Titel:
Pflicht zur Angabe einer ladungsfähigen Anschrift im Eilverfahren
Normenketten:
AufenthG § 60a Abs. 2
VwGO § 82 Abs. 1 S. 1, § 173 S. 1
ZPO § 130 Nr. 1
Leitsätze:
1. § 82 Abs. 1 S. 1 VwGO ist in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes in Bezug auf einen Antragsteller entsprechend anzuwenden (siehe u.a. VGH München BeckRS 2021, 22486; BeckRS 2017, 138371). (Rn. 6) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Pflicht zur Angabe der Anschrift entfällt nur, wenn deren Erfüllung ausnahmsweise unmöglich oder unzumutbar ist. Solches wird nur dann angenommen, wenn der Angabe der Anschrift unüberwindliche oder nur schwer zu beseitigende Schwierigkeiten oder ein schutzwürdiges Geheimhaltungsinteresse entgegenstehen (vgl. auch VGH München BeckRS 2021, 22486; BeckRS 2017, 138371; BeckRS 2016, 50100). (Rn. 7) (redaktioneller Leitsatz)
3. Die Angabe einer Adresse, an der sich der Antragsteller in Wahrheit gar nicht aufhält (Deckadresse), entspricht nicht den oben aufgeführten Anforderungen an eine ladungsfähige Anschrift (VGH München BeckRS 2017, 138371). (Rn. 9) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Abschiebungsschutz, Fehlen einer ladungsfähigen Anschrift, „Deckadresse“, „untergetauchter“ Antragsteller, fehlendes Rechtsschutzbedürfnis für einstweiligen Rechtsschutz, schutzwürdiges Geheimhaltungsinteresse, Deckadresse, untergetauchter Antragsteller
Vorinstanz:
VG Augsburg, Beschluss vom 25.05.2023 – Au 6 E 23.761
Fundstelle:
BeckRS 2023, 15590
Tenor
I. Die Beschwerde wird verworfen.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 1.250,- Euro festgesetzt.
Gründe
1
Mit der Beschwerde verfolgt der Antragsteller seinen in erster Instanz erfolglosen Antrag weiter, den Antragsgegner im Wege einer einstweiligen Anordnung (§ 123 Abs. 1 VwGO) zur Erteilung einer Duldung (§ 60a Abs. 2 AufenthG) zu verpflichten.
2
Nach den Ausführungen des Antragsgegners in der Stellungnahme vom 1. Juni 2023 war die Abschiebung des Antragstellers für den 26. Mai 2023 terminiert. Als Polizeibeamte ihn an diesem Tag in der ihm zugewiesenen Unterkunft hätten abholen wollen, hätten sie ihn dort nicht angetroffen. Sein Zimmer sei leer gewesen, und es hätten sich dort keine persönlichen Gegenstände befunden. Seine Mitbewohner hätten ihn dort schon seit einer Woche nicht mehr gesehen. Er sei bei der Meldebehörde abgemeldet und als unbekannten Aufenthalts gemeldet sowie zur Festnahme ausgeschrieben worden.
3
Der Bevollmächtigte des Antragstellers wurde mit Schreiben des Senats vom 12. Juni 2023 aufgefordert, die aktuelle ladungsfähige Anschrift des Antragstellers mitzuteilen; dieser nannte mit Schreiben vom 13. Juni 2023 als ladungsfähige Anschrift diejenige der Ehefrau des Antragstellers in einem Ort in Baden-Württemberg.
4
Gemäß dem Schriftsatz des Antragsgegners vom 19. Juni 2023 ist der Antragsteller weiterhin unbekannten Aufenthalts; er habe mitteilen lassen, er werde den Vorspracheaufforderungen nicht nachkommen. Laut einem Aktenvermerk des Polizeipräsidiums Heilbronn / Polizeiposten Niedernhall vom 16. Juni 2023 wurde die Adresse der Ehefrau mehrfach überprüft; der Antragsteller halte sich dort nicht auf. Die Ehefrau habe telefonisch erklärt, der Antragsteller wohne nicht bei ihr, sondern halte sich bei einem Freund auf; wo das sei, müsse sie nicht sagen.
5
Die Beschwerde ist bereits unzulässig, weil für den Antragsteller keine ladungsfähige Anschrift vorliegt und ihr aufgrund des „Untertauchens“ des Antragstellers auch das Rechtsschutzbedürfnis fehlt.
6
a) Gemäß § 82 Abs. 1 Satz 1 VwGO muss die Klage den Kläger bezeichnen. Diese Vorschrift ist in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes in Bezug auf den Antragsteller entsprechend anzuwenden (BayVGH, B.v. 4.8.2021 – 10 CE 21.1469 – juris Rn. 5; BayVGH, B.v. 7.12.2017 – 10 CE 17.2321 – juris Rn. 6; BayVGH, B.v. 11.9.2012 – 7 CS 12.1423 – juris Rn. 19; VGH BW, B.v. 25.10.2004 – 11 S 1992/04 – juris Rn. 4; HessVGH, B.v. 21.12.1988 – 4 TG 2070/88 – juris Rn. 27).
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Zur Bezeichnung eines Klägers bzw. Antragstellers im Sinne des § 82 Abs. 1 Satz 1 VwGO gehört nach § 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 130 Nr. 1 ZPO auch die Angabe seines Wohnortes. Die Angabe einer ladungsfähigen Anschrift, unter der der Kläger bzw. Antragsteller tatsächlich zu erreichen ist, ist erforderlich, um ihn zu individualisieren und seine Erreichbarkeit für das Gericht sicherzustellen. Es soll darüber hinaus dadurch auch gewährleistet werden, dass er nach entscheidungserheblichen Tatsachen befragt werden kann und sich im Falle seines Unterliegens seiner Kostentragungspflicht nicht entziehen kann. Das gilt auch für ein verwaltungsgerichtliches Verfahren unter Mitwirkung eines Prozessbevollmächtigten oder wenn sich während des Verfahrens die ladungsfähige Anschrift ändert. Die Pflicht zur Angabe der Anschrift entfällt nur, wenn deren Erfüllung ausnahmsweise unmöglich oder unzumutbar ist. Solches wird nur dann angenommen, wenn der Angabe der Anschrift unüberwindliche oder nur schwer zu beseitigende Schwierigkeiten oder ein schutzwürdiges Geheimhaltungsinteresse entgegenstehen (BayVGH, B.v. 4.8.2021 – 10 CE 21.1469 – juris Rn. 6; BayVGH, B.v. 7.12.2017 – 10 CE 17.2321 – juris Rn. 7; BayVGH, B.v. 9.8.2016 – 10 CE 16.1145, 10 C 16.1146 – juris Rn. 15; BayVGH, B. 9.5.2016 – 10 ZB 15.677 – juris Rn. 4; BayVGH, B.v. 3.2.2016 – 10 ZB 15.1413 – juris Rn. 4).
8
Entspricht die Klage bzw. der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz nicht den Anforderungen des § 82 Abs. 1 VwGO, hat das Gericht den Kläger bzw. Antragsteller zu der erforderlichen Ergänzung aufzufordern. Auf die Aufforderung des Senats hat der Bevollmächtigte die Anschrift der Ehefrau des Antragstellers als dessen angebliche ladungsfähige Anschrift mitgeteilt. Nachforschungen des Antragsgegners haben jedoch ergeben, dass der Antragsteller sich dort in Wahrheit nicht aufhält. Die Ehefrau hat dies gegenüber der Polizei telefonisch bestätigt und mitgeteilt, er halte sich in Wahrheit an einem anderen Ort auf, den sie nicht preisgegeben werde.
9
Die Angabe einer Adresse, an der sich der Antragsteller in Wahrheit gar nicht aufhält (Deckadresse), entspricht nicht den oben aufgeführten Anforderungen an eine ladungsfähige Anschrift (BayVGH, B.v. 7.12.2017 – 10 CE 17.2321 – juris Rn. 9). Damit ist die gebotene Vervollständigung des Antrags auf einstweiligen Rechtsschutz unterblieben, der Antrag bzw. die Beschwerde ist damit bereits aus diesem Grund unzulässig.
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b) Weiter ist durch das „Untertauchen“ des Antragstellers seit etwa dem 26. Mai 2023 auch sein Rechtsschutzinteresse entfallen. Seine Abschiebung ist deswegen gegenwärtig unmöglich; in dieser Situation, in der ihm die Abschiebung nicht unmittelbar droht, kann er auch kein Rechtsschutzbedürfnis für seinen Antrag geltend machen. Es ist auch verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass einem untergetauchten Beschwerdeführer die begehrte einstweilige Anordnung mit der Begründung versagt wird, Eilrechtsschutz könne auch nach Bekanntwerden seines Aufenthaltsortes noch rechtzeitig gewährt werden (BVerfG, B.v. 25.7.2001 – 2 BvR 1043/01 – juris Rn. 2; BVerfG, B.v. 31.8.1999 – 2 BvR 1523/99 – juris Rn. 3; BayVGH, B.v. 22.1.2016 – 10 CE 15.2799 – Rn. 7; BayVGH, B.v. 2.3.2010 – 10 CE 10.462 – juris Rn. 8).
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung für das Beschwerdeverfahren auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 1, Abs. 2 GKG i.V.m. dem Streitwertkatalog für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.
12
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).