Titel:
Keine Aufenthaltserlaubnis zum Ehegattennachzug – Einreise ohne erforderliches Visum
Normenketten:
VwGO § 123 Abs. 1
AufenthG § 5 Abs. 2, § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, § 60a Abs. 2 S. 1
GG Art. 6 Abs. 1
Leitsätze:
1. Eine Duldung ist zwar bei Vorliegen der Voraussetzungen vAw zu erteilen; allerdings setzt das allgemeine Rechtsschutzbedürfnis als Zulässigkeitsvoraussetzung eines Antrags nach § 123 Abs. 1 VwGO grundsätzlich einen vorherigen Antrag an die Behörde bzw. eine "behördliche Vorbefassung" voraus. (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)
2. Mit dem verfassungsrechtlichen Schutz von Ehe und Familie ist es grundsätzlich vereinbar, den Ausländer auf die Einholung eines erforderlichen Visums zu verweisen. Der mit der Durchführung eines Visumverfahrens üblicherweise einhergehende Zeitablauf ist von demjenigen, der die Einreise begehrt, regelmäßig hinzunehmen. (Rn. 12) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Aufenthaltsrecht, Aufenthaltserlaubnis zum Ehegattennachzug, tatsächliche Möglichkeit der Abschiebung in die Russische, Föderation, Visumverfahren, Zumutbarkeit der Nachholung des Visumverfahrens, russische Staatsangehörige, Zumutbarkeit der Nachholung, tatsächliche Möglichkeit der Abschiebung, kein Duldungsantrag, Rechtsschutzbedürfnis im Eilverfahren
Vorinstanz:
VG München, Beschluss vom 30.01.2023 – M 27 SE 22.4905
Fundstelle:
BeckRS 2023, 15594
Tenor
I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 3.750,- Euro festgesetzt.
Gründe
1
Mit der Beschwerde verfolgt die Antragstellerin, eine russische Staatsangehörige, ihren vor dem Verwaltungsgericht erfolglosen Antrag weiter, die aufschiebende Wirkung ihrer beim Verwaltungsgericht anhängigen Verpflichtungsklage auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Ehegattennachzug nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG gemäß § 80 Abs. 5 VwGO anzuordnen, hilfsweise den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO zu verpflichten, von der Abschiebung der Antragstellerin bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Klage vorläufig abzusehen. Ferner beantragt sie, dem Antragsgegner mitzuteilen, dass aufenthaltsbeendende Maßnahmen bis zur Entscheidung über die vorliegende Beschwerde nicht durchgeführt werden dürfen.
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Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Das Beschwerdevorbringen, auf dessen Überprüfung der Senat beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), rechtfertigt keine Aufhebung oder Abänderung des erstinstanzlichen Beschlusses. Das Verwaltungsgericht hat den Antrag zu Recht mit dem angefochtenen Beschluss vom 30. Januar 2023 abgelehnt.
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Das Verwaltungsgericht hat festgestellt, der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage sei bereits unzulässig, weil unstatthaft, da dem Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis keine Fiktionswirkung nach § 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG oder § 81 Abs. 4 Satz 1 i.V.m. Satz 2 AufenthG zugekommen sei. Im Übrigen wäre er auch unbegründet, weil ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach summarischer Prüfung nicht bestehe. Die Antragstellerin sei nicht mit dem nach § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG erforderlichen Visum eingereist, Gründe, hiervon abzusehen, seien nicht ersichtlich oder glaubhaft gemacht. Hinzu komme, dass der nach § 28 Abs. 1 Satz 5 AufenthG erforderliche Sprachnachweis fehle.
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Die Antragstellerin habe auch keinen Anspruch nach § 123 Abs. 1 VwGO auf Erteilung einer Duldung gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG. Ein gerichtlicher Eilantrag sei bereits unzulässig, weil kein Antrag bei der zuständigen Ausländerbehörde vorausgegangen sei. Ein solcher Antrag wäre aber auch unbegründet, weil die Abschiebung der Antragstellerin in die Russische Föderation nicht unmöglich im Sinne des § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG sei. Auch wenn es aktuell keine Direktflüge gebe, könne eine Abschiebung über einen Drittstaat erfolgen. Auch die kürzliche Eheschließung mit einem deutschen Staatsangehörigen ziehe keine rechtliche Unmöglichkeit der Abschiebung nach sich, weil die deutsche Botschaft in Moskau mitgeteilt habe, dass die Wartezeit für die Ausstellung eines Visums im ungünstigsten Szenario maximal fünf Monate dauere. Angesichts der erst sehr kurzen Ehedauer sei diese Zeitspanne nicht unangemessen lange.
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Bezüglich des Antrags auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung gemäß § 80 Abs. 5 VwGO wird in der Beschwerdebegründung ausgeführt, es könne „dahingestellt werden“, ob dieser Antrag zulässig und begründet sei. Der Antragsgegner macht insoweit zu Recht geltend, damit fehle es an der gemäß den formellen Darlegungsanforderungen des § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO erforderlichen Auseinandersetzung mit den Erwägungen in der angefochtenen Entscheidung.
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Hinsichtlich des Antrags auf einstweilige Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO trägt die Beschwerdebegründung vor, sie sei zulässig. Denn da eine Duldung von Amts wegen ausgestellt werde, sei es irrelevant, ob zuvor ein Antrag auf Duldung bei der Ausländerbehörde gestellt worden sei. Sie sei auch begründet, da eine Abschiebung aus tatsächlichen Gründen unmöglich sei. Abschiebungen nach Russland könnten aufgrund der aktuellen Lage derzeit nicht durchgeführt werden. Es komme nicht darauf an, ob die Antragstellerin freiwillig ausreisen könnte. Eine Abschiebung sei auch aus rechtlichen Gründen angesichts des verfassungsrechtlichen Schutzes von Ehe und Familie nach Art. 6 Abs. 1 GG unmöglich. Abgesehen von der Einreise mit dem erforderlichen Visum erfülle die Antragstellerin sämtliche Erteilungsvoraussetzungen für eine Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG. Wenn das Verwaltungsgericht ausführe, dass die Nachholung des Visumverfahrens mit einer Trennung der Ehegatten von höchstens fünf Monaten verbunden wäre, so verkenne es dabei, dass im Fall der Abschiebung das in dem Bescheid vom 8. September 2022 festgesetzte Einreise- und Aufenthaltsverbot greife. Demnach sei bei einer Abschiebung mit einer erheblich längeren Trennung der Ehegatten zu rechnen, die sich mit dem Schutz der Ehe und Familie aus Art. 6 GG nicht vereinbaren lasse.
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Dieser Vortrag rechtfertigt keine Abänderung der erstinstanzlichen Entscheidung.
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Zutreffend ist zwar, dass eine Duldung bei Vorliegen der Voraussetzungen von Amts wegen zu erteilen ist und nicht von einem Antrag abhängt. Allerdings hat das Verwaltungsgericht auf das allgemeine Rechtsschutzbedürfnis als Zulässigkeitsvoraussetzung des Antrags nach § 123 Abs. 1 VwGO abgestellt. Insoweit ist grundsätzlich ein vorheriger Antrag an die Behörde bzw. eine „behördliche Vorbefassung“ zu verlangen (zu den Einzelheiten vgl. Happ in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 123 Rn. 34; Kuhla in Posser/Wolff/Decker, BeckOK VwGO, Stand 1.7.2022, § 123 Rn. 37b; Schoch in Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, Stand Aug. 2022, VwGO § 123 Rn. 121b).
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Dies kann im vorliegenden Fall jedoch dahingestellt bleiben, da der Antrag jedenfalls unbegründet ist, weil die Antragstellerin keinen Anspruch auf Aussetzung der Abschiebung und damit Erteilung einer Duldung (§ 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG) glaubhaft gemacht hat.
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In Bezug auf die tatsächliche Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit einer Abschiebung nach Russland mag es zwar zutreffen, dass derzeit keine Direktflüge aus der Bundesrepublik Deutschland in die Russische Föderation stattfinden. Der Antragsgegner hat jedoch geltend gemacht, dass Flüge über Drittländer möglich sind und hierzu glaubhaft vorgetragen, dass das Bayerische Landesamt für Asyl und Rückführungen im März 2023 bereits zwei erfolgreiche Luftrückführungen über Belgrad nach Moskau durchgeführt habe.
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Auch ist eine Abschiebung nicht aus rechtlichen Gründen unmöglich.
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Mit dem verfassungsrechtlichen Schutz von Ehe und Familie nach Art. 6 GG ist es grundsätzlich vereinbar, den Ausländer auf die Einholung eines erforderlichen Visums zu verweisen. Das Visumverfahren bietet Gelegenheit, die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen zu überprüfen. Das Aufenthaltsgesetz trägt dabei dem Gebot der Verhältnismäßigkeit Rechnung, indem es unter den Voraussetzungen des § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG im Einzelfall erlaubt, von dem grundsätzlichen Erfordernis einer Einreise mit dem erforderlichen Visum (§ 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG) abzusehen. Der mit der Durchführung des Visumverfahrens üblicherweise einhergehende Zeitablauf ist von demjenigen, der die Einreise in die Bundesrepublik Deutschland begehrt, regelmäßig hinzunehmen. Erfüllt die Familie im Kern die Funktion einer Beistandsgemeinschaft, weil ein Familienmitglied auf die Lebenshilfe eines anderen Familienmitglieds angewiesen ist, und kann dieser Beistand nur in Deutschland erbracht werden, weil einem beteiligten Familienmitglied ein Verlassen Deutschlands nicht zumutbar ist, so drängt die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, regelmäßig einwanderungspolitische Belange zurück. Dies kann selbst dann gelten, wenn der Ausländer vor Entstehung der zu schützenden Lebensgemeinschaft gegen aufenthaltsrechtliche Bestimmungen verstoßen hat. Es kommt in diesem Zusammenhang nicht darauf an, ob die Beistandsgemeinschaft als Hausgemeinschaft gelebt wird oder ob die von einem Familienmitglied tatsächlich erbrachte Lebenshilfe von anderen Personen erbracht werden kann (siehe z.B. BVerfG, B.v. 9.12.2021 – 2 BvR 1333/21 – juris Rn. 45; BVerfG, B.v. 17.5.2011 – 2 BvR 2625/10 – juris Rn. 13 ff.; BVerfG, B.v. 10.5.2008 – 2 BvR 588/08 – juris Rn. 11 ff.; BVerfG, B.v. 4.12.2007 – 2 BvR 2341/06 – juris Rn. 6).
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Nach diesen Maßgaben ist die Ausreise der Antragstellerin zur Durchführung des Visumverfahrens nicht unzumutbar bzw. ihre Abschiebung nicht aus rechtlichen Gründen unmöglich. Auf Anfrage des Verwaltungsgerichts hat die deutsche Botschaft in Moskau am 12. Oktober 2022 und 13. Januar 2023 mitgeteilt, dass Visaverfahren zur Familienzusammenführung regulär möglich seien. Die Wartezeit auf einen Termin betrage etwa zwei Monate. Die Bearbeitungszeit ab Antragstellung betrage mit Vorabzustimmung etwa eine Woche und ohne Vorabzustimmung in der Regel zwei bis drei Monate. Da weder vorgetragen noch sonst ersichtlich ist, dass die Antragstellerin bzw. ihr Ehemann in besonderer Weise auf gegenseitige Lebenshilfe angewiesen wären (vgl. z.B. BVerfG, B.v. 17.5.2011 – 2 BvR 2625/10 – juris Rn. 17 f.), ist es ihnen zuzumuten, eine vorübergehende Trennung für die übliche Dauer des Visumverfahrens hinzunehmen. Sie befinden sich damit in keiner anderen Situation wie jeder andere Ausländer und dessen deutscher Ehegatte, bei denen gemäß der vom Gesetzgeber in § 6 Abs. 3 Satz 1 AufenthG vorgesehenen Regelung ein Visum zum Familiennachzug vom Ausland aus beantragt wird. Das Verwaltungsgericht hat auch zu Recht darauf hingewiesen, dass die Antragstellerin es in der Hand hätte, das Visumverfahren so kurz wie möglich zu halten, etwa durch Buchung eines Termins über das Online-Portal der deutschen Botschaft und durch das Bemühen um eine Vorabzustimmung nach § 31 Abs. 3 AufenthV. Entsprechendes gilt auch für das im Bescheid des Antragsgegners vom 8. September 2022 für den Fall einer Abschiebung angeordnete Einreise- und Aufenthaltsverbot von 12 Monaten. Verweigert die Antragstellerin eine freiwillige Ausreise und lässt es auf eine Abschiebung ankommen, so ist sie darauf zu verweisen, zugleich mit dem Visumantrag auch die Verkürzung oder Aufhebung des dann wirksamen Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 4 AufenthG zu beantragen.
14
Der Antrag, dem Antragsgegner mitzuteilen, dass aufenthaltsbeendende Maßnahmen gegen die Antragstellerin bis zur Entscheidung über die vorliegende Beschwerde nicht durchgeführt werden dürfen (sog. „Schiebe-“ oder „Hängebeschluss“), ist durch die vorliegende Entscheidung gegenstandslos.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.
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Die Streitwertfestsetzung für das Beschwerdeverfahren beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1, § 45 Abs. 1 Satz 2, § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 1, Abs. 2 GKG i.V.m. dem Streitwertkatalog für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.
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Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).