Titel:
Unionsrechtswidrigkeit der Abschiebungsandrohung gegen Mutter eines Säuglings mit Unionsbürgerschaft
Normenketten:
AsylG § 34 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 1
Rückführungs-RL Art. 3 Nr. 4, Art. 5 lit. a, lit. b, Art. 6
GG Art. 6
EMRK Art. 8
Leitsätze:
1. Bei einer Rückkehrentscheidung gegenüber dem Elternteil eines minderjährigen Kindes sind nicht nur das Wohl des Kindes und dessen familiäre Bindungen zum Elternteil zur berücksichtigen, sondern als eigenständige Rechtsposition des betroffenen Elternteils selbst auch dessen familiäre Bindung zum minderjährigen Kind. (Rn. 72) (redaktioneller Leitsatz)
2. Das Kindeswohl und familiäre Bindungen sind bereits im Rahmen eines zum Erlass einer Rückkehrentscheidung führenden Verfahrens zu schützen und nicht erst im Rahmen eines nachfolgenden Verfahrens betreffend den Vollzug der Rückkehrentscheidung. (Rn. 73) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Asylrecht, Herkunftsland: Irak, Unionsrechtswidrigkeit der Abschiebungsandrohung gegen Mutter eines Säuglings mit Unionsbürgerschaft, Kindeswohl, familiäre Bindungen zu einem minderjährigen Kind als eigenständige, schutzwürdige und berücksichtigungsfähige Rechtsposition des Elternteils, Herkunftsland Irak, Mutter irakische Staatsangehörige, kurdische Volkszugehörigkeit, Kind mit Unionsbürgerschaft, Unionsrechtswidrigkeit der Abschiebungsandrohung, familiäre Bindungen zum minderjährigen Kind, eigenständige schutzwürdige Rechtsposition des Elternteils, RL 2008/115/EG
Fundstelle:
BeckRS 2023, 15353
Tenor
I. Der Bescheid der Beklagten vom 09.05.2022 wird in Ziff. 5 und 6 aufgehoben. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Von den Kosten des Verfahrens hat die Klägerin 5/6, die Beklagte 1/6 zu tragen.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist im Kostenpunkt vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des jeweils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger Sicherheit in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Tatbestand
1
Die Klägerin wendet sich gegen einen Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (im Weiteren: Bundesamt) vom 09.05.2022, mit dem ihr Asylantrag abgelehnt wurde. Sie begehrt die Anerkennung als Asylberechtigte und Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise die Gewährung subsidiären Schutzes, weiter hilfsweise die Feststellung des Vorliegens von Abschiebungsverboten.
2
Nach eigenen Angaben ist die Klägerin am …1993 geboren und irakische Staatsangehörige vom Volke der Kurden und sunnitischen Glaubens. Sie reiste am 04.11.2021 auf dem Luftweg in die Bundesrepublik Deutschland ein und beantragte am 22.12.2021 beim Bundesamt ihre Anerkennung als Asylberechtigte.
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Bei ihrer Anhörung beim Bundesamt am … in … gab die Klägerin an, vor ihrer Ausreise aus dem Irak mit ihren Eltern und ihren Geschwistern in der Provinz … im Dorf … gelebt zu haben. Sie sei am 04.11.2021 mit einem Direktflug von … nach … gereist. Zur Finanzierung der Reise habe sie Geld gespart, Schmuck verkauft und Geld von ihrem Ehemann erhalten. Im Irak lebten noch Onkel, Tanten und die Großfamilie. Ihre Familie habe nicht viel Geld und die wirtschaftliche Situation sei schlecht gewesen. Sie selbst habe neun Jahre die Schule besucht, aber nicht abgeschlossen und im Verkauf und an der Kasse gearbeitet.
4
Auf Nachfrage zu ihrem Verfolgungsschicksal und den Gründen für ihren Asylantrag erklärte die Klägerin, dass sie den Irak verlassen habe, weil ihr Mann in Schweden lebe und sie ihn habe treffen wollen. Ihr Mann sei bereits seit mehreren Jahren in Schweden und sei schwedischer Staatsbürger. Ein Antrag auf Familienzusammenführung laufe derzeit. Sie habe aber ein deutsches und kein schwedisches Visum beantragt, weil es in … keine schwedische Botschaft gebe. Sie habe ihren Mann in Deutschland treffen und hier Urlaub machen wollen. Bei ihrer Einreise in Deutschland sei das Visum für ungültig erklärt worden. Sie wolle aber nicht in den Irak zurückkehren und habe deshalb einen Antrag auf Asyl in Deutschland gestellt, auch weil sie nach der Annullierung ihres Visums verunsichert gewesen sei. Sie sei im Irak nicht persönlich bedroht oder verfolgt worden. Sie wisse aber nicht, ob ihre Familie sie bei einer Rückkehr wieder aufnehmen und unterstützen würde. Im Jahr 2019 habe ihr großer Bruder sie auch einmal geschlagen und sie habe im Krankenhaus behandelt werden müssen. Ihre Eltern hätten ihrem Bruder aber gesagt, dass er sie nicht schlagen dürfe. Zur Polizei sei sie nicht gegangen, weil dies kein gutes Licht auf die Familie werfe. Weitere gewalttätige Übergriffe ihres Bruders habe es aber nicht gegeben. Bei einer Rückkehr in den Irak habe sie Angst vor ihrem großen Bruder.
5
Mit Bescheid vom 09.05.2022 (Az. …-438), der Klägerin gegen Empfangsbekenntnis ausgehändigt am 10.05.2022, lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Ziffer 1) sowie den Antrag auf Asylanerkennung (Ziffer 2) ab. Der subsidiäre Schutzstatus wurde nicht zuerkannt (Ziffer 3). Außerdem wurde festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) nicht vorliegen (Ziffer 4). Die Antragstellerin wurde unter Androhung der Abschiebung in den Irak aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens zu verlassen. Sie könne auch in einen anderen Staat abgeschoben werden, in den sie einreisen dürfe oder der zu ihrer Rückübernahme verpflichtet sei (Ziffer 5). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziffer 6). Auf die Begründung des Bescheids wird Bezug genommen.
6
Die Klägerin hat am 16.05.2022 zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle Klage gegen den Bescheid zum Bayerischen Verwaltungsgericht Regensburg erhoben. Zur Begründung bezog sich die Klägerin auf ihre bisherigen Angaben.
7
Die Klägerin beantragt,
1. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 09.05.2022, Az. 85894358-438 wird aufgehoben.
2. Die Beklagte wird verpflichtet, die Klägerin als Asylberechtigte anzuerkennen und ihr die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, hilfsweise der Klägerin subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen, weiter hilfsweise, bei der Klägerin Abschiebungsverbote festzustellen.
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Die Klage wurde nicht weiter begründet.
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Für die Beklagte hat das Bundesamt mit Schriftsatz vom 20.05.2022 beantragt,
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Zur Begründung wird auf den angefochtenen Bescheid Bezug genommen.
11
Mit Beschluss vom 20.03.2023 hat die Kammer den Rechtsstreit auf den Berichterstatter als Einzelrichter übertragen.
12
In der mündlichen Verhandlung vom 11.05.2023 wurde die Klägerin zu ihren Fluchtgründen angehört. Dabei gab sie an, dass ihr Ehemann immer noch in Schweden wohne und er sie bereits fünfmal in Deutschland besucht habe. Sie dürfe ihren Mann in Schweden aber nicht besuchen. Am 03.03.2023 sei ihre gemeinsame Tochter in Deutschland geboren worden. Mit ihrer noch im Heimatort lebenden Familie im Irak habe sie mit Ausnahme eines älteren Bruders regelmäßig Kontakt. Bei einer Rückkehr in den Irak habe sie Angst vor ihrem Bruder, der sie dreimal geschlagen und ihr dabei die Nase gebrochen habe. Das letzte Mal habe er sie zwei Monate vor ihrer Ausreise geschlagen. 2018 habe er ihr die Nase gebrochen. Der dritte Vorfall habe sich dazwischen einmal ereignet. Grund sei gewesen, dass ihr Ehemann fünfmal versucht habe, sie nach Schweden zu holen. Weil das wiederholt nicht geklappt habe, habe ihr Bruder verlangt, dass sie sich von ihm scheiden lasse. Das habe sie aber nicht gewollt. Der Bruder sei Polizeibeamter und ihre Familie habe sie auch nicht vor dem Bruder beschützen können. Sie glaube auch nicht, dass ihre Familie sie bei einer Rückkehr in den Irak unterstützen könnte. Sie habe außerdem Probleme mit der Schilddrüse und Asthma und müsse daher ein Asthmaspray nehmen.
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Die Klägerin legte außerdem eine Geburtsurkunde ihrer Tochter und die Erklärung ihres Ehemannes zur Anerkennung der Vaterschaft vor, laut welcher die Tochter nach wirksamer Vaterschaftsanerkennung die schwedische Staatsangehörigkeit hat.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, insbesondere das Protokoll über die mündliche Verhandlung am 11.05.2023 sowie auf die in elektronischer Form vorgelegte Behördenakte des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Das Gericht konnte trotz Ausbleibens eines Vertreters der Beklagten in der mündlichen Verhandlung verhandeln und entscheiden, da in der ordnungsgemäßen Ladung gemäß § 102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) auf diese Möglichkeit hingewiesen worden ist.
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Die zulässige Klage ist bezüglich der Ziffern 5 und 6 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 09.05.2023 (Az. …*), die deshalb aufzuheben waren, begründet. Im gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Asylgesetz (AsylG) maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung erweisen sich die Abschiebungsandrohung (Ziffer 5 des Bescheids) und das Einreise- und Aufenthaltsverbot (Ziffer 6 des Bescheids) als rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Im Übrigen ist der Bescheid der Beklagten vom 09.05.2022 rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten, § 113 Abs. 5 VwGO, denn die Klägerin erfüllt im gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nicht die Voraussetzungen für eine Anerkennung als Asylberechtigte, eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, die Gewährung subsidiären Schutzes oder die Feststellung nationaler Abschiebungshindernisse.
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1. Ein Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigte nach Art. 16a Abs. 1 Grundgesetz (GG) scheidet aus, weil der Klägerin im Irak keine politische Verfolgung droht. Insoweit wird auf die nachstehenden Ausführungen unter Nr. 2 verwiesen.
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2. Es besteht kein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
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a. Rechtsgrundlage der begehrten Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist § 3 Abs. 1 und 4 AsylG. Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) oder das Bundesamt hat nach § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG von der Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG abgesehen. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28.07.1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will. Von einer Verfolgung kann nur dann ausgegangen werden, wenn der Einzelne in Anknüpfung an die in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG genannten Merkmale Verfolgungshandlungen im Sinne des § 3a AsylG ausgesetzt ist. Die einzelnen Verfolgungshandlungen werden in § 3a AsylG näher umschrieben, die einzelnen Verfolgungsgründe werden in § 3b AsylG einer näheren Begriffsbestimmung zugeführt. Erforderlich ist insoweit, dass der Ausländer gezielte Rechtsverletzungen zu befürchten hat, die ihn wegen ihrer Intensität dazu zwingen, in begründeter Furcht vor einer ausweglosen Lage sein Heimatland zu verlassen und im Ausland Schutz zu suchen. An einer gezielten Rechtsverletzung fehlt es regelmäßig bei Nachteilen, die jemand aufgrund der allgemeinen Zustände in seinem Herkunftsland zu erleiden hat, etwa infolge von Naturkatastrophen, Arbeitslosigkeit, einer schlechten wirtschaftlichen Lage oder infolge allgemeiner Auswirkungen von Unruhen, Revolution und Kriegen (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 28.03.2014 – 13 A 1305/13.A –, juris, Rn. 21).
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Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG kann nach § 3c AsylG ausgehen vom Staat (Ziffer 1), Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (Ziffer 2) oder nichtstaatlichen Akteuren, sofern die vorgenannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (Ziffer 3). Die Flüchtlingseigenschaft wird gemäß § 3e AsylG nicht zuerkannt, wenn der Ausländer in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.
21
Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer die oben genannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit tatsächlich drohen. Dieser in dem Tatbestandsmerkmal „… aus der begründeten Furcht vor Verfolgung …“ des Art. 2 Buchst. d) der RL 2011/95/EU (sog. EU-Qualifikations-RL; im Folgenden EU-QRL) enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt („real risk“); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 – 10 C 23/12 –, juris, Rn. 32; BVerwG, Urteil vom 01.06.2011 – 10 C 25/10 –, juris, Rn. 22). Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 – 10 C 23/12 –, juris, Rn. 32 m.w.N.).
22
Das Gericht muss sich die volle Überzeugung von der Wahrheit – nicht nur von der Wahrscheinlichkeit – des vom Schutzsuchenden behaupteten individuellen Verfolgungsschicksals und der beachtlichen Wahrscheinlichkeit der Verfolgungsgefahr bilden. Angesichts des sachtypischen Beweisnotstandes, in dem sich Asylsuchende insbesondere hinsichtlich asylbegründender Vorgänge im Herkunftsstaat befinden, weil die üblichen Beweismittel ihnen häufig nicht zur Verfügung stehen und in der Regel unmittelbare Beweise im Verfolgerland nicht erhoben werden können, kommt dabei jedoch dem persönlichen Vorbringen des Asylsuchenden und dessen Würdigung für die Überzeugungsbildung des Gerichts eine gesteigerte Bedeutung zu und es genügt in der Regel die Glaubhaftmachung. Dies bedeutet anderseits jedoch nicht, dass das Gericht einer Überzeugungsbildung im Sinne des § 108 Abs. 1 VwGO enthoben ist. Allerdings darf das Gericht hinsichtlich der Vorgänge im Verfolgerland, die zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft führen sollen, keine unerfüllbaren Beweisanforderungen stellen, sondern muss sich in tatsächlich zweifelhaften Fragen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen, der den Zweifeln Schweigen gebietet, auch wenn sie nicht völlig auszuschließen sind (vgl. zum Ganzen grundlegend BVerwG Urteil vom 16.04.1985 – 9 C 109/84 –, juris, Rn. 16; BVerwG, Beschluss vom 23.05.1996 – 9 B 273/96 –, juris Rn. 2; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 05.12.2017 – A 11 S 1144/17 –, juris, Rn. 44 ff. m.w.N.). Es ist demzufolge zunächst Sache des Schutzsuchenden, darzulegen, dass in seinem Falle die tatsächlichen Grundlagen für eine Schutzgewährung, insbesondere also ein Verfolgungsschicksal und eine noch anhaltende Gefährdungssituation, gegeben sind. Wie sich aus Art. 4 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 und 5 EU-QRL ergibt, kann dabei von dem schutzsuchenden Ausländer erwartet werden, dass er sich nach Möglichkeit unter Vorlage entsprechender Urkunden bemüht, seine Identität und persönlichen Umstände sowie die geltend gemachte Verfolgung und Furcht vor einer Rückkehr nachzuweisen oder jedenfalls substantiiert glaubhaft zu machen. Soweit dies durch die Beschreibung der Lebensumstände und der Ausreisegründe geschieht, setzt dies die Schilderung eines in sich stimmigen Sachverhalts voraus, aus dem sich bei verständiger Würdigung die Gefahr erneuter Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ergibt. Hierzu gehört, dass er zu den in seine Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere zu seinen persönlichen Erlebnissen, eine Schilderung gibt, die geeignet ist, den behaupteten Anspruch lückenlos zu tragen. Die Angaben des Schutzsuchenden müssen durch Konkretheit, Anschaulichkeit und Detailreichtum erkennen lassen, dass sie wahrheitsgemäß sind und der behauptete Sachverhalt tatsächlich selbst erlebt worden ist (BVerwG, Urteil vom 10.05.1994 – 9 C 434/93 –, juris, Rn. 8; BVerwG, Beschluss vom 26.10.1989 – 9 B 405/89 –, juris, Rn. 8). Erhebliche Widersprüche und Unstimmigkeiten im Vorbringen können dem entgegenstehen, es sei denn, diese können überzeugend aufgelöst werden (BVerwG, Beschluss vom 21.06.1989 – 9 B 239/89 –, juris, Rn. 3). Auch ein im Laufe des Verfahrens gesteigertes Vorbringen kann zur fehlenden Glaubwürdigkeit führen (BVerwG, Beschluss vom 23.05.1996 – 9 B 273/96 –, juris, Rn. 2).
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Die Tatsache, dass ein Drittstaatsangehöriger bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ist gemäß Art. 4 Abs. 4 EU-QRL ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Ausländers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Betroffene erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Diese Regelung privilegiert den von ihr erfassten Personenkreis bei einer Vorverfolgung durch eine Beweiserleichterung, nicht aber durch einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Die Vorschrift begründet für die von ihr begünstigten Antragsteller eine widerlegbare Vermutung dafür, dass sie erneut von einem ernsthaften Schaden bei einer Rückkehr in ihr Heimatland bedroht werden. Dadurch wird der Antragsteller, der bereits einen ernsthaften Schaden erlitten hat oder von einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die einen solchen Schaden begründenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Diese Vermutung kann aber widerlegt werden; hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften (vgl. zum Ganzen BVerwG, Urteil vom 27.04.2010 – 10 C 5/09 –, juris, Rn. 23).
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b. Ausgehend von diesen Anforderungen hat die Klägerin keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 und Abs. 4 AsylG.
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Die Klägerin befindet sich nicht aus begründeter Furcht vor Verfolgung außerhalb ihres Heimatlandes. Ihr droht im Irak nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit aus einem in § 3b AsylG genannten Grund eine Verfolgung gemäß § 3a AsylG durch einen der in § 3c AsylG genannten Akteure. Anhaltspunkte für eine ihr individuell drohende flüchtlingsrelevante Einzelverfolgung hat die Klägerin nicht glaubhaft und substantiiert darlegen können und sind für das Gericht auch sonst nicht ersichtlich.
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Der Klägerin droht keine geschlechtsspezifische Verfolgung aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe. Es kann dahinstehen, ob – wie in der Rechtsprechung teilweise angenommen (statt aller jüngst VG Hannover, Urteil vom 14.04.2023 – 12 A 4071/18 –, juris, Rn. 21 m.w.N.) – alleinstehende oder alleinerziehende Frauen im Irak, welche nicht auf den Schutz eines Familienverbandes zurückgreifen können, eine bestimmte soziale Gruppe im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG bilden, deren Angehörigen im Irak eine geschlechtsspezifische Verfolgung drohen kann. Denn es handelt sich bei der Klägerin gerade nicht um eine unter diese soziale Gruppe fallende alleinstehende Frau. Sie hat selbst angegeben, dass sie vor ihrer Ausreise gemeinsam mit ihren Eltern und Geschwistern im Irak gelebt hat, diese sich immer noch am Heimatort befinden und sie immer noch regelmäßig in Kontakt mit ihnen steht. Es sind aus Sicht des zur Entscheidung berufenen Einzelrichters auch keine Anhaltspunkte ersichtlich und von der Klägerin auch nicht substantiiert vorgetragen worden, dass sie – selbst wenn sie nunmehr gemeinsam mit ihrer Tochter zurückkehren würde – nicht wieder in diese familiäre Lebensgemeinschaft und den bereits vor der Ausreise bestehenden Familienverband aufgenommen würde. Die Klägerin verfügt damit über einen Familienverband mit einem schutzbereiten männlichen Familienoberhaupt.
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Auch die vorgetragene Furcht der Klägerin vor ihrem Bruder vermag dem Begehren nach Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht zum Erfolg zu verhelfen. Selbst wenn man ihr diesbezügliches Vorbringen zu ihren Gunsten als wahr unterstellen und es für beachtlich wahrscheinlich halten würde, dass der Klägerin bei einer Rückkehr die Gefahr droht, von ihrem Bruder geschlagen zu werden, käme die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht in Betracht, weil diese Verfolgungshandlungen nicht an eines der in § 3b AsylG genannten Merkmale anknüpfen würden, sondern ihren Grund in einem Konflikt im persönlichen Bereich hätten.
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Darauf kommt es vorliegend allerdings gar nicht an. Denn das Gericht ist auf Grundlage der Angaben der Klägerin, insbesondere aufgrund des persönlich gewonnenen Eindrucks in der mündlichen Verhandlung, ohnehin schon nicht mit der nötigen Gewissheit davon überzeugt, dass die Klägerin aufgrund von Schlägen durch ihren Bruder aus dem Irak ausgereist ist und sie bei einer Rückkehr befürchten müsste, der Gefahr von körperlichen Angriffen durch ihren Bruder ausgesetzt zu sein. Das Gericht hält das Vorbringen der Klägerin insoweit nicht für glaubhaft, weil sie ihre Angaben in diesem Zusammenhang gegenüber ihren Angaben beim Bundesamt nicht unerheblich gesteigert hat. Zudem sind ihre Ausführungen in der mündlichen Verhandlung vage und detailarm geblieben und wichen hinsichtlich des Zeitpunkts, zu dem ihr Bruder ihr die Nase gebrochen haben soll, deutlich von den Angaben beim Bundesamt ab. Während die Klägerin beim Bundesamt noch angegeben hat, nur einmal, nämlich 2019, von ihrem Bruder geschlagen worden zu sein, hat sie in der mündlichen Verhandlung auf drei derartige Vorfälle verwiesen, wobei sich der Vorfall, bei dem ihr die Nase gebrochen worden sei, bereits 2018 ereignet haben soll. Zudem hat sie erstmals in der mündlichen Verhandlung geltend gemacht, ihr Bruder bekleide eine hohe Position bei der Polizei, was es ihr erschwere, sich Angriffen ihres Bruders zur Wehr zu setzen. Nachdem die Klägerin diese Abweichungen gegenüber ihren Angaben beim Bundesamt auch nicht plausibel erklären konnte und die geringe Intensität und Häufigkeit der Angriffe ihres Bruders maßgeblicher Aspekt in der Begründung des angegriffenen Bescheids waren, warum der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt werden kann, liegt es nahe, dass die Klägerin vor diesem Hintergrund ihr Vorbringen gesteigert hat, um ihrem Schutzbegehren nunmehr vermeintlich zum Erfolg zu verhelfen. Überdies ist auch festzuhalten, dass die angeblichen Angriffe durch ihren Bruder auch nicht fluchtauslösend und daher wohl nicht von so erheblicher Intensität waren, dass die Klägerin hätte Schutz im Ausland suchen muss. Denn als Ausreisegrund hat sie im Wesentlichen darauf verwiesen, ihren Ehemann in Schweden besuchen zu wollen. Zudem ist zwischen den Vorfällen – jedenfalls seit dem ersten, nach Darstellung der Klägerin schwerwiegendsten Vorfall – und ihrer Ausreise noch ein erheblicher, mehrjähriger Zeitraum vergangen.
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3. Der Klägerin steht auch nicht der hilfsweise geltend gemachte Anspruch auf Gewährung subsidiären Schutzes gemäß § 4 AsylG zu.
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a. Rechtsgrundlage des begehrten subsidiären Schutzes ist § 4 AsylG. Danach ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht und die Zuerkennung subsidiären Schutzes nicht nach § 4 Abs. 2 AsylG ausgeschlossen ist. Als ernsthafter Schaden gilt die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (§ 4 Abs. 1 Satz 1, 2 Nr. 1 AsylG), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (§ 4 Abs. 1 Satz 1, 2 Nr. 2 AsylG) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (§ 4 Abs. 1 Satz 1, 2 Nr. 3 AsylG). Nach § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG gelten die §§ 3c bis 3e AsylG entsprechend. Insbesondere ist deshalb zu beachten, dass die vorgenannten Gefahren gemäß § 4 Abs. 3 i.V.m. § 3c AsylG in der Regel von dem in Rede stehenden Staat oder den ihn beherrschenden Parteien oder Organisationen ausgehen müssen. Die Bedrohung durch nichtstaatliche Akteure kann hingegen nur dann zu subsidiärem Schutz führen, wenn der betreffende Staat selbst nicht willens oder nicht in der Lage ist, Schutz zu gewähren.
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Wie bei der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gilt auch im Rahmen des subsidiären Schutzes für die Beurteilung der Frage, ob ein ernsthafter Schaden droht, der einheitliche Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Dieser aus dem Tatbestandsmerkmal „… tatsächlich Gefahr liefe …“ des Art. 2 Buchst. f) EU-QRL abzuleitende Maßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des EGMR, der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt („real risk“), was dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entspricht (BVerwG, Urteil vom 17.11.2011 – 10 C 13/10 –, juris, Rn. 20). Auch im Rahmen des § 4 AsylG ist der der Prognose zugrunde zu legende Wahrscheinlichkeitsmaßstab außerdem zwar unabhängig davon, ob der Betroffene bereits vor seiner Ausreise einen ernsthaften Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 1 erlitten hat, dies stellt aber einen ernsthafter Hinweis dar, dass er tatsächlich Gefahr läuft, erneut ernsthaften Schaden zu erleiden. Denn auch diesbezüglich gilt die Vermutung gemäß Art. 4 Abs. 4 EU-QRL, dass sich eine frühere Verfolgung oder Schädigung bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen wird, wobei sich die Vermutungswirkung jedoch nicht auf das Vorliegen eines bewaffneten Konflikts oder auf ein hohes Niveau willkürlicher Gewalt gegen die Zivilbevölkerung erstreckt (BayVGH, Urteil vom 28.03.2017 – 20 B 15.30204 –, juris, Rn. 30; BVerwG, Urteil vom 27.04.2010 – 10 C 4/09 –, juris, Rn. 31).
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b. Anhaltspunkte, dass der Klägerin die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe und damit ein ernsthafter Schaden i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 1, 2 Nr. 1 AsylG drohen würde, sind weder ersichtlich noch von der Klägerin vorgetragen worden.
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c. Der Klägerin droht weder Folter noch eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG.
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Der Begriff der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG ist im Gesetz nicht näher definiert, aber – da die Vorschrift der Umsetzung der RL 2011/95/EU dient – in Übereinstimmung mit dem entsprechenden Begriff in Art. 15b RL 2011/95/EU auszulegen. Unter Heranziehung der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu Art. 15b RL 2011/95/EU und des EGMR zu Art. 3 EMRK ist unter einer unmenschlichen Behandlung die absichtliche, d.h. vorsätzliche Zufügung schwerer körperlicher oder seelischer Leiden, die im Hinblick auf Intensität und Dauer eine hinreichende Schwere aufweisen, zu verstehen. Es muss zumindest eine erniedrigende Behandlung in Form einer einen bestimmten Schweregrad erreichenden Demütigung oder Herabsetzung vorliegen. Diese ist dann gegeben, wenn bei dem Opfer Gefühle von Furcht, Todesangst und Minderwertigkeit verursacht werden, die geeignet sind, diese Person zu erniedrigen oder zu entwürdigen und möglicherweise ihren psychischen oder moralischen Widerstand zu brechen (BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 – 10 C 15/12 –, juris, Rn. 22 ff.; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 05.12.2017 – A 11 S 1144/17 –, juris, Rn. 174 ff. m.w.N.; VG Würzburg, Urteil vom 23.01.2018 – W 1 K 16.32602 –, juris, Rn. 20 m.w.N.). Der Begriff der Folter ist unter Rückgriff auf die inhaltlich übereinstimmende Rechtsprechung des EGMR und die UN-Anti-Folter-Konvention auszulegen (Kluth, in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, 36. Edition 01.01.2023, § 4 AsylG Rn. 13). Nach Art. 1 Abs. 1 dieser Konvention ist unter Folter jede Handlung zu verstehen, durch die einer Person vorsätzlich starke körperliche oder geistig-seelische Schmerzen oder Leiden zugefügt werden, sofern dies zum Beispiel in der Absicht erfolgt, von ihm oder einem Dritten eine Auskunft oder ein Geständnis zu erzwingen, ihn für eine tatsächlich oder mutmaßlich von ihm oder einem Dritten begangene Tat zu bestrafen, ihn oder einen Dritten einzuschüchtern oder zu nötigen oder in irgendeiner anderen, auf irgendeiner Art der Diskriminierung beruhenden Absicht geschieht, und sofern solche Schmerzen oder Leiden von einem öffentlichen Bediensteten oder einer anderen in amtlicher Eigenschaft handelnden Person bzw. auf deren Veranlassung mit der Zustimmung oder mit deren stillschweigendem Einverständnis verursacht werden.
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Unter Berücksichtigung dieser Anforderungen droht der Klägerin wegen der Unglaubhaftigkeit ihres Vorbringens für den Fall ihrer Rückkehr kein ernsthafter Schaden durch Folter oder durch unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG. Es ist nicht glaubhaft und beachtlich wahrscheinlich, dass die Klägerin aufgrund von körperlichen Angriffen aus dem Irak ausgereist ist und ihr dies bei einer Rückkehr wieder drohen könnte. Insoweit kann auf die Ausführungen zu § 3 AsylG in vollem Umfang verwiesen werden.
36
Die Gewährung subsidiären Schutzes auf Grundlage von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG kommt auch nicht unter dem Gesichtspunkt der allgemeinen Versorgungs- und Sicherheitslage oder der schlechten humanitären Situation der Zivilbevölkerung im Irak in Betracht. Schlechte humanitäre Bedingungen, die nicht auf direkte oder indirekte Handlungen oder Unterlassungen staatlicher oder nichtstaatlicher Akteure zurückzuführen sind, können nicht zur Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG, sondern allenfalls zu einem Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK führen (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.5.2020 – 1 C 11.19 –, juris, Rn. 11 ff.). Denn es reicht nicht aus, dass die Voraussetzungen eines Tatbestandes nach § 4 Abs. 1 AsylG erfüllt sind. Vielmehr sind – neben § 4 Abs. 2 AsylG – gemäß § 4 Abs. 3 AsylG auch die Anforderungen der § 3c bis 3e AsylG zu beachten, die für den subsidiären Schutz entsprechend gelten. Erforderlich ist daher, dass die Gefahr eines ernsthaften Schadens von einem der in § 3c AsylG genannten Akteure ausgeht, also vom Staat, von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die vorgenannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor einem ernsthaften Schaden beziehungsweise der tatsächlichen Gefahr eines ernsthaften Schadens zu bieten.
37
An einem Akteur i.S.d. § 4 Abs. 3 i.V.m. § 3c AsylG fehlt es hier, denn die humanitäre Lage und die prekären Lebensumstände sind keinem der genannten Akteure nach § 3c AsylG zuzurechnen. Die schlechte Versorgungslage (betreffend Nahrung, Wohnraum, Gesundheitsversorgung) wird durch die sich nach der Corona-Pandemie und dem vorübergehenden Sinken des Ölpreises erst langsam wieder erholende wirtschaftliche Entwicklung des Iraks, die dort herrschenden Umweltbedingungen (vor allem Wasserknappheit infolge von Dürren und allgemein schwieriger klimatischer Bedingungen) sowie durch die teils noch volatile Sicherheitslage negativ beeinflusst und bestimmt. Insofern ist nicht festzustellen, dass einem der in Betracht kommenden Akteure ein wesentlicher Beitrag direkt oder indirekt anzulasten wäre und eine Verhaltensänderung zu einer unmittelbaren Verbesserung der Lage führen könnte. Den Erkenntnismitteln ist nicht zu entnehmen, dass der irakische Staat ein Interesse an einer Verschärfung oder Aufrechterhaltung der schlechten humanitären Lage zeigt und dies auf seine Handlungen oder Unterlassungen zurückzuführen ist (vgl. auch OVG Lüneburg, Beschluss vom 11.03.2021 – 9 LB 129/19 –, juris, Rn. 104).
38
d. Zugunsten der Klägerin greift auch nicht die Schutzregelung nach § 4 Abs. 1 Satz 1, 2 Nr. 3 AsylG.
39
Eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit der Klägerin infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts liegt nicht vor.
40
(1) Mit dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) ist Art. 15 Buchst. c) EU-QRL (und damit der diesem entsprechende, wortlautgleiche § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG) dahingehend auszulegen, dass für die Anwendung dieser Bestimmung vom Vorliegen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts auszugehen ist, wenn die regulären Streitkräfte eines Staates auf eine oder mehrere bewaffnete Gruppen treffen oder wenn zwei oder mehrere bewaffnete Gruppen aufeinandertreffen, ohne dass dieser Konflikt als bewaffneter Konflikt, der keinen internationalen Charakter aufweist, im Sinne des humanitären Völkerrechts eingestuft zu werden braucht (EuGH, Urteil vom 30.01.2014 – C-285/12 –, juris, Rn. 27 ff.). Die Gewährung subsidiären Schutzes kommt nur in Betracht, wenn der den bestehenden Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt ein so hohes Niveau erreicht, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei ihrer Rückkehr in den Irak oder in die von dem bewaffneten Konflikt betroffene Region allein durch ihre dortige Anwesenheit tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften individuellen Bedrohung ihres Lebens oder ihrer Unversehrtheit ausgesetzt zu sein (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.5.2020 – 1 C 11.19 –, juris, Rn. 19; EuGH, Urteil vom 17.02.2009 – C-465/07 –, juris, Rn. 35). Die Feststellung des Vorliegens eines bewaffneten Konflikts darf nicht von einem bestimmten Organisationsgrad der vorhandenen bewaffneten Streitkräfte oder von einer bestimmten Dauer des Konflikts abhängig gemacht werden, wenn diese dafür genügen, dass durch die Auseinandersetzungen, an denen die Streitkräfte beteiligt sind, ein derartiger Grad an willkürlicher Gewalt entsteht (EuGH, Urteil vom 30.01.2014 – C-285/12 –, juris, Rn. 34).
41
Der innerstaatliche bewaffnete Konflikt muss sich dabei nicht auf das gesamte Staatsgebiet erstrecken. Die Voraussetzungen für die Gewährung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 Satz 1, 2 Nr. 3 AsylG können auch erfüllt sein, wenn sich der innerstaatliche bewaffnete Konflikt auf einen Teil des Staatsgebiets beschränkt und dem Ausländer die gesetzlich definierte Gefahr in diesem Landesteil droht. In diesem Fall ist Bezugspunkt für die Gefahrenprognose der tatsächliche Zielort des Ausländers bei einer Rückkehr. Das ist in der Regel seine Herkunftsregion, in die er typischerweise zurückkehren wird, soweit sich der Ausländer nicht bereits vor seiner Ausreise und unabhängig von den fluchtauslösenden Umständen von dieser gelöst hat und sich in einem anderen Landesteil auf unabsehbare Zeit niedergelassen hat. Auf einen bewaffneten Konflikt außerhalb der Herkunftsregion des Ausländers kann es nur ausnahmsweise ankommen. Bei einem regional begrenzten Konflikt außerhalb seiner Herkunftsregion muss der Ausländer stichhaltige Gründe dafür vorbringen, dass für ihn eine Rückkehr in seine Herkunftsregion ausscheidet und nur eine Rückkehr gerade in die Gefahrenzone in Betracht kommt (BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 – 10 C 15/12 –, juris, Rn. 13 f.; BVerwG, Urteil vom 14.07.2009 – 10 C 9/08 –, juris, Rn. 17; BVerwG, Urteil vom 24.06.2008 – 10 C 43/07 –, juris, Rn. 25). Ergibt sich, dass in der für ihn maßgeblichen Region eine individuelle Bedrohung des Ausländers wegen eines außergewöhnlich hohen Niveaus allgemeiner Gefahren im Rahmen eines bewaffneten Konflikts anzunehmen ist, ist weiter zu prüfen, ob der Ausländer in anderen Teilen des Herkunftslandes, in denen derartige Gefahren nicht bestehen, internen Schutz gemäß §§ 4 Abs. 3 Satz 1, 3e AsylG finden kann (BVerwG, Urteil vom 14.07.2009 – 10 C 9/08 –, juris, Rn. 18; BVerwG, Urteil vom 24.06.2008 – 10 C 43/07 –, juris, Rn. 30 ff.).
42
Mit Blick auf die erforderliche individuelle Gefährdung genügt es nicht, dass der innerstaatliche bewaffnete Konflikt zu permanenten Gefährdungen der Bevölkerung und zu schweren Menschenrechtsverletzungen führt. Die von einem bewaffneten Konflikt ausgehende allgemeine Gefahr muss sich für die Gewährung subsidiären Schutzes in der Person des schutzsuchenden Ausländers so verdichten, dass sie für diese Person eine erhebliche individuelle Gefahr i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG darstellt (BVerwG, Urteil vom 20.05.2020 – 1 C 11/19 –, juris Rn. 19; BVerwG, Urteil vom 13.02.2014 – 10 C 6/13 –, juris, Rn. 24; EuGH, Urteil vom 17.02.2009 – C-465/07 –, juris, Rn. 35 ff.). Eine derartige Individualisierung kann sich bei einem hohen Niveau willkürlicher Gewalt für die Zivilbevölkerung aus gefahrerhöhenden Umständen in der Person des Betroffenen ergeben. Dazu gehören in erster Linie persönliche Umstände, die den Ausländer von der allgemeinen, ungezielten Gewalt stärker betroffen erscheinen lassen, etwa weil er von Berufs wegen – z.B. als Arzt oder Journalist – gezwungen ist, sich nahe der Gefahrenquelle aufzuhalten. Zu berücksichtigen sind aber auch solche persönlichen Umstände, aufgrund derer der Ausländer als Zivilperson zusätzlich der Gefahr gezielter Gewaltakte – etwa wegen seiner religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit – ausgesetzt ist, sofern deswegen nicht bereits die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in Betracht kommt (BVerwG, Urteil vom 20.05.2020 – 1 C 11/19 –, juris, Rn. 20; BVerwG, Urteil vom 27.04.2010 – 10 C 4/09 –, juris, Rn. 33). Die erforderliche individuelle Gefahr muss sich aber nicht notwendig auf die spezifische persönliche Situation des schutzsuchenden Ausländers zurückführen lassen. Eine Individualisierung der allgemeinen Gefahr kann ausnahmsweise auch in Fällen, in denen individuelle gefahrerhöhende Umstände fehlen, bei einer außergewöhnlichen Situation eintreten, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre (BVerwG, Urteil vom 20.05.2020 – 1 C 11/19 –, juris, Rn. 21; BVerwG, Urteil vom 14.07.2009 – 10 C 9/08 –, juris, Rn. 15; EuGH, Urteil vom 17.02.2009 – C-465/07 –, juris, Rn. 43).
43
(2) Es kann dahinstehen, ob in der Heimat der Klägerin ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt besteht. Das Tatbestandsmerkmal der „ernsthaften individuellen Bedrohung“ gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG liegt in der Person der Klägerin nicht vor. Dieses erfordert nämlich nach oben dargelegten Maßstäben entweder eine solche Gefahrendichte, dass jedermann alleine aufgrund seiner Anwesenheit im jeweiligen Gebiet mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit damit rechnen muss, Opfer willkürlicher Gewalt zu werden oder persönliche Umstände, die das derartige Risiko erheblich erhöhen. Dies ist im Fall der Klägerin beides nicht ersichtlich.
44
Eine Gefahrendichte im Sinne der erstgenannten Alternative ist im Irak im nach § 77 Abs. 1 AsylG maßgebenden Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nach den vorliegenden Erkenntnissen nicht gegeben. Zur Bestimmung der erforderlichen Gefahrendichte für die Zivilbevölkerung bedarf es zunächst einer annäherungsweise quantitativen Ermittlung des Tötungs- und Verletzungsrisikos durch Gegenüberstellung der Gesamtzahl der in dem betreffenden Gebiet lebenden Zivilpersonen und der Zahl der Opfer von Akten willkürlicher Gewalt, die von den Konfliktparteien gegen Leib und Leben von Zivilpersonen in diesem Gebiet verübt werden, auf deren Grundlage eine wertende Gesamtbetrachtung zur individuellen Betroffenheit des schutzsuchenden Ausländers mit Blick auf die Schwere der Schädigungen unter Berücksichtigung der medizinischen Versorgungslage in dem jeweiligen Gebiet zu erfolgen hat (ständige Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, vgl. z.B. Urteil vom 20.05.2022 – 1 C 11/19 –, juris, Rn. 21; Urteil vom 13.02.2014 – 10 C 6/13 –, juris, Rn. 24 und Urteil vom 17.11.2011 – 10 C 13/10 –, juris, Rn. 23). Der „quantitative“ Ansatz für die Ermittlung des Tötungs- und Verletzungsrisikos zielt dabei nicht auf einen auf alle Konfliktlagen anzuwendenden „Gefahrenwert“ im Sinne einer zwingend zu beachtenden mathematisch-statistischen Mindestschwelle, sondern lässt durch das Erfordernis einer abschließenden Gesamtbetrachtung ausreichend Raum für qualitative Wertungen (BVerwG, Urteil vom 20.05.2020 – 1 C 11.19 –, juris, Rn. 21; ferner EuGH, Urteil vom 10.06.2021, C-901/19 –, juris, wonach die Feststellung einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts nicht voraussetze, dass das Verhältnis der Zahl der Opfer in dem betreffenden Gebiet zur Gesamtzahl der Bevölkerung dieses Gebiets eine bestimmte Schwelle erreiche, vielmehr eine umfassende Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere derjenigen, die die Situation des Herkunftslands des Schutzsuchenden kennzeichnen, erforderlich sei).
45
Bei Anlegung dieses Maßstabs kann die erforderliche Gefahrendichte nicht bejaht werden. Die Sicherheitslage im Irak hat sich seit dem Ende der groß angelegten Kämpfe gegen den Islamischen Staat (IS) erheblich verbessert, bleibt aber gleichwohl in vielen Teilen des Iraks instabil (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Irak, 22.08.2022, S. 19 f.). Der IS ist – wenn auch im „Verborgenen“ – weiterhin aktiv und hat einen Strategiewechsel hin zu einer asymmetrischen Kriegsführung aus dem Untergrund mit kleineren Anschlägen vorgenommen; er zählt daher weiterhin zu den primären terroristischen Bedrohungen im Irak (AA, Lagebericht, Stand: Oktober 2022, S. 14; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Irak, 22.08.2022, S. 19, S. 22 ff.). Zusätzlich agieren insbesondere schiitische Milizen (Volksmobilisierungskräfte, PMF), aber auch sunnitische Stammesmilizen eigenmächtig. Die ursprünglich für den Kampf gegen den IS mobilisierten, zum Teil vom Iran unterstützten Milizen sind nur eingeschränkt durch die Regierung kontrollierbar und stellen eine potenziell erhebliche Bedrohung für die Bevölkerung dar (AA, Lagebericht, Stand: Oktober 2022, S. 14 f.; EUAA, Iraq Security Situation, January 2022, S. 38 ff.). Die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), eine Terrorgruppe mit Sitz in den Bergen des Nordiraks, verübte ebenfalls mehrere Anschläge in der Kurdistan Region Irak (KRI), bei denen auch mehrere Angehörige der kurdischen Sicherheitskräfte getötet wurden. Auch gewisse mit dem Iran verbündete Milizen stellen eine terroristische Bedrohung dar (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Irak, 22.08.2022, S. 19 f.; EUAA, Iraq Security Situation, January 2022, S. 43 f.). Die Türkei führt regelmäßig Luftangriffe auf PKK-Stellungen im Nordirak durch. Vereinzelt gibt es auch Berichte über zivile Opfer dieser Angriffe. Auch die iranischen Sicherheitskräfte führen Luftschläge gegen kurdische Gruppierungen im Nordirak aus. Die jüngsten Attacken Ende September 2022 erreichten in Umfang, Intensität und Dauer ein bisher unerreichtes Ausmaß und richteten sich auch gegen im Landesinnern der RKI liegende Einrichtungen iranisch-kurdischer Oppositionsparteien (AA, Lagebericht, Stand: Oktober 2022, S. 14; EUAA, Iraq Security Situation, January 2022, S. 46 f.). Dennoch hat sich bei einer Gesamtbetrachtung die Zahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle mit zivilen Opfern deutlich reduziert (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Irak, 22.08.2022, S. 25 f.). Unter Zugrundelegung der Zahl der bekannten sicherheitsrelevanten Vorfälle bzw. ziviler Opfer, insbesondere in Relation zur Einwohnerzahl (vgl. zur aktuellen Lage etwa UK Home Office, Country Policy and Information Note – Iraq: Security Situatin, November 2022, S. 16 ff.; EUAA, Iraq Security Situation, January 2022, S. 52 ff.), muss in keinem Teil des Landes damit gerechnet werden, allein aufgrund bloßer Anwesenheit im jeweiligen Gebiet mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Opfer willkürlicher Gewalt zu werden (so auch EUAA, Country Guidance Iraq, Juni 2022, S. 177).
46
Dies gilt auch für die Herkunftsregion der Klägerin, welche im Irak in der Kurdistan Region Irak (KRI) im Gouvernement … gelebt hat. In der KRI üben die kurdischen Kräfte jedenfalls in städtischen Gebieten das Monopol auf die Anwendung legitimer Gewalt aus. In den Grenzgebieten, insbesondere im Sinjar-Gebirge, betreibt die PKK illegale Kontrollpunkte und erhebt Steuern von Einwohnern. Türkische Kräfte sind in den an die türkisch-irakische Grenze angrenzenden Gebieten im Rahmen von militärischen Operationen präsent und errichten auch Militärstützpunkte. Nach dem Rückgang der Bedrohung durch den IS, welcher nunmehr zu gelegentlichen, kleineren und gezielten Angriffen übergegangen ist und Angriffe auf kurdische Sicherheitskräfte verstärkt, unternehmen auch Peschmerga-Truppen der kurdischen Regionalregierung Versuche, die PKK aus der Region zu vertreiben (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Irak, 22.08.2022, S. 40 f.). Auch im Gouvernement … prägen Auseinandersetzungen mit der PKK sowie mit dem IS die Sicherheitslage (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Irak, 22.08.2022, S. 42 f.). Gleichwohl sind nur wenige sicherheitsrelevante Vorfälle, insbesondere solche, bei denen gezielt Zivilisten angegriffen werden oder Zivilisten zu Betroffenen gehörten, zu verzeichnen. Im Gouvernement … kam es zwar im Jahr 2021 zu 604 und im ersten Halbjahr 2022 zu 202 Vorfällen, die aber fast alle im Zusammenhang mit Kampfhandlungen zwischen der türkischen Armee und der PKK oder Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und dem IS standen (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Irak, 22.08.2022, S. 43 f.; UK Home Office, Country Policy and Information Note – Iraq: Security Situatin, November 2022, S. 23, S. 32). Für das Jahr 2022 insgesamt wurden 543 Vorfälle erfasst (ACCORD, Irak, Jahr 2022: Kurzübersicht über Vorfälle, S.4). Nur 25 dieser Vorfälle im Jahr 2021 und lediglich drei Vorfälle im ersten Halbjahr waren aber gezielt gegen Zivilisten gerichtet oder betrafen Zivilisten als Opfer (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Irak, 22.08.2022, S. 49 f.). Dabei waren im Gouvernement … im ersten Halbjahr 2022 drei und im Jahr 2021 insgesamt elf zivile Opfer zu verzeichnen (UK Home Office, Country Policy and Information Note – Iraq: Security Situatin, November 2022, S. 27, S. 34). Im Jahr 2022 gab es insgesamt 402 Todesopfer (ACCORD, Irak, Jahr 2022: Kurzübersicht über Vorfälle, S.4) Auch wenn die Zahl der Vorfälle in der Region damit über dem Durchschnitt des Landes liegen mag, ist sie jedoch nicht so hoch, dass damit gerechnet werden muss, allein aufgrund bloßer Anwesenheit in dem Gebiet mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Opfer willkürlicher Gewalt zu werden (so auch EUAA, Country Guidance Iraq, Juni 2022, S. 177). Berichte, dass sich die Sicherheitslage in den letzten Monaten akut verschlechtert hat, bestehen nicht.
47
Auf die Situation in … ist neben der landesweiten Gefährdungslage für die vorliegend vorzunehmende Beurteilung nach den genannten Grundsätzen besonderes Augenmerk zu legen, weil es sich dabei um die Herkunftsregion der Klägerin handelt, in die diese typischerweise – zumal dort noch Verwandte von ihr leben – zurückkehren dürfte.
48
Davon ausgehend ergibt sich, auch bei wertender Gesamtbetrachtung unter Berücksichtigung weiterer Umstände, wie etwa der medizinischen Versorgungslage, der humanitären Situation oder der Auswirkungen des Konflikts auf die Infrastruktur im Konfliktgebiet, oder spezifischer Eigenheiten einzelner Konfliktsituationen und der Art und Weise des taktischen Vorgehens von Konfliktakteuren kein Anlass zu der Annahme, dass eine Bedrohungslage vorliegt, bei der die Klägerin bei einer Rückkehr in sein Heimatland einer individuellen Gefährdung im oben dargestellten Sinne ausgesetzt wäre.
49
Spezifische, individuell gefahrerhöhende Umstände, im Irak Opfer willkürlicher Gewalt zu werden, kann die Klägerin nicht erfolgreich geltend machen. Besondere Umstände (z.B. Beruf, Ethnie, Religionszugehörigkeit) dafür, dass sie individuell einem besonders hohen Risiko ausgesetzt wäre und diese sie von der allgemeinen, ungezielten Gewalt stärker betroffen erscheinen lassen, sind in der Person der Klägerin nicht ersichtlich.
50
4. Die Voraussetzungen für die weiter hilfsweise begehrte Feststellung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG sind nicht gegeben.
51
a. Es besteht kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG.
52
Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. In Betracht kommt im Zusammenhang mit einer Abschiebung insbesondere eine Verletzung von Art. 3 EMRK. Gemäß Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden. Im Falle einer Abschiebung wird eine Verantwortlichkeit der Bundesrepublik Deutschland nach Art. 3 EMRK dann begründet, wenn erhebliche Gründe für die Annahme bestehen, dass der Betroffene im Fall der Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein. Dazu, dass dies wegen der Sicherheitslage im Irak nicht der Fall ist, gelten die Ausführungen zu § 4 AsylG unter 3. entsprechend.
53
Eine Verletzung des Art. 3 EMRK kann weiter in Betracht kommen bei der Abschiebung in ein Aufnahmeland, in dem so schlechte humanitäre Bedingungen bestehen, dass der Aufenthalt dort eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung darstellt (EGMR, Urteil vom 21.01.2011 – Nr. 30696/06 –, juris; BVerwG, Urteil vom 04.07.2019 – 1 C 45/18 –, juris, Rn. 12; BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 – 10 C 15/12 –, juris, Rn. 22 ff.; BayVGH, Urteil vom 21.11.2018 – 13a B 18.30632 –, juris, Rn. 26). Dies gilt aber nur in ganz außergewöhnlichen Fällen, wenn die humanitären Gründe gegen die Ausweisung „zwingend“ sind mit Blick auf die allgemeine wirtschaftliche Lage und die Versorgungslage betreffend Nahrung, Wohnraum und Gesundheitsversorgung (BVerwG, Beschluss vom 23.08.2018 – 1 B 42/18 –, juris, Rn. 9; BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 – 10 C 15/12 –, juris, Rn. 25). Die einem Ausländer im Zielstaat drohenden Gefahren müssen hierfür jedenfalls ein „Mindestmaß an Schwere“ (minimum level of severity) aufweisen (vgl. EGMR, Urteil vom 13.12.2016 – Nr. 41738/10 –, juris Rn. 174; EuGH, Urteil vom 16.02.2017 – C-578/16 PPU –, juris, Rn. 68); es kann erreicht sein, wenn er seinen existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern kann, kein Obdach findet oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhält (s.a. BVerwG, Beschluss vom 23.08.2018 – 1 B 42/18 –, juris, Rn. 11). In seiner jüngeren Rechtsprechung stellt der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH, Urteil vom 19.03.2019 – C-297/17, C-318/17, C-319/17 und C-438/17 –, juris, Rn. 89 ff.; EuGH, Urteil vom 19.03.2019 – C-163/17 –, juris, Rn. 91 ff.) darauf ab, ob sich die betroffene Person „unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not“ befindet, „die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre“.
54
Ein derartiger extremer Ausnahmefall liegt bei einer Gesamtschau der in das Verfahren eingeführten aktuellen Erkenntnismittel und unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls nicht vor. Der Klägerin droht aufgrund ihrer individuellen Voraussetzungen und ihrer konkret zu erwartenden Lebenssituation bei einer Rückkehr in den Irak nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine extreme Gefahrenlage aufgrund der humanitären Lage im Irak.
55
Der Irak ist eines der am stärksten vom Öl abhängigen Länder der Welt. Jenseits des Ölsektors – daraus stammen über 90% der Staatseinnahmen – verfügt der Irak kaum über eigene Industrie. Der Hauptarbeitgeber ist die öffentliche Hand. Diese übermäßige Abhängigkeit vom Öl setzt das Land makroökonomischer Volatilität aus (AA, Lagebericht, Stand: Oktober 2022, S. 22; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Irak, 22.08.2022, S. 237). Die seit 2020 sinkenden Ölpreise und die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie haben sich negativ auf die Wirtschaftsentwicklung niedergeschlagen, zwischenzeitlich erholt sich die Wirtschaft, u.a. aufgrund der Trendwende an den Ölmärkten, aber wieder und es wird ein Wirtschaftswachstum prognostiziert (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Irak, 22.08.2022, S. 237 f.; UK Home Office, Country Policy and Information Note, Iraq: Humanitarian Situation, August 2022, S. 9). Die Stabilisierungsbemühungen und der Wiederaufbau durch die irakische Regierung nach dem militärischen Sieg über den „IS“ werden intensiv von UNDP und internationalen Gebern unterstützt (AA, Lagebericht, Stand: Oktober 2022, S. 22). Gleichwohl ist die Arbeitslosenquote im Irak immer noch hoch. Ein Vierteil der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter ist nicht ausgelastet, d.h. entweder arbeitslos oder unterbeschäftigt (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Irak, 22.08.2022, S. 238 f.).
56
Der Staat kann die Grundversorgung der Bürger nicht kontinuierlich und in allen Landesteilen gewährleisten. Die durch Jahrzehnte internationaler Isolation und Krieg vernachlässigte Infrastruktur ist stark sanierungsbedürftig (AA, Lagebericht, Stand: Oktober 2022, S. 22). Selbst in Bagdad ist die öffentliche Stromversorgung vor allem in den Sommermonaten häufig unterbrochen. Hinzu kommen Anschläge des „IS“ auf Strommasten. Die Wasserversorgung leidet unter völlig maroden und teilweise im Krieg zerstörten Leitungen. Sie führen zu hohen Transportverlusten und Seuchengefahr. Hinzu kommt Verschmutzung durch (Industrie-)Abfälle. Nur die Hälfte der Bevölkerung verfügt über Zugang zu sauberem Wasser (AA, Lagebericht, Stand: Oktober 2022, S. 22 f.). Trinkwasser ist jedoch in allen Gouvernements verfügbar (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Irak, 22.08.2022, S. 241 f.). Der Irak ist in hohem Maße von Nahrungsmittelimporten (schätzungsweise 50% des Nahrungsmittelbedarfs) abhängig, wobei Grundnahrungsmittel jedoch in allen Gouvernements verfügbar sind (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Irak, 22.08.2022, S. 240 f.). Die große Mehrheit der Bevölkerung verfügt über eine angemessene Wohnung (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Irak, 22.08.2022, S. 242 f.). Anhaltspunkte für weitverbreitete Obdachlosigkeit lassen sich den zur Verfügung stehenden Erkenntnismitteln nicht entnehmen.
57
Auch die medizinische Versorgungssituation bleibt angespannt. Der Gesundheitssektor im Irak hat unter den Kriegen, den Sanktionen, der Korruption und den mangelnden Investitionen gelitten. Das Gesundheitswesen besteht aus einem privaten und einem öffentlichen Sektor. Öffentliche Krankenhäuser berechnen niedrigere Kosten für Untersuchungen und Medikamente als der private Sektor. Allerdings sind nicht alle medizinischen Leistungen in öffentlichen Einrichtungen verfügbar und von geringerer Qualität als jene im privaten Sektor. Eine Grund- und Erstversorgung ist aber durchgehend, auch im ländlichen Bereich, gegeben (AA, Lagebericht, Stand: Oktober 2022, S. 22 f.; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Irak, 22.08.2022, S. 271 f.).
58
Im Fall einer Rückkehr in den Irak ist anzunehmen, dass die Klägerin in ihre Heimatregion im Gouvernement … in der Kurdistan Region Irak (KRI) zurückkehren wird. Wie im gesamten Land ist auch in der KRI das Erdöl die Haupteinnahmequelle und trägt fast 80% zum BIP der Region bei. Die Landwirtschaft macht etwa 10% des BIP aus, der Tourismus 4% und Dienstleistungen und sonstige Industrie 6%. Öl macht auch bis zu 90% der Exporte aus der Region aus. Gehaltskürzungen und verzögerte Gehaltszahlungen haben teils zu einem Rückgang der Familieneinkommen geführt. Grundnahrungsmittel sind in allen Gouvernements ebenso wie Trinkwasser trotz Wasserknappheit verfügbar. Die Stromversorgung unterliegt erheblichen Schwankungen, da insbesondere im Sommer und Winter der Strombedarf wegen Klimatisierung bzw. Heizung höher ist, kann aber die meiste Zeit des Tages gewährleistet werden. Darüber hinaus werden Generatoren verwendet, um den gesamten Bedarf abdecken zu können (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Irak, 22.08.2022, S. 262 f.). Die staatliche medizinische Versorgung in der RKI ist kostenlos bzw. sehr kostengünstig, allerdings qualitativ schlecht und mit langen Wartezeiten verbunden. Private Krankenhäuser auf hohem medizinischem Niveau sind kostspielig und sind nur für die obere Mittelschicht erschwinglich (AA, Lagebericht, Stand: Oktober 2022, S. 24).
59
Das Gouvernement … ist im Sommer immer wieder von Dürre betroffen. Zusätzlich beeinträchtigt Stromknappheit die Wasserversorgung (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Irak, 22.08.2022, S. 264).
60
In einer Gesamtschau der in das Verfahren eingeführten aktuellen Erkenntnismittel ergibt sich damit zwar, dass die humanitäre Situation im Irak und auch in der Heimatregion der Klägerin angespannt ist und ein nicht unerheblicher Teil der Bevölkerung in prekären Verhältnissen lebt (siehe zusammenfassend auch UK Home Office, Country Policy and Information Note, Iraq: Humanitarian Situation, August 2022, S. 9 ff.). Die Versorgungslage ist aus Sicht des zur Entscheidung berufenen Einzelrichters jedoch nicht so desolat, dass mit der erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden muss, dass jeder Rückkehrer im Irak alsbald in existenzielle Gefahr gerät. Sie begründet insbesondere auch im Fall der Klägerin nicht die Annahme eines außergewöhnlichen Falles, in dem die Klägerin bei einer Rückkehr mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit eine humanitäre Situation erwartet, die zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.d. Art. 3 EMRK führt.
61
Bei der anzustellenden Rückkehrprognose, im Rahmen derer zu prüfen ist, welche Gefahren einem Ausländer bei Rückkehr in den Herkunftsstaat drohen, ist eine – zwar notwendig hypothetische aber doch – realitätsnahe Rückkehrsituation zugrunde zu legen (BVerwG, Urteil vom 08.09.1992 – 9 C 8.91 – juris, Rn. 14 f.; BVerwG, Urteil vom 16.08.1993 – 9 C 7.93 – juris, Rn. 10). Lebt der Ausländer auch in Deutschland in familiärer Gemeinschaft mit der Kernfamilie, ist hiernach für die Bildung der Verfolgungsprognose der hypothetische Aufenthalt des Ausländers im Herkunftsland in Gemeinschaft mit den weiteren Mitgliedern dieser Kernfamilie zu unterstellen. Art. 6 GG gewährt zwar keinen unmittelbaren Anspruch auf Aufenthalt (BVerfG, Beschluss vom 05.06.2013 – 2 BvR 586/13 – juris, Rn. 12), enthält aber als wertentscheidende Grundsatznorm, dass der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, und gebietet die Berücksichtigung bestehender familiärer Bindungen bei staatlichen Maßnahmen der Aufenthaltsbeendigung. Bereits für die Bestimmung der voraussichtlichen Rückkehrsituation ist daher im Grundsatz davon auszugehen, dass ein nach Art. 6 GG/ Art. 8 EMRK besonders schutzwürdiger Familienverband aus Eltern mit ihren minderjährigen Kindern nicht aufgelöst oder gar durch staatliche Maßnahmen zwangsweise getrennt wird. Die Mitglieder eines solchen Familienverbandes werden im Regelfall auch tatsächlich bestrebt sein, ihr – grundrechtlich geschütztes – familiäres Zusammenleben in einem Schutz- und Beistandsverband entweder im Bundesgebiet oder im Herkunftsland fortzusetzen. Diese Regelvermutung gemeinsamer Rückkehr als Grundlage der Verfolgungsprognose setzt eine familiäre Gemeinschaft voraus, die zwischen den Eltern und ihren minderjährigen Kindern (Kernfamilie) bereits im Bundesgebiet tatsächlich als Lebens- und Erziehungsgemeinschaft (fort-)besteht und infolgedessen die Prognose rechtfertigt, sie werde bei einer Rückkehr in das Herkunftsland dort fortgesetzt werden. Eine im Regelfall gemeinsame Rückkehr im Familienverband ist der Gefährdungsprognose auch dann zugrunde zu legen, wenn einzelnen Mitgliedern der Kernfamilie bereits bestandskräftig ein Schutzstatus zuerkannt oder für diese ein nationales Abschiebungsverbot festgestellt worden ist (ausführlich dazu: BVerwG, Urteil vom 04.07.2019 – 1 C 45.18 – juris, Rn. 16 ff.).
62
Im Fall der Klägerin ist damit die Annahme zugrunde zu legen, dass sie gemeinsam mit ihrer Tochter in den Irak zurückkehren würde, mit der sie in Deutschland zusammenlebt und die aufgrund ihres Alters von erst knapp drei Monaten auf die Unterstützung durch ihre Mutter angewiesen ist. Wegen der Notwendigkeit, sich um ihre Tochter zu kümmern und angesichts dessen, dass Frauen im Irak am Arbeitsmarkt generell diskriminiert werden und nur beschränkten Zugang zu einer Erwerbstätigkeit finden (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Irak, 22.08.2022, S. 264), ist außerdem zu berücksichtigen, dass die Klägerin allenfalls einer Teilzeitbeschäftigung wird nachgehen können. Andererseits aber ist zu berücksichtigen, dass die Eltern und zahlreiche Geschwister der Klägerin noch im Heimatort leben und die Klägerin insofern in ein familiäres Unterstützungsnetzwerk zurückkehren würde, in dem sie Unterstützung bei der Betreuung und Versorgung ihrer Tochter sowie, auch wenn die wirtschaftliche Situation ihrer Familie angespannt sein sollte, zumindest bei der Deckung grundlegender Bedürfnisse erwarten kann.
63
Bei dieser Ausgangslage ist nach den soeben dargestellten Maßstäben davon auszugehen, dass die Klägerin bei einer Rückkehr ausreichende Möglichkeiten hat, ihr Existenzminimum zumindest so weit zu sichern, dass eine Verletzung des Art. 3 EMRK nicht zu erwarten ist. Die Klägerin ist eine junge, gesunde und arbeitsfähige Frau. Sie hat auch vor ihrer Ausreise aus dem Irak bereits gearbeitet. Auch unter Berücksichtigung, dass sie sich um ihre Tochter kümmern muss, ist davon auszugehen, dass die Klägerin zumindest in gewissem Umfang einer Erwerbstätigkeit wird nachgehen können. Darüber hinaus ist sie auf Unterstützung durch ihr familiäres Netzwerk zu verweisen. Andere individuell erschwerende Umstände, die zu einem Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG führen würden, sind nicht ersichtlich.
64
b. Es besteht kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG.
65
Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für ihn eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht.
66
Dabei reicht es entsprechend dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit nicht aus, wenn eine Verfolgung oder sonstige Rechtsgutverletzung im Bereich des Möglichen liegt. Vielmehr muss sie bei zusammenfassender Bewertung des Sachverhalts und verständiger Würdigung aller objektiven Umstände dahingehend vorliegen, dass bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen eine ernsthafte Furcht vor der Rechtsgutverletzung gerechtfertigt ist, die für eine Rechtsgutverletzung sprechenden Umstände also größeres Gewicht haben als die dagegen sprechenden Tatsachen, wobei auch die Zumutbarkeit eines mit der Rückkehr verbundenen Risikos und der Rang des gefährdeten Rechtsguts von Bedeutung sind (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 17.01.2018 – A 11 S 241/17-, juris, Rn. 515 m.w.N.).
67
Gemäß § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG sind Gefahren, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG, d.h. im Wege einer generellen politischen Leitentscheidung der obersten Landesbehörden zu berücksichtigen. Derartige allgemeine Gefahren, insbesondere also die die Bevölkerung insgesamt treffenden (schlechten) Lebensbedingungen oder die allgemeine Sicherheitslage, können daher grundsätzlich kein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG begründen. Eine Ausnahme liegt aber bei einer extremen Gefahrenlage vor, welche sich wiederum auch aus den den Ausländer erwartenden Lebensbedingungen ergeben kann. So können die im Zielstaat herrschenden wirtschaftlichen Existenzbedingungen und die damit zusammenhängende Versorgungslage einen Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ausnahmsweise begründen, wenn bei einer Rückkehr aufgrund dieser Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit eine extreme Gefahrenlage vorläge. Denn dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren. Ob dies der Fall ist, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden (BVerwG, Urteil vom 29.06.2010 – 10 C 10.09 –, juris, Rn. 14 f.; BayVGH, Urteil vom 12.02.2015 – 13a B 14.30309 –, juris, Rn. 15). Letztlich bedarf es damit einer Verdichtung der allgemeinen Gefahrenlage in einem Maße, wie sie wohl auch zu einer Verletzung von Art. 3 EMRK führen würde. Von diesem Maßstab ausgehend gewährt § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG unter dem Gesichtspunkt der extremen Gefahrenlage aber keinen weitergehenden Schutz, als es § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK tut. Liegen also die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK wegen schlechter humanitärer Bedingungen – über welches unabhängig vom möglicherweise für den Ausländer positiven Ergebnis einer politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG entschieden wird, die neben der hier streitgegenständlichen Einzelfallentscheidung des Bundesamts ergeht – nicht vor, so scheidet auch eine im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG relevante, extreme Gefahrenlage aus. Dahinstehen kann vorliegend, ob vor diesem Hintergrund eine verfassungskonforme Auslegung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG dahingehend, dass bei extremen Gefahrenlagen die genannte Ausschlusswirkung gemäß § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG entfällt, überhaupt weiterhin geboten ist. Denn jedenfalls wären die Voraussetzungen hierfür, wie sich aus den obigen Ausführungen zu § 60 Abs. 5 AufenthG ergibt, deshalb im Fall der Klägerin nicht gegeben.
68
Individuelle Gründe, die die Feststellung eines nationalen Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG rechtfertigen könnten, hat die Klägerin weder hinreichend substantiiert vorgetragen noch sind solche ersichtlich. Zwar hat die Klägerin angegeben, unter Asthma zu leiden und Probleme mit der Schilddrüse zu haben. Weder das Vorliegen der Krankheiten selbst noch dass sich daraus ggf. Beeinträchtigungen ergeben oder eine Behandlungsbedürftigkeit besteht, hat die Klägerin aber substantiierten können, z.B. durch die Vorlage ärztlicher Atteste. Es ist daher jedenfalls nicht ersichtlich, dass diese gesundheitlichen Beschwerden die für die Zuerkennung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erforderliche Schwere aufweisen.
69
5. Die Abschiebungsandrohung und das Einreise- und Aufenthaltsverbot in den Ziffern 5 und 6 des streitgegenständlichen Bescheides sind nach der Sach- und Rechtslage im nach § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung rechtswidrig und rechtsverletzend und somit aufzuheben, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
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a. Unter Berücksichtigung des Beschlusses des Europäischen Gerichtshofs vom 15.02.2023 (C-484/22 – juris) über ein Vorabentscheidungsersuchen des Bundesverwaltungsgerichts (Beschluss vom 08.06.2022 – 1 C 24/21 – juris) ist im konkreten Fall der Klägerin insbesondere aufgrund des sich aus der Unionsbürgerschaft ergebenden Aufenthaltsrechts ihrer Tochter, des Kindeswohls ihrer Tochter sowie der familiären Bindungen zwischen der Klägerin und ihrer Tochter § 34 Abs. 1 Satz 1 AsylG unionsrechtskonform nicht anzuwenden, sodass die auf Grundlage von § 34 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG ergangene Abschiebungsandrohung rechtswidrig ist.
71
Die Abschiebungsandrohung stellt eine Rückkehrentscheidung im Sinne von Art. 3 Nr. 4, Art. 6 und Art. 7 Abs. 1 UAbs. 1 der RL 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über die gemeinsamen Normen und Verfahren in den Mitgliedsstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. L 348, S. 98 ff.) – Rückführungsrichtlinie (RRL) – dar (vgl. BVerwG, Beschluss vom 08.06.2022 – 1 C 24/21 –, juris, Rn. 18 unter Verweis auf Urteil vom 16.02.2022 – 1 C 6.21 –, juris, Rn. 41, 45 und 56 m.w.N.) und hat somit unionsrechtlichen Anforderungen zu genügen. Die Entscheidung über den Erlass der Abschiebungsandrohung erfolgt hier in Umsetzung der Rückführungsrichtlinie, vgl. Art. 2 Abs. 1 RRL, da es sich bei der Klägerin um eine Drittstaatsangehörige i.S.d. Art. 3 Nr. 1 RRL handelt und sie sich nach Ablehnung ihres Asylantrages illegal im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten aufhält, weil sie mangels Aufenthaltstitels nicht die Voraussetzungen für einen Aufenthalt im Bundesgebiet erfüllt, Art. 3 Nr. 2 RRL und § 4 Abs. 1 Satz 1 AufenthG.
72
Bei der Umsetzung der Rückführungsrichtlinie sind nach Art. 5 Buchst. a und b RRL u.a. das Wohl des Kindes und familiäre Bindungen gebührend zu berücksichtigen. Die nach Art. 5 Buchst. a RRL gebotene Berücksichtigung des Wohl des Kindes beschränkt sich dabei nicht auf Sachverhalte, in denen eine Rückkehrentscheidung gegenüber dem minderjährigen Kind in Rede steht, sondern hat auch dann zu erfolgen, wenn Adressat der Rückkehrentscheidung nicht ein Minderjähriger selbst ist, sondern – wie im vorliegenden Fall der Klägerin – ein Elternteil des minderjährigen Kindes, sofern das Kind – was bei der Tochter der Klägerin Fall ist, weil sie aufgrund der Staatsangehörigkeit ihres Vaters laut Vaterschaftsanerkennungsurkunde die schwedische Staatsangehörigkeit und damit Unionsbürgerschaft i.S.d. Art. 20 AEUV hat – über ein Aufenthaltsrecht im betreffenden Mitgliedstaat verfügt (EuGH, Urteil vom 11.03.2021 – C-112/20 –, juris, Rn. 32 ff). Soll eine Rückkehrentscheidung gegenüber dem Elternteil eines minderjährigen Kindes ergehen, sind nach Auffassung des zur Entscheidung berufenen Einzelrichters aber nicht nur das Wohl des Kindes und seine familiären Bindungen zum Elternteil zu berücksichtigen, sondern – als eigenständige schutzwürdige und damit berücksichtigungsfähige Rechtsposition des Elternteils selbst – auch die familiäre Bindung des Elternteils, gegenüber welchem eine Rückkehrentscheidung ergehen soll, zum minderjährigen Kind (EuGH, Urteil vom 11.03.2021 – C-112/20 –, juris, Rn. 41; VG Köln, Urteil vom 19.04.2023 – 12 K 6328/21 –, juris, Rn. 22 ff.). Denn die Rückführungsrichtlinie und insbesondere deren Art. 5 bezwecken nicht allein den Schutz minderjähriger Kinder, sondern familiärer Bindungen insgesamt, wovon auch die familiäre Beziehung eines Elternteils zu einem Kind umfasst ist. Neben der in Art. 5 Buchst. a RRL speziell vorgesehenen Pflicht zur Berücksichtigung des Wohls des Kindes wird in Art. 5 Buchst. b RRL gleichrangig, eigenständig und nicht auf Minderjährige beschränkt auch die Berücksichtigung familiärer Bindungen vorgeschrieben. Zwar soll gemäß dem 22. Erwägungsgrund der Rückführungsrichtlinie von den Mitgliedstaaten insbesondere das Wohl des Kindes im Auge behalten werden, zugleich aber der Schutz des Familienlebens besonders beachtet werden, und zwar in Übereinstimmung mit der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK), deren insoweit einschlägiger Art. 8 in seinem Schutzbereich ebenfalls nicht auf Minderjährige beschränkt ist, sondern auch die Beziehung der Eltern zu ihren minderjährigen Kindern umfasst. Auch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, welche gemäß dem 24. Erwägungsgrund von der Rückführungsrichtlinie zu wahren ist, garantiert – neben der in Art. 24 Abs. 2 GRCh verankerten Pflicht zur Beachtung des Kindeswohls – in Art. 7 GRCh das Recht auf Achtung des Familienlebens, und zwar ebenfalls nicht nur mit Blick auf minderjährige Kinder, sondern auch als Recht der Eltern. Insofern leiten sich die einer Rückkehrentscheidung gegenüber einem Elternteil eines minderjährigen Kindes berücksichtigungsbedürftigen Umstände nicht allein aus dem Wohl des minderjährigen Kindes ab, sondern ergeben sich auch aus der eigenen Rechtsstellung des Elternteils.
73
Art. 5 Buchst. a und b RRL sind angesichts ihres Zwecks weit und daher dahingehend auszulegen, dass das Wohl eines Kindes und familiäre Bindungen (bereits) im Rahmen eines zum Erlass einer Rückkehrentscheidung führenden Verfahrens zu schützen sind und es nicht genügt, wenn diese geschützten Interessen (erst) im Rahmen eines nachfolgenden Verfahrens betreffend den Vollzug der Rückkehrentscheidung geltend gemacht werden können, um gegebenenfalls eine Aussetzung des Vollzugs zu erwirken (EuGH, Beschluss vom 15.02.2023 – C-484/22 –, juris, Rn. 28). Soweit sich aus § 59 Abs. 3 Satz 1 AufenthG, wonach dem Erlass der Abschiebungsandrohung Gründe für die vorübergehende Aussetzung der Abschiebung nicht entgegenstehen, etwas anderes ergibt, kommt diese Vorschrift aufgrund des Vorrangs des Unionsrechts nicht zur Anwendung (VG Aachen, Urteil vom 30.03.2023 – 4 K 1843/21.A –, Rn. 29, juris)
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Gemessen an diesen Anforderungen genügt die in Ziffer 5 des streitgegenständlichen Bescheides enthaltene Abschiebungsandrohung unionsrechtlichen Anforderungen nicht und war deshalb aufzuheben. Denn der Erlass einer Abschiebungsandrohung gegenüber der Klägerin berücksichtigt das Wohl ihrer Tochter sowie die familiären Bindungen zwischen der Klägerin und ihrer Tochter nicht in gebührender Weise.
75
Die Klägerin und ihre am … …2023 geborene Tochter leben in familiärer Lebensgemeinschaft. Die Tochter der Klägerin ist aufgrund ihres jungen Alters als Säugling auf umfassende Betreuung, Fürsorge und Pflege durch die Klägerin angewiesen und ohne diese nicht lebensfähig. Der Ehemann der Klägerin lebt nicht bei der Familie und steht für eine durchgängige Betreuung daher nicht zur Verfügung. Eine alleinige Ausreise der Mutter kommt daher nicht in Betracht. Ausweislich der von der Klägerin in der mündlichen Verhandlung vorgelegten Bescheinigung über die Vaterschaftsanerkennung ist ihre Tochter schwedische Staatsangehörige und verfügt damit qua Unionsbürgerschaft gemäß Art. 20 AEUV über ein vor einer Überstellung in den Irak schützendes Aufenthaltsrecht im Gebiet der Bundesrepublik. Eine gemeinsame Ausreise der Klägerin mit ihrer Tochter ist daher nicht zumutbar. Eine Vollstreckung der Ausreisepflicht der Klägerin nach fruchtlosem Ablauf der Ausreisefrist würde das Wohl des Kindes der Klägerin und die familiären Bindungen zwischen der Klägerin und ihrer Tochter nicht in gebührender Weise berücksichtigen und würde in nicht verhältnismäßiger Weise in die nach Art. 6 GG, Art. 7 GRCh und Art. 8 EMRK grund- bzw. konventionsrechtlich geschützte familiäre Lebensgemeinschaft zwischen der Klägerin und ihrer Tochter eingreifen, da sie eine mit Blick auf die konkreten familiären Verhältnisse, insbesondere unter Berücksichtigung des jungen Alters und des Betreuungsbedarfs der Tochter der Klägerin nicht zu rechtfertigende Trennung von Mutter und Kind zur Folge hätte. Schon jedwede kurzzeitige Trennung würde das Kindeswohl der Tochter der Klägerin irreversibel beeinträchtigen und die notwendige Wahrnehmung der elterlichen Sorge durch die Klägerin massiv beeinträchtigen. Das öffentliche Interesse an einer Vollstreckung der Ausreisepflicht der Klägerin muss daher hinter dem Schutz des Kindeswohls und der familiären Bindungen zwischen der Klägerin und ihrer Tochter gem. Art. 5 Buchst. a und b RRL zurückstehen. Auch der Verweis auf ein dem Erlass der Abschiebungsandrohung nachgelagertes Verfahren – wie etwa eine vorübergehende Aussetzung der Abschiebung durch die Ausländerbehörde (§ 43 Abs. 3 Satz 1 AsylG) oder ein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis in Form einer Duldung aufgrund einer sich aus Art. 6 GG bzw. Art. 8 EMRK ergebenden rechtlichen Unmöglichkeit (§ 60a Abs. 2 Satz 1 Var. 1 AufenthG) – genügt, wie oben dargestellt, den unionsrechtlichen Anforderungen des Art. 5 Buchst. a und b RRL nicht (vgl. EuGH, Beschluss vom 15.02.2023 – C-484/22 –, juris, Rn. 28).
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b. Nachdem sich die Abschiebungsandrohung als rechtwidrig erweist und aufzuheben war, ist auch das in Ziffer 6 des streitgegenständlichen Bescheides enthaltene Einreise- und Aufenthaltsverbot aufzuheben. Mit der Aufhebung der Abschiebungsandrohung sind auch der Erlass und die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots durch das Bundesamt in Ziffer 6 des Bescheides rechtswidrig, da hierfür nach § 75 Nr. 12 i.V.m. § 11 Abs. 1, Abs. 2 Satz 2 Alt. 2, Satz 3 und 4, Abs. 3 AufenthG die Abschiebungsandrohung vorausgesetzt ist.
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Der Klage war demnach im tenorierten Umfang stattzugeben. Im Übrigen bleibt die Klage ohne Erfolg und war daher abzuweisen. Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben. Die Entscheidung bezüglich der vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 Zivilprozessordnung (ZPO).