverstoß begangen habe, der eine Entziehung der Fahrerlaubnis zufolge hätte haben können und dürfen. Auch sei entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts die Fragestellung zu weit gefasst. Der Antragsteller habe ein ärztliches Gutachten über seine Fahreignung vorlegen sollen, ohne dass weitere Konkretisierungen erfolgt seien. Zudem sei die Fragestellung zum Teil fehlerhaft (z.B. „Nachtuntersuchung“). Das Landratsamt habe aus der Nichtvorlage eines Fahreignungsgutachtens hier nicht auf eine fehlende Fahreignung des Antragstellers schließen dürfen. Auch der Zeitablauf spreche für ein Überwiegen der Belange des Antragstellers. Zwischen dem Arztbrief vom 30. Juni 2021 und dem Entziehungsbescheid vom 4. August 2022 liege mehr als ein Jahr. Das Landratsamt habe erst mit Schreiben vom 31. März 2022 auf den Arztbrief reagiert, also fast ein Jahr lang nichts unternommen. Für die Verwaltungsbehörde stelle es also offensichtlich kein Problem dar, den Antragsteller über viele Monate hinweg weiterhin am Straßenverkehr teilnehmen zu lassen. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeit wären ggf. Auflagen als milderes Mittel anzuordnen gewesen, z.B. eine Beschränkung der Fahrerlaubnis auf einen Umkreis von 15 km um seinen Wohnort. Es überzeuge nicht, wenn das Gericht darauf abhebe, dass vor einer etwaigen Auflagenbestimmung die Fahreignung geklärt werden müsse. Darüber hinaus beruhten die Entscheidungen der Behörde und des Gerichts auf einer Verletzung des rechtlichen Gehörs. Das Landratsamt habe insbesondere die Stellungnahme vom 28. Juni 2022 nicht beachtet. Die sofortige Vollziehung habe ebenso wenig angeordnet werden dürfen wie die Androhung unmittelbaren Zwangs.
13
Wegen des weiteren Sach- und Streitstands wird auf die Gerichts- und Behördenakten Bezug genommen.
14
Die zulässige Beschwerde ist unbegründet.
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Aus den im Beschwerdeverfahren vorgetragenen Gründen, auf deren Prüfung der Verwaltungsgerichtshof beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Sätze 1 und 6 VwGO), ergibt sich nicht, dass die Entscheidung des Verwaltungsgerichts zu ändern oder aufzuheben wäre.
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1. Die Einwände gegen die Anordnung der sofortigen Vollziehung und deren behördliche Begründung gemäß § 80 Abs. 3 VwGO, die das Verwaltungsgericht unter Verweis auf die ständige Rechtsprechung für rechtmäßig erachtet hat, greifen nicht durch. Die Interessenabwägung des Verwaltungsgerichts hat sich am voraussichtlichen Ausgang der Hauptsache orientiert und ist zu Lasten des Antragstellers ausgefallen, weil die Klage aus materiellen Gründen keine Aussicht auf Erfolg hat (siehe 2.) und der sofortige Ausschluss des Antragstellers von der Teilnahme am Straßenverkehr wegen der ihm fehlenden Fahreignung besonders dringlich ist (vgl. Schoch in Schoch/Schneider, VwGO, Stand August 2022, § 80 Rn. 387). Dem Verwaltungsgericht ist insoweit kein Ermessensfehler unterlaufen. Die Rechtmäßigkeit der Vollzugsanordnung hängt nicht von der zahlenmäßigen Einhaltung eines quantifizierbaren Regel-Ausnahme-Modells ab, sondern von der Beachtung der gesetzlichen Voraussetzungen (Schoch, a.a.O. § 80 Rn. 29, 228). Wenn es auf einem bestimmten Gebiet zur regelmäßigen oder häufigen Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit kommt, ist dies nicht per se rechtswidrig (Schoch, a.a.O. § 80 Rn. 228).
17
Sachlicher Grund für die Anordnung der sofortigen Vollziehung war die zu vermutende fehlende Fahreignung des Antragstellers, die das Landratsamt – anders als er meint – nicht unterstellt hat, sondern auf die es gemäß § 11 Abs. 8 Satz 1 der Verordnung über die Zulassung von Personen zum Straßenverkehr vom 13. Dezember 2010 (Fahrerlaubnis-Verordnung – FeV, BGBl I S. 1980), im maßgeblichen Zeitpunkt des Bescheiderlasses zuletzt geändert durch Gesetz vom 16. März 2020 (BGBl I S. 497), wegen seiner unzureichenden Mitwirkung an der Aufklärung seiner Erkrankungen schließen durfte (siehe 2.). Der Schluss gemäß § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV liegt nach ständiger obergerichtlicher Rechtsprechung nicht im Ermessen der Fahrerlaubnisbehörde (vgl. BayVGH, B.v. 28.10.2021 – 21.2148 – juris Rn. 15 m. zahlreichen w.N.; siehe auch S. 9 des angefochtenen Gerichtsbeschlusses). Trotz der Verwendung des Wortes „darf“ eröffnet § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV keinen Ermessensspielraum, sondern enthält einen Grundsatz der Beweiswürdigung, der auf der Überlegung beruht, dass eine grundlose Verweigerung einer Begutachtung die Vermutung berechtigt, der Fahrerlaubnisinhaber wolle einen ihm bekannten Eignungsmangel verbergen, sodass ein Eignungsmangel durch die Weigerung zur Vorlage des angeforderten Gutachtens als nachgewiesen gilt (vgl. BayVGH, a.a.O.).
18
Die dringende Angewiesenheit des Betroffenen auf die Fahrerlaubnis rechtfertigt es nach ständiger obergerichtlicher Rechtsprechung nicht, einen ungeeigneten Fahrerlaubnisinhaber (vorläufig noch) am öffentlichen Straßenverkehr teilnehmen zu lassen. Es ist anerkannt, dass durch die Teilnahme ungeeigneter Kraftfahrer am Straßenverkehr besondere Gefahren drohen, und auch verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass dem Schutz der Allgemeinheit vor Verkehrsgefährdungen besonderes Gewicht gegenüber den Nachteilen zukommt, die einem betroffenen Fahrerlaubnisinhaber in beruflicher oder in privater Hinsicht entstehen (BVerfG, B.v. 19.7.2007 – 1 BvR 305/07 – juris Rn. 6; B.v. 15.10.1998 – 2 BvQ 32/98 – DAR 1998, 466 = juris Rn. 5, zu einer vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 111a StPO). Entgegen der Auffassung des Antragstellers werden die der Allgemeinheit drohenden Gefahren durch einen ungeeigneten Fahrerlaubnisinhaber nicht dadurch widerlegt, dass er vor und während des Verfahrens beanstandungsfrei am Straßenverkehr teilnehmen konnte. Dagegen spricht schon die geringe Kontrolldichte im Straßenverkehr (vgl. BayVGH, B.v. 11.7.2022 – 11 CS 22.939 – DAR 2022, 648 Rn. 21 m.w.N.), die fehlende Nachprüfbarkeit einer tatsächlichen Verkehrsteilnahme bzw. ihres Umfangs und der Umstand, dass sich vom Fahrerlaubnisinhaber ausgehende Gefahren im Straßenverkehr möglicherweise auch wegen der Umsicht anderer Verkehrsteilnehmer im Einzelfall nicht realisieren. Daher ist das Erlassinteresse bei Kraftfahrern, denen die erforderliche Eignung zum Führen eines Kraftfahrzeugs fehlt, regelmäßig mit dem Vollzugsinteresse identisch (vgl. BayVGH, B.v. 30.11.2022 – 11 CS 22.2195 – juris Rn. 24, B.v. 31.8.2021 – 11 CS 21.1631 – juris Rn. 22 m.w.N.; Hoppe in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 80 Rn. 55, 46). Bei dieser häufig wiederkehrenden Sachverhaltsgestaltung, der eine typische Interessenlage zugrunde liegt, reicht es aus, wenn die Fahrerlaubnisbehörde die Interessenlage aufzeigt und deutlich macht, dass sie nach ihrer Auffassung auch im konkreten Fall vorliegt (stRspr, vgl. BayVGH, B.v. 30.11.2022, B.v. 31.8.2021 jeweils a.a.O.). Dies ist der Begründung der Vollzugsanordnung durchaus zu entnehmen. Im Übrigen kommt es auf die inhaltliche Richtigkeit oder Tragfähigkeit dieser Begründung nicht an, da § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO eine formelle und keine materielle Rechtmäßigkeitsvoraussetzung normiert (vgl. Schoch, a.a.O. § 80 Rn. 246; Hoppe, a.a.O. Rn. 54 f.; Bostedt in Fehling/Kastner/Störmer, Verwaltungsrecht, 5. Aufl. 2021, § 80 Rn. 81).
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2. Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 des Straßenverkehrsgesetzes vom 5. März 2003 (StVG, BGBl I S. 310), im maßgeblichen Zeitpunkt des Bescheiderlasses zuletzt geändert durch das Gesetz vom 15. Januar 2021 (BGBl I S. 530), in Kraft getreten zum 1. Mai 2022, und § 46 Abs. 1 Satz 1 FeV hat die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sich ihr Inhaber als ungeeignet oder nicht befähigt zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist. Werden Tatsachen bekannt, die Bedenken begründen, dass der Inhaber einer Fahrerlaubnis zum Führen eines Kraftfahrzeugs ungeeignet oder bedingt geeignet ist, finden die §§ 11 bis 14 FeV entsprechend Anwendung (§ 46 Abs. 3 FeV). Nach § 11 Abs. 2 Satz 1 FeV kann die Fahrerlaubnisbehörde die Beibringung eines ärztlichen Gutachtens, unter anderem ein Gutachten eines Arztes einer amtlich anerkannten Begutachtungsstelle (§ 11 Abs. 2 Satz 3 Nr. 5 FeV), anordnen, wenn Tatsachen bekannt werden, die Bedenken gegen die körperliche oder geistige Eignung des Fahrerlaubnisinhabers begründen. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn Erkrankungen oder Mängel nach Anlagen 4 oder 5 zur FeV bekannt geworden sind. Weigert sich der Betroffene, sich untersuchen zu lassen, oder bringt er das geforderte Gutachten nicht fristgerecht bei, darf nach § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV auf die Nichteignung geschlossen werden. Der Schluss auf die Nichteignung ist allerdings nur zulässig, wenn die Anordnung der Begutachtung formell und materiell rechtmäßig, insbesondere anlassbezogen und verhältnismäßig ist (stRspr, vgl. BVerwG, U.v. 17.11.2016 – 3 C 20.15 – BVerwGE 156, 293 = juris Rn. 19).
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2.1. Der angefochtene Entziehungsbescheid vom 4. August 2022 leidet nicht an formellen Fehlern. Insbesondere hat das Landratsamt nicht das Recht des Antragstellers auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt. Vielmehr hat es ihn mit Schreiben vom 1. Juni 2022 gemäß Art. 28 Abs. 1 BayVwVfG angehört. Von der Gelegenheit zur Stellungnahme hat der Antragsteller auch persönlich und mit Schreiben seines Bevollmächtigten vom 28. Juni 2022 Gebrauch gemacht. Darin, dass die Behörde nicht dem Vorbringen des Betroffenen folgt, liegt keine Verletzung des rechtlichen Gehörs. Nach diesem in Art. 103 Abs. 1 GG verankerten Grundsatz ist sie vielmehr verpflichtet, die Ausführungen des Betroffenen zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen, ohne jedoch gehalten zu sein, sich mit jedem Vorbringen in den Gründen der Entscheidung ausdrücklich zu befassen oder diesem zu folgen (vgl. BayVGH, B.v. 19.4.2022 – 11 CS 21.3010 – juris Rn. 15; B.v. 23.7.2021 – 11 CS 21.515 – juris Rn. 28 jeweils m.w.N. auf die stRspr), insbesondere, wenn es sich nicht um entscheidungserhebliches Vorbringen handelt. Dazu gehört hier der Einwand, der Antragsteller sei auf seine Fahrerlaubnis dringend angewiesen. Hierauf kommt es weder im Zusammenhang mit der Anordnung des ärztlichen Gutachtens an noch bei der Anwendung von § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV, bei der der Fahrerlaubnisbehörde – wie dargelegt – kein Ermessen zukommt. Ist nach § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV zu vermuten, dass die Fahreignung entfallen ist, spielt es zudem keine Rolle, ob Hinweise auf konkrete Vorfälle im Straßenverkehr vorliegen oder darauf, ob der Antragsteller einen Verkehrsverstoß begangen oder das Fahrzeug in fahruntüchtigem Zustand geführt hat. Ist bei einem Fahrerlaubnisinhaber von fehlender Fahreignung auszugehen, bedarf es keiner weiteren Belege dafür, dass er die Verkehrssicherheit gefährdet. Auch dies war somit ein nicht entscheidungserheblicher Einwand.
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2.2. Die durch den Arztbrief bekannt gewordenen Erkrankungen (Gehirnschäden, fortgeschrittene Durchblutungsstörungen und Gehirnschwund nach Schlaganfall sowie Herzrhythmusstörungen) können insbesondere den Nr. 4 (Herz- und Gefäßkrankheiten) und Nr. 6.4 (kreislaufabhängige Störungen der Hirntätigkeit) der Anlage 4 zur FeV zugeordnet werden und boten damit hinreichenden Anlass zu Fahreignungszweifeln. Da Näheres nicht bekannt war, kamen ferner noch Erkrankungen nach Nr. 6.5 der Anlage 4 zur FeV (Zustände nach Hirnverletzungen und Hirnoperationen, angeborene und frühkindliche erworbene Hirnschäden) in Betracht. Nachdem diese Erkrankungen nur unter bestimmten in der Anlage 4 zur FeV näher festgelegten Voraussetzungen zum (völligen) Wegfall der Fahreignung führen und dem Arztbrief lediglich die Diagnosen, nicht aber die damit einhergehenden körperlichen und geistigen Symptome zu entnehmen waren, der Antragsteller zudem mitteilte, er werde sich einer Operation an den Herzklappen unterziehen, bestand insoweit zunächst Aufklärungsbedarf. Demgemäß hat das Landratsamt mit Schreiben vom 2. September 2021 und 8. März 2022 versucht, die Fahreignungsrelevanz der bekannt gewordenen Erkrankungen weiter aufzuklären, was an der verweigerten Mitwirkung des Antragstellers gescheitert ist.
22
Nach Vorbemerkung 1 zur Anlage 4 zur FeV können die dort aufgezählten Erkrankungen und Mängel typischerweise die Fahreignung für längere Zeit beeinträchtigen oder sogar aufheben. Daher tragen sie die Vermutung der Fahreignungsrelevanz gleichsam in sich (vgl. OVG NW, U.v. 30.3.2015 – 16 A 1741/13 – juris Rn. 32). Die Behauptungen, vom Antragsteller gehe keine Gefährdung der Verkehrssicherheit aus und es bestehe kein Zusammenhang zwischen den gesundheitlichen Beeinträchtigungen und einer Teilnahme am Straßenverkehr, können deshalb nicht verfangen.
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Leidet ein Fahrerlaubnisinhaber unter Herzrhythmusstörungen, die anfallsweise zu wiederholter Unterbrechung der Blutversorgung des Gehirns und damit zu Synkopen führen, ist er aus medizinischer Sicht (vgl. Nr. 3.4 der Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung in Schubert/Huetten/Reimann/Graw, Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung, 3. Aufl. 2018, S. 126, die nach Anlage 4a zur FeV Grundlage für die Eignungsbeurteilung sind) nicht in der Lage, den gestellten Anforderungen zum Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppen 1 und 2 gerecht zu werden. Grundlage der Beurteilung sollte in jedem Fall eine eingehende internistische-kardiologische Untersuchung (einschließlich 24-Stunden-Langzeit-EKG, eventuell Einsatz eines Ereignisrekorders) sein. Auch wer an den Folgen einer Hirnischämie (Verminderung oder Unterbrechung der Durchblutung) leidet, ist bei Vorliegen relevanter neurologischer und/oder neuropsychologische Ausfälle nicht in der Lage, den gestellten Anforderungen zum Führen von Kraftfahrzeugen beider Gruppen gerecht zu werden (vgl. Nr. 3.9.4 der Begutachtungsleitlinien, a.a.O. S. 179). Nach den Begutachtungsleitlinien ist mit kreislaufabhängigen Störungen der Hirntätigkeit eine erhöhte Gefährdung verbunden. Selbst wenn bei intermittierendem Verlauf die Leistungsfähigkeit nicht sofort erheblich beeinträchtigt ist, besteht doch die Gefahr eines hirnorganischen Zwischenfalls (z.B. transitorische Attacken, Apoplexie [Schlaganfall]) sowie einer Verschlechterung des Grundleidens. Für die Beurteilung ist daher die Feststellung des Grundleidens wichtig. Darum müssen vor einer Eignungsbeurteilung gesicherte, durch klinische Untersuchungen erhobene Befunde vorliegen. Erst wenn sich ergibt, dass im Einzelfall die allgemeine Prognose des Krankheitsverlaufs und insbesondere der Wiederholungsgefahr als günstig anzusehen ist, kann – sofern nicht transitorische Attacken vorliegen – die Untersuchung auf spezifische Leistungsausfälle durch eine neurophysiologische Überprüfung sinnvoll erscheinen (Schubert/Huetten/Reimann/Graw, a.a.O.).
24
2.3. Vor diesem Hintergrund waren keine Gesichtspunkte für eine vom Regelfall abweichende Betrachtung im Sinne der Vorbemerkung 3 der Anlage 4 zur FeV erkennbar, die dem Landratsamt oder dem Verwaltungsgericht hätten Anlass geben müssen, hierauf einzugehen. Im Übrigen hätte es dem Antragsteller oblegen, besondere Umstände in seiner Person, die ein Abweichen von der Regelvermutung hätten rechtfertigen sollen, schlüssig darzulegen und ggf. nachzuweisen (stRspr, vgl. BayVGH, B.v. 30.1.2023 – 11 CS 22.2596 – juris Rn. 15 m.w.N.), insbesondere als das Landratsamt bzw. das Gericht, von dem Arztbrief vom 30. Juni 2021 abgesehen, keinen Einblick in seine körperliche Verfassung und seinen persönlichen Lebensbereich hatten bzw. haben konnten.
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2.4. Schließlich war auch die an den ärztlichen Gutachter gerichtete Fragestellung nicht zu weit gefasst. Das Landratsamt hat unter Aufzählung der in dem Arztbrief aufgeführten Diagnosen und entsprechend zugeordneter Nummern der Anlage 4 zur FeV um Klärung der Fahreignung gebeten und dabei übliche medizinische Zusatzfragen nach der Adhärenz, etwa erforderlichen Auflagen zur bzw. Beschränkungen der Fahrerlaubnis und ggf. erforderlichen Nachuntersuchungen gestellt (Beibringungsanordnung, S. 4). Die Behauptung, es seien keine hinreichenden Konkretisierungen erfolgt, trifft somit nicht zu. Gegenstand und Umfang der Begutachtung waren damit festgelegt. Unschädlich ist, dass der Gutachter die endgültige Zuordnung der festgestellten Erkrankung unter eine bestimmte Unternummer der Anlage 4 zur FeV erst aufgrund der Untersuchungsbefunde vornehmen sollte.
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Bei dem bemängelten Ausdruck „Nachtuntersuchung“ handelt es sich um einen für jedermann offenbaren und nach dem Rechtsgedanken des Art. 42 Satz 1 BayVwVfG jederzeit korrigierbaren Schreibfehler. Der Ausdruck konnte im Hinblick auf den Klammerzusatz „erneute (Nach-)Begutachtung“ weder beim Antragsteller noch bei dem begutachtenden Arzt Zweifel am Inhalt der Aussage aufwerfen.
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2.5. Bei der auf § 11 Abs. 2 Satz 1 FeV gestützten Anordnung des ärztlichen Gutachtens vom 31. März 2022 ist auch kein Ermessensfehler ersichtlich. Ob die Anordnung einer Aufklärungsmaßnahme erforderlich ist, entscheidet die Fahrerlaubnisbehörde nach pflichtgemäßem Ermessen (Dauer in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 47. Aufl. 2023, § 11 Rn. 24a). Hier hat das Landratsamt gesehen, dass Ermessen auszuüben war, und dieses zweckgerecht (Art. 40 BayVwVfG) zum Schutz von Rechten Dritter von erheblichem Gewicht ausgeübt. Im Rahmen der Abwägung leuchtet es ohne weiteres ein, dass der Schutz elementarer Rechte wie Leib und Leben nicht vom Interesse des Antragstellers abhängen kann, von Aufklärungsmaßnahmen verschont zu bleiben; zumal „nach dem aufgeführten und beurteilten Sachverhalt“ schwerwiegende Erkrankungen im Raum standen und der Antragsteller es in der Hand gehabt hätte, durch Vorlage weiterer aussagekräftiger ärztlicher Zeugnisse die Beibringungsanordnung ggf. zu vermeiden. Demgemäß durfte das Landratsamt weiter davon ausgehen, dass die Anordnung eines ärztlichen Gutachtens vorliegend die einzig erfolgsversprechende Aufklärungsmaßnahme war.
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2.6. Da nach § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV davon auszugehen ist, dass dem Antragsteller die Fahreignung fehlt, ist die daran anknüpfende Entziehung der Fahrerlaubnis zum Schutz von Leben und Gesundheit der anderen Verkehrsteilnehmer zwingend und verhältnismäßig. Im Hinblick auf den hohen Rang dieser Rechtsgüter haben das Mobilitätsbedürfnis des Antragstellers und die Bedeutung der Fahrerlaubnis für seine Lebensführung dahinter zurückzustehen (vgl. BayVGH, B.v. 23.2.2023 – 11 CS 22.2649 – juris Rn. 23). Auch eine ortsbezogene Kilometer-Beschränkung wäre nur dann in Betracht gekommen, wenn eine Fahreignung für kurze Strecken hätte festgestellt werden können.
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2.7. Aufgrund des zeitlichen Abstands zwischen dem Eingang des Arztbriefs vom 30. Juni 2021 und dem Erlass des Bescheids am 4. August 2022 hat das Landratsamt seine Befugnis zur Entziehung der Fahrerlaubnis auch nicht etwa verwirkt. Abgesehen davon, dass schon sehr zweifelhaft ist, ob dieses Rechtsinstitut im Rahmen sicherheitsrechtlicher Befugnisse, die nicht im Ermessen der Behörde stehen, überhaupt anzuwenden ist (vgl. BayVGH, B.v. 5.1.2022 – 11 CS 21.2743 – juris Rn. 21 m.w.N.), hat der Antragsgegner zutreffend darauf hingewiesen, dass die Fahrerlaubnisbehörde vorliegend nicht inaktiv war, sondern ermittelt und ein gestuftes Verfahren durchgeführt hat, an dem der Antragsteller nicht mitgewirkt hat. Damit fehlt es an Umständen, die zum Verstreichen eines längeren Zeitraums (Zeitmoment) hinzukommen müssen und ein schutzwürdiges Vertrauen darauf begründen könnten, dass die Behörde auch künftig von ihrer Befugnis keinen Gebrauch machen werde (vgl. BVerwG, B.v. 11.9.2018 – 4 B 34.18 – BauR 2019,511 Rn. 15 m.w.N.).
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3. Nach allem war die Beschwerde mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 2 VwGO zurückzuweisen.
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4. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1, 2 GKG i.V.m. den Empfehlungen in Nr. 1.5 Satz 1, Nr. 46.1, 46.3 und 46.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013. Die Befugnis zur Abänderung des Streitwertbeschlusses in der Rechtsmittelinstanz von Amts wegen folgt aus § 63 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 GKG. Nach Abschnitt A.I. lfd. Nr. 3 und 17 der Anlage 3 zur FeV umfasste die dem Antragsteller entzogene Fahrerlaubnis die Klassen A, A2, A1, AM, L, B, BE, C1, C1E und CE. Zwar wirkt sich die von der Fahrerlaubnisklasse 3 (alt) mitumfasste Klasse A (anders als die ebenfalls mitumfasste, mit der Schlüsselzahl 79.5 versehene Klasse A1) nicht streitwerterhöhend aus, weil sie nach der Anlage 3 zur FeV durch die Schlüsselzahlen 79.03 und 79.04 der Anlage 9 (Nr. 53 und 54: Begrenzung auf dreirädrige Fahrzeuge und Fahrzeugkombinationen) eingeschränkt ist. Da die vom Antragsteller erworbene Klasse 1 (alt), die die Klasse 1a einschließt und der heutigen Klasse A einschließlich Unterklassen entspricht, jedoch nicht derart beschränkt ist, ist hierfür nochmals der Auffangwert anzusetzen. Für den Streitwert maßgeblich sind somit die Klassen A, BE und C1E (vgl. BayVGH, B.v. 3.3.2015 – 11 ZB 14.2418 – juris Rn. 23; B.v. 23.2.2015 – 11 ZB 14.2497 – juris Rn. 13), was insgesamt die Hälfte von 15.000,- EUR ergibt.
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5. Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).