Inhalt

VG München, Urteil v. 23.01.2023 – M 26a K 21.82
Titel:

Keine Entschädigung für Lohnfortzahlung während einer infektionsschutzrechtlichen Absonderung als Krankheitsverdächtiger

Normenketten:
IfSG § 30, § 31 Abs. 1, § 56 Abs. 1 S. 2, Abs. 5 S. 1, S. 2 (idF bis 22.5.2020)
VwGO § 113 Abs. 5
BSeuchG § 45
Leitsätze:
1. Die Beurteilung, ob einem Arbeitgeber, der einem als krankheitsverdächtig in Quarantäne abgesonderten Arbeitnehmer Lohn fortgezahlt hat, ein Entschädigungsanspruch zusteht, ist auf die Rechtslage zum Zeitpunkt der Absonderung abzustellen. (Rn. 16-17) (redaktioneller Leitsatz)
2. Nach § 56 IfSG in der zwischen dem 10.2.2020 und dem 22.5.2020 geltenden Fassung bestand keine Entschädigungspflicht bei der Absonderung von Krankheitsverdächtigen. (Rn. 21 – 24) (redaktioneller Leitsatz)
3. Die Anordnung häuslicher Quarantäne gegenüber einem Krankheitsverdächtigen stellt auch dann kein berufliches Tätigkeitsverbot dar oder steht einem solchen gleich, wenn sie sich faktisch als Untersagung beruflicher Tätigkeit auswirkt. (Rn. 21) (redaktioneller Leitsatz)
4. Ein Krankheitsverdächtiger kann auch nicht im Wege der analogen Anwendung des § 56 Abs. 1 S. 2 IfSG in der von Februar bis Mai 2020 geltenden Fassung einem Ausscheider oder einem Ansteckungsverdächtigen gleichgestellt werden. (Rn. 25 – 29) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Corona-Pandemie, Entschädigung, Absonderung, Quarantäne, Krankheitsverdächtiger, Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage, Verhältnis von Absonderung und Tätigkeitsverbot, Rückwirkung späterer gesetzlicher Änderung, Analogie (verneint), planwidrige Regelungslücke (verneint), Corona, Lohnfortzahlung, Ansteckungsvedächtiger, Tätigkeitsverbot, Verpflichtungsklage, Beruteilungszeitpunkt
Fundstelle:
BeckRS 2023, 1536

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

1
Die Parteien streiten um die Entschädigungspflicht des Beklagten aufgrund der Absonderung eines Arbeitnehmers der Klägerin im April 2020 als Krankheitsverdächtiger nach §§ 56 ff. Infektionsschutzgesetz (IfSG).
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Die Klägerin betreibt ein Autohaus mit angeschlossener Reparaturwerkstatt in … A. Gegenüber dem bei ihr als Werkstattmeister angestellten Arbeitnehmer, Herrn A. …, wurde mit behördlicher Anordnung durch Bescheid des staatlichen Gesundheitsamtes A. vom 17. April 2020 die Absonderung (häusliche Quarantäne) gemäß § 30 IfSG angeordnet, da die Eigenschaft des Arbeitnehmers als Krankheitsverdächtiger (begründeter Verdachtsfall) festgestellt wurde. Die Quarantäne wurde für den Zeitraum vom 17. April 2020 bis 30. April 2020 angeordnet. Für diesen Zeitraum zahlte die Klägerin an den Angestellten den Lohn fort.
3
Die Klägerin beantragte mit Schreiben vom … Mai 2020 beim Beklagten die Erstattung der von ihr verauslagten Entschädigung für den Verdienstausfall sowie der Beiträge zur Sozialversicherung infolge der Anordnung der Absonderung im Zeitraum vom 17. April 2020 bis 30. April 2020 in Höhe von 1.633,33 EUR. Der Beklagte lehnte mit Bescheid vom 9. Dezember 2020, der Klägerin zugegangen am 12. Dezember 2020, die Erstattung der von der Klägerin verauslagten Entschädigungsleistung ab.
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Am 8. Januar 2021 ließ die Klägerin Klage beim Bayerischen Verwaltungsgericht München erheben. Sie beantragt
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unter Aufhebung des Bescheides des Beklagten vom 9. Dezember 2020, Geschäftszeichen … den Beklagten zu verpflichten, an die Klägerin gemäß Antrag vom … Mai 2020 eine Entschädigungsleistung in Höhe von 1.633,33 EUR nach §§ 56 ff. IfSG zu leisten.
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Die Klägerin trägt vor, dass für Krankheitsverdächtige auch bereits in der vor dem 23. Mai 2020 geltenden Fassung des Infektionsschutzgesetzes dem Arbeitgeber Entschädigungszahlungen auf Antrag durch die zuständige Behörde nach § 56 Abs. 5 Satz 1 und 2 IfSG zu erstatten gewesen seien. Zumindest komme eine analoge Anwendung dieser Vorschrift auf Krankheitsverdächtige in Betracht.
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Der Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Der Beklagte trägt vor, dass Krankheitsverdächtige zu dem Zeitpunkt der Quarantäne des Arbeitnehmers der Klägerin noch nicht zu den entschädigungsberechtigten Personen im Sinne des § 56 Abs. 1 Satz 2 IfSG gehörten. Krankheitsverdächtige seien erst durch die Gesetzesänderung vom 23. Mai 2020 als Entschädigungsberechtigte in § 56 Abs. 1 Satz 2 IfSG aufgenommen worden. Eine rückwirkende Aufnahme von Krankheitsverdächtigen in den Kreis der Entschädigungsberechtigten sei nicht erfolgt. Eine analoge Anwendung von § 56 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 IfSG komme ebenfalls nicht in Betracht.
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Die Klägerin verzichtete mit Schriftsatz vom 18. Januar 2021, der Beklagte mit Schriftsatz vom 25. Februar 2021 auf mündliche Verhandlung.
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Für Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte und die vorgelegte Behördenakte verwiesen.

Entscheidungsgründe

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1. Über den Rechtsstreit konnte gemäß § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung entschieden werden, da sich sämtliche Beteiligten mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren einverstanden erklärten.
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2. Die Klage ist zulässig. Statthaft ist eine Verpflichtungsklage in Form der Versagungsgegenklage nach § 42 Abs. 1 Halbs. 2 Alt. 1 VwGO, da sich die Klägerin gegen die Ablehnung ihres Entschädigungsantrags im Bescheid vom 9. Dezember 2020 wendet und den Erlass eines für sie günstigeren Bescheides begehrt.
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3. Die Klage ist jedoch unbegründet. Die Klägerin besitzt keinen Anspruch auf die Bewilligung der begehrten Entschädigung. Die Ablehnung der Bewilligung durch den Beklagten ist nicht rechtswidrig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO.
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3.1. Anspruchsgrundlage für den möglichen Anspruch der Klägerin auf Entschädigung ist § 56 Abs. 1 Satz 2 in Verbindung mit Abs. 5 Satz 2 IfSG in der bis zum 22. Mai 2020 geltenden Fassung (letzte maßgebliche Änderung durch Gesetz vom 10.02.2020, BGBl. I 2020, S. 148 ff.). Maßgeblich ist die zum Zeitpunkt bzw. Zeitraum der Quarantäne/Absonderung des Arbeitnehmers geltende Fassung dieser Vorschrift.
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Zwar ist bei einer Verpflichtungsklage vom Grundsatz auszugehen, dass für die Beurteilung eines Anspruchs die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung bzw. der gerichtlichen Entscheidung maßgeblich ist. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ergibt sich für die Frage des richtigen Zeitpunkts für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage aus dem Prozessrecht aber nur, dass ein Kläger im verwaltungsgerichtlichen Rechtsstreit – sowohl mit einem Aufhebungsbegehren als auch mit einem Verpflichtungsbegehren – nur dann Erfolg haben kann, wenn er im Zeitpunkt der letzten gerichtlichen Entscheidung einen Anspruch auf die erstrebte Aufhebung des Verwaltungsakts bzw. auf die erstrebte Leistung hat. Ob ein solcher Anspruch jedoch besteht, d. h. ob ein belastender Verwaltungsakt den Kläger im Sinne von § 113 Abs. 1 VwGO rechtswidrig in seinen Rechten verletzt oder die Ablehnung eines begehrten Verwaltungsakts im Sinne von § 113 Abs. 5 VwGO rechtswidrig ist, beurteilt sich nach dem materiellen Recht, dem nicht nur die tatbestandlichen Voraussetzungen einer Ermächtigungsgrundlage oder eines Anspruchs selbst, sondern auch die Antwort auf die Frage zu entnehmen ist, zu welchem Zeitpunkt diese Voraussetzungen erfüllt sein müssen (BVerwG, U.v. 31.3.2004 – 8 C 5.03 – beck-online; BVerwG, U.v. 3.11.1987 – 9 C 254/86 – NVwZ 1988, 260, 261). Ändert sich das materielle Recht während des gerichtlichen Verfahrens, so ist auf Grundlage dieser Änderung zu entscheiden, ob das neue Recht einen durch das alte Recht begründeten Anspruch beseitigt, verändert oder unberührt lässt bzw. erstmals einen Anspruch für den Kläger begründet (BVerwG, U.v. 21.5.1976 – IV C 80/74 – NJW 1976, 1760, 1762).
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Nach diesen Grundsätzen ist hier auf § 56 IfSG in der Fassung vom 10. Februar 2020 bis zum 22. Mai 2020 abzustellen, die während des Zeitraums der Quarantäne/Absonderung des Arbeitnehmers vom 17. April 2020 bis 30. April 2020 galt. Materiell kommt es auf die im Zeitpunkt der anspruchsbegründenden oder -ausschließenden Verhaltenspflicht oder -obliegenheit geltende Fassung an (so auch BeckOK InfSchR/ Eckart/Kruse, 14. Ed. 1.11.2022, IfSG § 56 Rn. 20a; VG Gera, U.v. 3.11.2022 – 3 K 819/21 Ge – beck-online, Rn. 21-26; VG Würzburg, U.v. 5.10.2022 – W 8 K 22.611, beck-online, Rn. 27-32; VG Bayreuth, U.v. 28.06.2022 – B 7 K 22.320 – beck-online, Rn. 21; VG Freiburg, U.v. 17.5.2022 – 10 K 368/21 – beck-online, Rn. 13 (ausdrückliche Aufgabe früherer Rechtsprechung); VG Bayreuth, U.v. 17.1.2022 – B 7 K 21.871 – beck-online, Rn. 20-25; VG Bayreuth, U.v. 17.1.2022 – B 7 K 21.425 – beck-online, Rn. 36; grundlegend VG Bayreuth, U.v. 21.6.2021 – B 7 K 21.110 – beck-online, Rn. 21-23; im Ergebnis auch VG Minden, U.v. 26.1.2022 – 7a K 424/21 – beck-online, Rn. 36-39 (spätestens der Zeitpunkt der Fälligkeit des Arbeitsentgelts maßgeblich)). Maßgeblich hierfür ist, dass der Arbeitnehmer während des Absonderungszeitraums infektionsschutzrechtlich die während dieses Zeitraums konkret geltenden Regelungen und Obliegenheiten zu beachten hatte. Eventuelle frühere oder spätere Fassungen der Regelungen und Obliegenheiten waren nicht mehr oder noch nicht in Kraft bzw. noch gar nicht bekannt und damit für die Verhaltenspflichten des Arbeitnehmers unbeachtlich. Anhaltspunkte dafür, dass der maßgebliche Zeitpunkt für das Bestehen des Entschädigungsanspruchs – welcher tatbestandlich teilweise auf die Befolgung der erwähnten Regelungen und Obliegenheiten abstellt – nach materiellem Recht hiervon abweichen soll, sind nicht ersichtlich. Es erscheint vielmehr sachgerecht, auch hinsichtlich finanzieller Konsequenzen bei der Befolgung oder Nichtbefolgung infektionsschutzrechtlicher Regelungen (z.B. Gewährung einer Entschädigung oder Verhängung eines Bußgeldes) auf den Zeitraum abzustellen, in welchem die infektionsschutzrechtliche Regelung oder Obliegenheit tatsächlich zu beachten war. Hierdurch wird das mit einer infektionsschutzrechtlichen Regelung oder Obliegenheit konfrontierte Individuum nämlich idealerweise in die Lage versetzt, die Konsequenzen einer Befolgung oder Nichtbefolgung auch unter finanziellen Aspekten zu berücksichtigen. Insofern erscheint es hinsichtlich des Entstehens eines infektionsschutzrechtlichen Entschädigungsanspruchs nicht sachgerecht, auf die späteren Zeitpunkte der Antragstellung bei der Verwaltungsbehörde, der Entscheidung der Verwaltungsbehörde (so hinsichtlich einzelner Tatbestandsvoraussetzungen VG Karlsruhe, U.v. 10.5.2021 – 9 K 67/21, beck-online, Rn. 34-38) oder gar auf den noch späteren Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung abzustellen (so aber VG Freiburg, U.v. 2.7.2021 – 10 K 547/21 – beck-online, Rn. 11 f. (mittlerweile ausdrücklich aufgegeben); VG Frankfurt, U.v. 13.4.2021 – 5 K 109/21.F – beck-online, Rn. 10 f.). Sonst hätten es nämlich der Antragsteller, die Verwaltungsbehörde und das Gericht allein durch die Datierung des Antrags oder die Steuerung der Bearbeitungszeit in der Hand, zunächst begründete Anträge unbegründet werden zu lassen und umgekehrt (VG Bayreuth, U.v. 21.6.2021 – B 7 K 21.110 – beck-online, Rn. 10; vgl. VG Hannover, U.v. 1.10.2008 – 11 A 7719.06 – juris, Rn. 34).
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Die späteren Änderungen von § 56 IfSG bleiben für den vorliegenden Fall außer Betracht. Dies gilt insbesondere für die Änderung von § 56 Abs. 1 Satz 2 IfSG durch Art. 1 Nr. 22 a) des Gesetzes vom 19. Mai 2020 (BGBl. I 2020, S. 1018-1036), mit welcher die Entschädigungspflicht bei Absonderungen auch auf Krankheitsverdächtige ausgeweitet wurde. Diese Änderung wurde nämlich vom Gesetzgeber nicht mit Rückwirkung ausgestattet. Dies ergibt sich zum einen schlicht daraus, dass der Gesetzgeber diese Änderung zum 23. Mai 2020 – also am Tag nach der Veröffentlichung am 22. Mai 2020 – in Kraft treten ließ. Zum anderen ist auch nicht ersichtlich, dass der Gesetzgeber die Anordnung einer Rückwirkung versehentlich unterlassen hat oder davon ausging, dass Änderungen des § 56 IfSG grundsätzlich immer Rückwirkung haben sollen. Hiergegen spricht nämlich, dass der Gesetzgeber im Gesetz vom 19. Mai 2020 beispielsweise die Änderungen von § 19 IfSG rückwirkend zum 15. Mai 2020, die Änderungen des Pflegeberufegesetzes und der Pflegeberufe-Ausbildungs- und -Prüfungsverordnung sogar rückwirkend zum 1. Januar 2020 in Kraft setzte (siehe Art. 18 Abs. 1a und Abs. 2 des Gesetzes vom 19. Mai 2020), während alle anderen Änderungen des Infektionsschutzgesetzes jeweils „nur“ mit Wirkung für die Zukunft in Kraft gesetzt wurden (siehe Art. 18 Abs. 1 des Gesetzes vom 19. Mai 2020). Insofern ist davon auszugehen, dass der Gesetzgeber das Problem der Änderung der Rechtslage während laufender Verwaltungs- und Gerichtsverfahren durchaus gesehen hat, sich aber nur in einzelnen (gravierenden) Konstellationen zu einer rückwirkenden Änderung der Rechtslage entschlossen hat.
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3.2 Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 56 Abs. 1 Satz 2 i.V. m. Abs. 5 IfSG in der oben genannten maßgeblichen Fassung liegen nicht vor.
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Nach § 56 Abs. 1 Satz 1 IfSG erhält eine Entschädigung in Geld, wer auf Grund dieses Gesetzes als Ausscheider, Ansteckungsverdächtiger, Krankheitsverdächtiger oder als sonstiger Träger von Krankheitserregern im Sinne von § 31 Satz 2 Verboten in der Ausübung seiner bisherigen Erwerbstätigkeit unterliegt oder unterworfen wird und dadurch einen Verdienstausfall erleidet. Gemäß § 56 Abs. 1 Satz 2 IfSG in der hier maßgeblichen Fassung gilt das Gleiche für Personen, die als Ausscheider oder Ansteckungsverdächtige abgesondert wurden oder werden, bei Ausscheidern jedoch nur, wenn sie andere Schutzmaßnahmen nicht befolgen können. Nach § 56 Abs. 5 Satz 1 und 2 IfSG hat bei Arbeitnehmern der Arbeitgeber für die Dauer des Arbeitsverhältnisses, längstens für sechs Wochen, die Entschädigung für die zuständige Behörde auszuzahlen; die ausgezahlten Beträge werden dem Arbeitgeber auf Antrag von der zuständigen Behörde erstattet.
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3.2.1 Eine Entschädigungspflicht nach § 56 Abs. 1 Satz 1 IfSG ergibt sich nicht. Ein berufliches Tätigkeitsverbot im Sinne von § 31 IfSG gegenüber dem Arbeitnehmer der Klägerin ist nicht ersichtlich. Nach § 31 Satz 1 IfSG kann die zuständige Behörde Kranken, Krankheitsverdächtigen, Ansteckungsverdächtigen und Ausscheidern die Ausübung bestimmter beruflicher Tätigkeiten ganz oder teilweise untersagen. Eine solche gänzliche oder teilweise Untersagung bestimmter beruflicher Tätigkeiten des Arbeitnehmers steht hier jedoch nicht im Raum. Gegenüber dem Arbeitnehmer der Klägerin wurde mit Bescheid vom 17. April 2020 nicht eine berufliche Tätigkeit nach § 31 IfSG untersagt, sondern die häusliche Absonderung gemäß § 30 Abs. 1 Satz 2 IfSG angeordnet. Die Anordnung einer Absonderung mag zwar für den Absonderungszeitraum bei bestimmten beruflichen Tätigkeiten, die nicht in der Wohnung bzw. im „Home-Office“ erledigt werden können, faktisch auch zu einer Untersagung der beruflichen Tätigkeit des Abgesonderten führen. Dies macht die Absonderung nach § 30 Abs. 1 Satz 2 IfSG aber noch nicht zu einem beruflichen Tätigkeitsverbot im Sinne des § 31 IfSG, sondern stellt eine bloße tatsächliche Auswirkung der Absonderung dar. Umgekehrt dürfte nämlich ein im „Home-Office“ tätiger Arbeitnehmer trotz einer Absonderung nach § 30 Abs. 1 Satz 2 IfSG immer noch seine beruflichen Tätigkeiten ausüben. Letzteres wäre ihm aber verwehrt, wenn man – wie hier nicht – in einer Absonderung nach § 30 Abs. 1 Satz 2 IfSG immer auch ein Tätigkeitsverbot im Sinne des § 31 IfSG sehen würde.
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3.2.2 Die Tatbestandsvoraussetzungen einer Entschädigungspflicht nach § 56 Abs. 1 Satz 2 IfSG sind ebenfalls nicht gegeben. Der Arbeitnehmer der Klägerin wurde zwar abgesondert im Sinne von § 56 Abs. 1 Satz 2 IfSG. Er war jedoch während des Absonderungszeitraums weder Ausscheider noch Ansteckungsverdächtiger im Sinne dieser Vorschrift.
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Der Arbeitnehmer der Klägerin war kein Ausscheider im Sinne des Infektionsschutzgesetzes. Nach § 2 Nr. 6 IfSG ist Ausscheider eine Person, die Krankheitserreger ausscheidet und dadurch eine Ansteckungsquelle für die Allgemeinheit sein kann, ohne krank oder krankheitsverdächtig zu sein. Nach Aktenlage ist zum einen nicht ersichtlich, dass der Arbeitnehmer zum Zeitpunkt der Anordnung Krankheitserreger bzw. SARS-CoV-2-Erreger ausschied, eine diesbezügliche konkrete Diagnose lag jedenfalls nicht vor. Zum anderen ist der Arbeitnehmer der Klägerin – zwischen den Parteien unstreitig – als Krankheitsverdächtiger im Sinne von § 2 Nr. 5 IfSG abgesondert worden, so dass er aufgrund der insoweit klaren gesetzlichen Vorgabe auch aus diesem Grund nicht gleichzeitig Ausscheider im Sinne von § 2 Nr. 6 IfSG gewesen sein kann.
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Der Arbeitnehmer der Klägerin war auch kein Ansteckungsverdächtiger im Sinne des Infektionsschutzgesetzes. Gemäß § 2 Nr. 7 IfSG ist Ansteckungsverdächtiger eine Person, von der anzunehmen ist, dass sie Krankheitserreger aufgenommen hat, ohne krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider zu sein. Der Arbeitnehmer der Klägerin war jedoch – zwischen den Parteien unstreitig – krankheitsverdächtig im Sinne von § 2 Nr. 5 IfSG und kann insofern nicht Ansteckungsverdächtiger im Sinne dieser Definition sein.
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3.3 Eine analoge Anwendung von § 56 Abs. 1 Satz 2 IfSG in der Fassung vom 10. Februar 2020 bis zum 22. Mai 2020 auch auf Krankheitsverdächtige kommt nicht in Betracht. Die Voraussetzungen für eine Analogie sind nicht erfüllt.
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Eine Analogie ist nur zulässig, wenn die maßgebliche Norm eine planwidrige Regelungslücke aufweist und der zu beurteilende Sachverhalt in rechtlicher Hinsicht soweit mit dem Tatbestand, den der Normgeber geregelt hat, vergleichbar ist, dass angenommen werden kann, der Normgeber wäre bei einer Interessenabwägung, bei der er sich von den gleichen Grundsätzen hätte leiten lassen wie bei dem Erlass der herangezogenen Vorschrift, zu dem gleichen Abwägungsergebnis gekommen. Von einer planwidrigen Regelungslücke ist auszugehen, wenn festzustellen ist, dass die Vorschrift nicht alle Fälle erfasst, die nach dem Sinn und Zweck der Regelung erfasst sein sollten (stRspr, vgl. BVerwG, B.v. 1.6.2022 – 3 B 29/21 – beck-online, Rn. 16 m.w.N.).
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In diesem Sinne liegt bereits keine planwidrige Regelungslücke vor. Die gesetzlichen Regelungen für die streitgegenständliche Fallkonstellation haben sich zwar im Laufe der Jahre materiell mehrfach verändert. Es ist jedoch nicht erkennbar, dass die Entschädigungslage für Krankheitsverdächtige nicht von den Vorschriften erfasst gewesen ist, obwohl sie nach dem Sinn und Zweck der Regelungen hätte erfasst sein sollen.
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Der Gesetzgeber hatte nämlich zum einen bis zur Änderung von § 56 Abs. 1 Satz 2 IfSG durch das Gesetz vom 19. Mai 2020 (BGBl. I 2020, S. 1018-1036) über einen langen Zeitraum die Voraussetzungen für eine Entschädigung im Fall eines Tätigkeitsverbots abweichend von der Entschädigung im Fall einer Absonderung geregelt. Dies begann bereits mit § 49 Abs. 1 des Bundes-Seuchengesetzes vom 18. Juli 1961 (BGBl. I 1961, S. 1012-1029). Dieser enthielt in Satz 1 eine Entschädigungspflicht für Ausscheider, Ausscheidungsverdächtige und Ansteckungsverdächtige im Fall eines Tätigkeitsverbotes. Erst im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens war noch ein Satz 2 ergänzt worden, welcher eine Entschädigungspflicht für abgesonderte Personen enthielt, allerdings nur für Ansteckungsverdächtige, nicht jedoch für die übrigen in Satz 1 genannten Personenkategorien (BT-Drs. III/2769, S. 3). Die unterschiedliche Regelung der Tatbestandsvoraussetzungen des Entschädigungsanspruchs bei Tätigkeitsverboten und Absonderungen wurde mit dem Infektionsschutzgesetz vom 20. Juli 2000 weitergeführt. Dort wurden in § 56 Abs. 1 Satz 1 IfSG zwar erstmals auch Krankheitsverdächtige bei Tätigkeitsverboten als entschädigungsberechtigt genannt. Dies erfolgte jedoch wiederum nicht bei Absonderungen im Sinne von § 56 Abs. 1 Satz 2 IfSG, obwohl der Gesetzgeber dies zu diesem Zeitpunkt prinzipiell in gleicher Weise hätte regeln können.
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Zum anderen ist bei der Nichtberücksichtigung von Krankheitsverdächtigen als entschädigungsberechtigtem Personenkreis auch deshalb nicht von einer planwidrigen Regelungslücke auszugehen, weil der Gesetzgeber noch im Jahr 1961 eine Entschädigungsberechtigung für Krankheitsverdächtige generell ausdrücklich abgelehnt hatte. Krankheitsverdächtige seien hiernach nämlich krank im Sinne des Gesetzes, damit Störer im polizeirechtlichen Sinne und arbeitsunfähig, so dass sie – sofern versichert – Leistungen der Krankenversicherung erhalten würden (BT-Drs. III/1888, S. 27 (zu § 48)). Von der Nichtberücksichtigung Krankheitsverdächtiger beim Entschädigungsanspruch ist der Gesetzgeber zwar mit der Verabschiedung des Infektionsschutzgesetzes vom 20. Juli 2000 erstmals in gewissem Umfang abgewichen. Auch hieraus lässt sich aber nicht entnehmen, dass die Fälle der Krankheitsverdächtigen bei Absonderung vom Gesetzgeber versehentlich übersehen worden sind. Der Gesetzgeber hatte sich nämlich bei der Verabschiedung des Infektionsschutzgesetzes durchaus mit der Entschädigungssituation der Krankheitsverdächtigen befasst und eine erste gesetzgeberische Änderung vorgenommen. Die Aufnahme der Krankheitsverdächtigen in den Kreis der Entschädigungsberechtigten bei Tätigkeitsverboten wurde damit begründet, dass die Begriffsbestimmung von „krankheitsverdächtig“ im Bundesseuchengesetz geändert worden sei, die Entschädigungsvorschriften jedoch nicht angepasst worden seien (BT-Drs. 14/2530, S. 88). In der Begründung zur Änderung der Definition des Krankheitsverdächtigen wurde ausgeführt, dass die Definition des Krankheitsverdächtigen „im Wesentlichen“ der Definition des Bundesseuchengesetzes entspreche (BT-Drs. 14/2530, S. 43). Dafür, dass die Fallkonstellation der abgesonderten Krankheitsverdächtigen vom Gesetzgeber nicht übersehen worden war, lässt sich im Nachgang auch die Begründung des Änderungsgesetzes vom 19. Mai 2020, mit welcher erstmals Krankheitsverdächtige auch im Fall der Absonderung entschädigungsberechtigt wurden, heranziehen. Hiernach wurde nämlich die „Formulierung“ bzw. Entschädigungsberechtigung „angepasst“ (BT-Drs. 19/19216, S. 101). Dies bedeutet, dass der Gesetzgeber mit dem Gesetz vom 19. Mai 2020 eine (Neu-)Regelung und nicht lediglich eine Klarstellung einer bisher nicht geregelten Fallkonstellation vornehmen wollte.
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4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
31
5. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO, §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.