Inhalt

VG Würzburg, Urteil v. 19.01.2023 – W 5 K 22.361
Titel:

Keine Befreiung von den Festsetzungen eines einfachen Bebauungsplans mit Zwei-Wohnungs-Klausel

Normenketten:
VwGO § 113 Abs. 5
BauGB § 9 Abs. 1 Nr. 6, § 30 Abs. 3, § 31 Abs. 2
BayBO Art. 59 S. 1. Art. 68 Abs. 1 S. 1 Hs. 1
Leitsätze:
1. Die Regelung in einem einfachen Bebauungsplan: "Zugelassen sind im allgemeinen Ein- oder Zweifamilienhäuser mit höchstens zwei Vollgeschossen“ ist sachgerecht auszulegen als Festsetzung zur höchstzulässigen Zahl der Wohneinheiten in Wohngebäuden. Die Wohnungsanzahl ist kein Kriterium des Maßes der baulichen Nutzung, sondern kann als Ausdruck der Art der baulichen Nutzung bodenrechtliche Relevanz haben. Die Zwei-Wohnungs-Klausel kann nämlich geeignet sein, den Gebietscharakter im Sinne einer Bebauung vorwiegend mit Familienheimen zu bestimmen. (Rn. 25 – 26) (redaktioneller Leitsatz)
2. Mit dem Tatbestandsmerkmal „Grundzüge der Planung“ umschreibt das Gesetz in § 31 Abs. 2 BauGB die planerische Grundkonzeption, die den Festsetzungen eines Bebauungsplans zugrunde liegt und in ihnen zum Ausdruck kommt. Ob eine Befreiung von den Festsetzungen eines Bebauungsplans in Betracht kommt, weil die Grundzüge der Planung nicht berührt werden, hängt von der jeweiligen Planungssituation ab. Die Festsetzung der höchstzulässigen Zahl der Wohneinheiten in Wohngebäuden nach § 9 Abs. 1 Nr. 6 BauGB kann einen Grundzug der Planung darstellen (hier bejaht). (Rn. 29 – 30) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Verpflichtungsurteil, einfacher Bebauungsplan, Baulinienplan Nr. ... mit Baubeschränkungen der Stadt W., Zwei-Wohnungs-Klausel, Befreiung von den Festsetzungen eines einfachen Bebauungsplans, Grundzüge der Planung, Erschließung, gesichert, Verpflichtungsklage, Baugenehmigung, Mehrfamilienhaus, Festsetzung, Art der baulichen Nutzung, Zahl der Wohneinheiten, Befreiung
Fundstelle:
BeckRS 2023, 1506

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahren zu tragen.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher in gleicher Höhe Sicherheit leistet.

Tatbestand

1
Der Kläger begehrt die Verpflichtung der Beklagten zur Erteilung einer Baugenehmigung zum Neubau eines Mehrfamilienwohnhauses mit vier Wohneinheiten, hilfsweise die Neuverbescheidung.
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1. Der Kläger ist Eigentümer des Grundstücks Fl.Nr. …1 der Gemarkung W., H. S., in W. (Baugrundstück). Das Baugrundstück liegt im Westen W. zwischen der hier in Ost-West-Richtung verlaufenden S. im Norden und der parallel hierzu verlaufenden H. S. im Süden. Es handelt sich um ein Hinterliegergrundstück sowohl hinsichtlich der S. als auch hinsichtlich der H. S., das sich im Geltungsbereich des einfachen Bebauungsplans „Baulinienplan Nr. … mit Baubeschränkungen“ vom 10./17. März 1937, geändert am 28. Februar 1938, rechtsverbindlich am 30. November 1938, befindet. Dabei sah die damalige Bauleitplanung eine Erschließung der sog. Mittelzone zwischen H. S. und S. über einen durchgehenden, 2,50 m breiten, in Ost-West-Richtung verlaufenden, Wohnweg vor. Diese Festsetzung des Baulinienplans wurde durch den qualifizierten Bebauungsplan Nr. … „1. Änderung und Erweiterung des Bebauungsplans R.“ aufgehoben. Dessen räumlicher Geltungsbereich erstreckt sich westlich des Baugrundstücks und findet hier seinen Abschluss mit dem westlich an das Baugrundstück angrenzenden Grundstück Fl.Nr. …2 der Gemarkung W., W. S. … Der vg. Bebauungsplan sieht eine Fortsetzung des westlich des Grundstücks Fl.Nr. …8 bis zur westlichen Grenze des Grundstücks Fl.Nr. …2 der Gemarkung W. führenden Wegs Richtung Osten nicht mehr vor. Dieser Wohnweg weist - von Westen kommend und hier von der R. abknickend und in einen Wendehammer mündend - eine Länge von 65 m auf; ab dem Wendehammer verfügt er nur noch über eine Ausbaubreite von 2,15 m und endet mit einer Länge von ca. 27 m an der westlichen Grundstücksgrenze des Grundstücks Fl.Nr. …2 der Gemarkung W. Von der S. kommend führt zu dem Baugrundstück ein ca. 47 m langer und ca. 2,50 m breiter Fußweg auf dem Grundstück Fl.Nr. …9 der Gemarkung W.
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2. Mit Bauantrag vom 21. Dezember 2019, eingegangen bei der Stadt Würzburg am 23. Dezember 2019, begehrte der Kläger die Baugenehmigung zum Neubau eines Mehrfamilienwohnhauses mit vier Wohneinheiten auf dem Baugrundstück. Des Weiteren wurde ein Antrag auf Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplans gemäß § 31 Abs. 2 BauGB wie auch auf Ausnahme vom Bebauungsplan nach § 31 Abs. 1 BauGB gestellt. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass eine geringfügige stellenweise Überschreitung des Baufensters der Balkone EG sowie im OG nördlich um ca. 1,60 m vorliege. Die geringfügige Überschreitung sei im Zuge der Planung mit dem Stadtbauamt vorbesprochen und als genehmigungsfähig angesehen worden; nachbarschaftliche Belange seien nicht berührt. Des Weiteren sei aufgrund der gewählten klaren, modernen Gebäudeform zur Einhaltung des Gesamterscheinungsbildes die Änderung der Dachform zum Flachdach gewählt worden. Auch dies sei vorab mit dem Bauamt abgestimmt worden. Um das Baufenster auf dem 1.500 m² großen innerstädtischen Grundstück wirtschaftlich zu bebauen, sei das Wohngebäude einschließlich der Auskragungen im EG und OG auf eine Gebäudebreite von 13,50 m festgelegt worden. Auch insoweit habe die Genehmigungsbehörde im Vorfeld zugestimmt. Schließlich sei im Zuge der innerstädtischen Wohnraumschaffung die geplante Anzahl der Wohneinheiten von zwei auf vier geplant. Durch die geringfügige Erhöhung der Wohneinheiten würden nachbarliche Belange nicht beeinträchtigt. Die erforderliche Anzahl von Stellplätzen sowie der geforderte Spielplatz könnten auf dem Baugrundstück realisiert werden. Die geringfügige Erhöhung der Wohneinheiten sei ebenfalls mit dem Bauamt der Beklagten abgestimmt und die Genehmigungsfähigkeit zugesichert worden. Bei den genannten Abweichungen seien keine nachbarlichen und öffentlichen Belange betroffen; sie seien städtebaulich vertretbar und die Grundzüge der Planung würden nicht berührt.
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Ausweislich der Planunterlagen mit Datum 16. Dezember 2019/27. Januar 2020 soll die geplante Zufahrt erfolgen über den von der R. abknickenden und den nach dem Wendehammer Richtung Osten, südlich des Grundstücks Fl.Nr. …1, weiter verlaufenden Wohnweg, verlängert im südlichen Bereich des Grundstücks bis zur Südseite des Baugrundstücks. In den Bauantragsunterlagen ist enthalten die Kopie einer Eintragungsbekanntmachung des Grundbuchs von W. hinsichtlich eines Geh- und Fahrtrechtes sowie eines Ver- und Entsorgungsleitungsrechtes zugunsten des Grundstücks Fl.Nr. …1 an den Grundstücken Flst. …7, …9 sowie …2.
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3. Mit Bescheid vom 3. Februar 2022 versagte die Beklagte dem Kläger die beantragte Baugenehmigung.
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Zur Begründung wurde ausgeführt, dass keine ausreichend gesicherte verkehrliche Erschließung des Bauvorhabens vorliege. Sowohl die westliche Zufahrt zur öffentlichen Verkehrsfläche des Grundstücks Fl.Nr. …8 der Gemarkung W. als auch die südliche Anbindung an die H. S., Grundstück Fl.Nr. …2 der Gemarkung W., seien zur wege- bzw. straßenmäßigen Erschließung eines Mehrfamilienwohnhauses mit vier Wohneinheiten nicht ausreichend, da eine Erreichbarkeit mit Rettungsfahrzeugen nicht gewährleistet sei. Die Anfahrbarkeit mit Kraftfahrzeugen, besonders solche der Feuerwehr und des Rettungsdienstes, sei in der Regel erst bei einer Wegbreite von mindestens 3,00 m gegeben. Der öffentliche ca. 28 m lange S. des Flurstücks …8 der Gemarkung W. verfüge ab dem Wendehammer über eine befahrbare Breite von ca. 2,15 m. Im günstigsten Fall könne ein Löschfahrzeug daher nur bis zum Wendehammer gelangen. Entsprechend der Stellungnahme der Fachdienststelle müsse jedoch faktisch davon ausgegangen werden, dass aufgrund der beengten Platzverhältnisse im Einsatzfall Löschfahrzeuge an der Einmündung der R. in den S. stehen bleiben müssten. Die Entfernung zum Wohngebäude würde dabei ca. 140 m betragen und hätte damit eine deutliche Verzögerung und Erschwerung der Menschenrettung und der wirksamen Löscharbeiten zur Folge. Eine verkehrliche Anbindung des Baugrundstücks an die H. S. südlich über eine ca. 3,00 m breite Zufahrt über die Grundstücke Fl.Nr. …7 und …2 der Gemarkung W. komme aufgrund der vorliegenden topographischen Verhältnisse nicht in Betracht. Diese Zuwegung verfüge über eine starke Steigung von ca. 25% und sei aufgrund fehlender Ausweichmöglichkeiten über eine Länge von über 50 m nicht geeignet, um den bei vier Wohneinheiten zu erwartenden Zu- und Abfahrtsverkehr verkehrssicher zu bewältigen. Es sei auch nicht nachgewiesen, dass die geplante Erschließung über die Grundstücke Fl.Nr. …7 und …2 der Gemarkung W. dauerhaft rechtlich gesichert sei. Laut dem vorgelegten Grundbuchauszug bestehe zwar ein Geh- und Fahrtrecht an den Grundstücken Fl.Nr. …7 und …2 der Gemarkung W. Daraus gehe allerdings nicht hervor, ob der Kläger berechtigt sei, die geplanten Zuwegungen über die benachbarten Privatgrundstücke in der erforderlichen Wegbreite und Lage in Anspruch zu nehmen; weiterhin seien die Geh- und Fahrtrechte nicht durch eine beschränkt persönliche Dienstbarkeit zugunsten der Stadt Würzburg dinglich gesichert.
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Eine Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplans könne hinsichtlich der allgemeinen Zulässigkeit von nur Ein- oder Zweifamilienhäusern nicht erteilt werden. Aufgrund der schwierigen örtlichen Geländeverhältnisse sei bereits der Baulinienplan mit einer entsprechenden Baubeschränkung aufgestellt worden. Weiterhin sei auch das Bauleitplanverfahren zur „1. Änderung und Erweiterung des Bebauungsplanes R.“ maßgeblich von den Bedenken geleitet worden, dass eine räumliche Erweiterung des Geltungsbereichs zu einer noch höheren Belastung der ohnehin bereits kritischen Verkehrssituation führen würde. Der notwendige Ausgleich der berührten Belange habe letztlich durch die Beschränkung des allgemeinen Wohngebietes auf 15 Bestandseinzelhausbebauungen und neun neue Einzelwohnhäuser geschaffen werden können. Die geplante Errichtung eines Mehrfamilienwohnhauses mit vier Wohneinheiten greife aufgrund der sich dadurch ergebenden verkehrlichen Anforderungen in das Interessengeflecht der Planung ein und sei daher nicht mit öffentlichen Belangen vereinbar. Die vorliegende Erschließungssituation sei nicht in der Lage, den von der Nutzung der baulichen Anlage ausgehenden Verkehr ohne Beeinträchtigung der Verkehrssicherheit zu bewältigen. Im Rahmen der Bauleitplanung seien die Bedürfnisse nach Wohnraum und die Belange der Erschließung miteinander in Einklang gebracht worden. Die beantragte Abweichung würde das hierbei getroffene Abwägungsgefüge ins Ungleichgewicht bringen. Aufgrund der Berührung der planerischen Grundkonzeption könne von der Festsetzung des Bebauungsplans nicht befreit werden. Ferner würde eine Befreiung von der Baubeschränkung von nur Ein- oder Zweifamilienhäusern und die Zulassung eines Mehrfamilienwohnhauses mit vier Wohneinheiten einen Präzedenzfall darstellen. Dabei lägen insbesondere entlang des Stichweges noch unbebaute Grundstücke, auf die das Bauvorhaben des Klägers insoweit eine Vorbildwirkung entfalten könnte. Nach allem komme es auf die übrigen Abweichungen von den Festsetzungen des Bebauungsplans nicht mehr an.
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4. Am 21. März 2022 ließ der Kläger durch seinen Bevollmächtigten bei Gericht Klage erheben mit dem Antrag,
unter Aufhebung des Bescheids der Beklagten vom 3. Februar 2022 die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger die beantragte Baugenehmigung zum Neubau eines Mehrfamilienhauses mit vier Wohneinheiten auf dem Grundstück Fl.Nr. …1 der Gemarkung W. gemäß dem Antrag vom 21. Dezember 2019 zu erteilen,
hilfsweise die Beklagte zu verurteilen, über den Antrag des Klägers vom 21. Dezember 2019 unter Beachtung der Rechtauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden.
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Zur Begründung der Klage wurde vorgetragen, die ablehnende Entscheidung der Beklagten sei rechtswidrig und verletze den Kläger in seine Rechten. Der Kläger habe einen Anspruch auf die begehrte Baugenehmigung. Das Vorhaben dürfte nach Art. 58 Abs. 1 BayBO zu beurteilen sein. Entgegen der Behauptung der Beklagten sei hierfür gar keine Baugenehmigung notwendig, da es nicht den Festsetzungen des Bebauungsplans widerspreche. Soweit die Beklagte die Ablehnung insbesondere auf die nicht gesicherte Erschließung des Baugrundstücks stütze, überspanne sie die Anforderungen, die an eine gesicherte Erschließung zu stellen seien. Es sei nicht nachvollziehbar, dass das Baugrundstück nicht wegemäßig erschlossen sein solle. Die Erschließung sei nicht nur gesichert, sondern auch vorhanden. Das Baugrundstück sei in zweierlei Hinsicht erschlossen. Einerseits bestehe entgegen der Darstellung der Beklagten die Erschließung von Westen her, über den öffentlichen Weg Fl.Nr. …8. Die Situation habe sich insoweit verändert, als der Kläger zwischenzeitlich auch Eigentümer des Grundstücks Fl.Nr. …2 sei. Insoweit erübrige sich eine dingliche Sicherung der Zufahrt. Deshalb sei die Erschließung nach dem Wendehammer lediglich auf der Länge des Grundstücks Fl.Nr. …1 in einer Breite von unter 3 Metern vorhanden. Messe man die öffentliche, befahrbare Breite, bestehe auf diesem Abschnitt eine Fahrbahn von 2,50 m und dies sei ausreichend, um das Baugrundstück mit Kraftfahrzeugen zu erreichen. Unabhängig davon sei eine Erreichbarkeit des Baugrundstücks selbst, insbesondere mit größeren Fahrzeugen, z.B. großen Löschfahrzeugen der Feuerwehr, nicht notwendig. Vielmehr sei in bestimmten Fällen ein Zugang auf einer gewissen Länge möglich. Vorliegend aber bestehe eine tatsächliche Zufahrt bzw. Zufahrtsmöglichkeit für Kraftfahrzeuge aller Art, sowie ein Heranfahrenkönnen für Großfahrzeuge der Feuerwehr. Die Voraussetzungen für die bauordnungsrechtliche Sicherung der Erschließung seien vorliegend eben nicht strenger, sondern wegen Art. 4 Abs. 2 BayBO gerade nicht ganz so streng. Zudem sei entgegen der Auffassung der Beklagten auch keine dingliche Sicherung zu ihren Gunsten notwendig. Hinzu kommt noch, dass die Erschließung zusätzlich auch über die Zufahrt entlang des Grundstücks Fl.Nr. …6 gesichert sei. Diese Zufahrt sei für den Kläger dinglich gesichert und verfüge über eine Breite von mindestens 3 m. Auch über diese Anlage sei das Baugrundstück mit einer ausreichenden Breite an einer öffentlichen Anlage gelegen bzw. die Zufahrt sei rechtlich gesichert. Es könne mit Fahrzeugen aller Art, insbesondere mit Polizei- und Versorgungsfahrzeugen angefahren werden. Zum dritten sei auch eine Zufahrt bzw. jedenfalls ein Zugang über das Grundstück Fl.Nr. …9 möglich, auch wenn diese Zuwegung eher sehr schmaler Natur sei. Auch die Frage nach den vier Wohneinheiten ändere die Situation der Erschließung nicht. Bei der Aufstellung des Bebauungsplans sei die Beklagte offenbar davon ausgegangen, dass diese beiden Grundstücke (.1, …2) bebaut würden bzw. bebaut werden dürften. Insoweit sei die Erschließung gesichert, sonst wäre der Bebauungsplan nicht aufgestellt worden. Auf beiden Grundstücken sei jeweils mindestens ein Zweifamilienhaus zulässig. Insoweit sei vor dem Hintergrund, dass der Kläger Eigentümer beider Grundstücke sei, nicht nachvollziehbar, warum die Erschließung im Falle zweier Zweifamilienhäuser gesichert, im Falle von vier Wohneinheiten aber nicht gesichert sein solle.
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Auch die übrigen Versagungsgründe, insbesondere hinsichtlich einer Befreiung von der Baubeschränkung würden vorliegend nicht durchgreifen. Denn der planungsrechtlichen Stellungnahme der Fachabteilung Bauleitplanung vom 12. März 2020 sei zu entnehmen, dass gerade die Überschreitung der Baugrenzen, der Bautiefe und die Anzahl der Wohneinheiten im Sinne einer Nachverdichtung städtebaulich vertretbar erscheine. Einerseits setze sich die Beklagte nun in Widerspruch zur eigenen Stellungnahme, andererseits sei die Erschließung - soweit die Beklagte nun wieder die verkehrstechnische Situation als Belang heranziehe - mehr als gesichert. Insoweit tauge die Begründung für die Ablehnung von Befreiungen nicht, vielmehr erscheine die Ablehnung eher willkürlich und ohne jegliche Ermessensausübung. Das Vorhaben sei - offenbar auch aus Sicht der Beklagten - städtebaulich vertretbar; es sei auch mit nachbarlichen Interessen vereinbar. Insoweit sei dem Kläger, auch aufgrund der neuen Situation und des Erwerbs des Nachbargrundstücks, die begehrte Baugenehmigung zu erteilen.
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5. Demgegenüber beantragte die Beklagte,
die Klage abzuweisen.
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Zur Begründung des Abweisungsantrags wurde vorgetragen, dass der Kläger keinen Anspruch auf Erteilung der begehrten Baugenehmigung habe. Das Bauvorhaben falle mangels vorliegender Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 58 Abs. 1 BayBO nicht unter die Anwendung der Genehmigungsfreistellung. Das Baugrundstück befinde sich bereits nicht im Geltungsbereich eines qualifizierten oder vorhabenbezogenen Bebauungsplans im Sinne des § 30 Abs. 1 oder Abs. 2 BauGB; darüber hinaus entspreche das Vorhaben nicht den Festsetzungen des Bebauungsplans, weshalb der Kläger Befreiungen beantragt habe. Die Baugenehmigung sei zu versagen, da das Vorhaben mit bauplanungsrechtlichen Vorschriften nicht vereinbar sei. Es liegt keine ausreichend gesicherte verkehrliche Erschließung vor. Die vom Kläger im Rahmen des Baugenehmigungsverfahrens dargestellten Möglichkeiten zur wege- und verkehrsmäßigen Anbindung des Baugrundstücks an das öffentliche Verkehrsnetz seien für die Erschließung eines Mehrfamilienwohnhauses mit vier Wohneinheiten nicht ausreichend. In der Regel werde die Anfahrbarkeit eines Baugrundstücks durch Kraftfahrzeuge, besonders solchen der Polizei, der Feuerwehr, des Rettungsdienstes und der Ver- und Entsorgung, für Wohnbauvorhaben erst bei einer Wegbreite von mindestens 3,00 m als möglich angesehen und eine Breite von 2,50 m nicht als ausreichend erachtet. Die westliche Zufahrt verfüge ab dem Wendehammer über eine befahrbare Breite von lediglich ca. 2,15 m und sei damit unzulänglich. Weiterhin scheide eine Erschließung des Baugrundstücks südlich über eine ca. 3,00 m breite, über 50 m lange und ca. 25% steile Zufahrt aus. Gemäß Stellungnahme der Fachdienststelle wäre zur verkehrssicheren Bewältigung des bei vier Wohneinheiten zu erwartenden Zu- und Abfahrtsverkehrs und dieser Länge eine Ausweichmöglichkeit erforderlich. Darüber hinaus werde vorliegend eine Erreichbarkeit des Wohngebäudes durch die Feuerwehr für notwendig erachtet. Entgegen den Ausführungen des Klägerbevollmächtigten sei eine entsprechende Grunddienstbarkeit sowie eine inhaltsgleiche beschränkt persönliche Dienstbarkeit zugunsten der Stadt Würzburg trotz der geänderten Eigentumsverhältnisse beim Grundstück Fl.Nr. …2 der Gemarkung W. weiterhin notwendig. Die Grundstücke Fl.Nr. …1 und …2 der Gemarkung W. seien rechtlich nicht zu einem Buchgrundstück vereinigt worden und stellten somit keine Einheit im Rechtssinne dar.
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Die beantragte Befreiung von der Festsetzung des Bebauungsplanes sei hinsichtlich der allgemeinen Zulässigkeit von nur Ein- oder Zweifamilienhäusern rechtmäßig versagt worden, da die Tatbestandvoraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB nicht vorlägen. Auf eine sachgerechte Ermessensausübung komme es insoweit nicht mehr an. Die Ablehnung sei auch nicht entgegen der Stellungnahme der Fachdienststelle erfolgt. Vielmehr sei diese Rechtsauffassung in den Vorgesprächen stets an den Kläger kommuniziert und nunmehr letztlich verbeschieden worden.
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6. Hinsichtlich des weiteren Vortrags der Beteiligten sowie der Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Behördenakten sowie auf das Protokoll über die mündliche Verhandlung Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Verpflichtungsklage hat in der Sache keinen Erfolg, da dem Kläger kein Anspruch gemäß Art. 68 Abs. 1 Satz 1 BayBO auf die Erteilung der von ihm beantragten Baugenehmigung zusteht (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Ebenso wenig besteht ein Anspruch auf Neuverbescheidung nach § 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO. Die Ablehnung des Bauantrags durch die Beklagte war rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.
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Nach Art. 68 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 BayBO ist eine Baugenehmigung zu er-teilen, wenn dem Bauvorhaben keine öffentlich-rechtlichen Vorschriften entgegenstehen, die im bauaufsichtlichen Genehmigungsverfahren zu prüfen sind. Da das genehmigungspflichtige Bauvorhaben (siehe hierzu unten 1.) jedoch nicht genehmigungsfähig ist (siehe hierzu unten 2.), besteht ein solcher Anspruch im vorliegenden Fall nicht.
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Da es sich beim Bauvorhaben um keinen Sonderbau im Sinne des Art. 2 Abs. 4 BayBO handelt, prüft die Bauaufsichtsbehörde nach Art. 59 Satz 1 BayBO im vereinfachten Baugenehmigungsverfahren die Übereinstimmung mit den Vorschriften über die Zulässigkeit der baulichen Anlagen nach den §§ 29 ff. BauGB, den Vorschriften über die Abstandsflächen nach Art. 6 BayBO und den Regelungen örtlicher Bauvorschriften im Sinne des Art. 81 Abs. 1 BayBO (Art. 59 Satz 1 Nr. 1 BayBO), beantragte Abweichungen im Sinne des Art. 63 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 2 BayBO (Art. 59 Satz 1 Nr. 2 BayBO) sowie andere öffentlich-rechtliche Anforderungen, soweit wegen der Baugenehmigung eine Entscheidung nach anderen öffentlich-rechtlichen Vorschriften entfällt, ersetzt oder eingeschlossen wird (Art. 59 Satz 1 Nr. 3 BayBO).
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1. Soweit der Klägerbevollmächtigte im Rahmen seiner Klagebegründung zu der Auffassung gelangt, dass das Vorhaben nach Art. 58 Abs. 1 BayBO zu beurteilen - also der Genehmigungsfreistellung zu unterwerfen - sein dürfte, mit der Folge, dass eine Baugenehmigung nicht notwendig sei, kann dem die Kammer nicht folgen. Zum einen fehlt es insoweit bereits an den tatbestandlichen Voraussetzungen für die Durchführung des Freistellungsverfahrens, hier sowohl des Art. 58 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BayBO, da das streitgegenständliche Vorhaben gerade nicht im Geltungsbereich eines qualifizierten Bebauungsplans im Sinn des § 30 Abs. 1 BauGB oder eines vorhabenbezogenen Bebauungsplans im Sinne der §§ 12, 30 Abs. 2 BauGB liegt, als auch des Art. 58 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BayBO, da das Vorhaben den Festsetzungen des (einfachen) Bebauungsplans widerspricht (vgl. hierzu unter 2.3.). Zum anderen hat der Kläger mit dem Formblattantrag vom 19.12.2019/21.12.2019 für das streitgegenständliche Bauvorhaben schon selbst einen „Antrag auf Baugenehmigung“ gestellt und gerade nicht eine „Vorlage im Genehmigungsfreistellungsverfahren“ (vgl. hierzu die entsprechenden Eintragungen auf dem Formularantrag, Bl. 3 der Behördenakte) getätigt.
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2. Das streitgegenständliche Bauvorhaben verstößt gegen Vorgaben des Bauplanungsrechts gemäß Art. 59 Satz 1 Nr. 1 Buchst. a BayBO i.V.m. §§ 29 ff. BauGB. Das Bauvorhaben ist bauplanungsrechtlich unzulässig, denn es liegen weder die Voraussetzungen des § 30 Abs. 1 BauGB noch die des § 30 Abs. 3 i.V.m. § 31 Abs. 2 BauGB vor.
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2.1. Gemäß § 30 Abs. 1 BauGB ist ein Vorhaben im Geltungsbereich eines Bebauungsplans, der allein oder gemeinsam mit sonstigen baurechtlichen Vorschriften mindestens Festsetzungen über die Art und das Maß der baulichen Nutzung, die überbaubaren Grundstücksflächen und die örtlichen Verkehrsflächen enthält, zulässig, wenn es diesen Festsetzungen nicht widerspricht und die Erschließung gesichert ist. Im Geltungsbereich eines Bebauungsplans, der die Voraussetzungen des Absatzes 1 nicht erfüllt (einfacher Bebauungsplan), richtet sich die Zulässigkeit von Vorhaben im Übrigen nach § 34 oder § 35 BauGB (§ 30 Abs. 3 BauGB).
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Für das Baugrundstück existiert kein derartiger qualifizierter Bebauungsplan.
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Denn der qualifizierte Bebauungsplan Nr. 2.4.1. „1. Änderung und Erweiterung des Bebauungsplans R.“ vom 15. Februar 1990 erstreckt sich hinsichtlich seines räumlichen Geltungsbereich nicht auf das Baugrundstück, findet vielmehr seinen Abschluss mit dem westlich an das Baugrundstück angrenzenden Grundstück Fl.Nr. …2 der Gemarkung W., W. S. … Der „Baulinienplan Nr. … mit Baubeschränkungen“ vom 10./17. März 1937, geändert am 28. Februar 1938, enthält jedenfalls keine Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung, so dass er schon aus diesem Grund nicht als Bebauungsplan i.S.d. § 30 Abs. 1 BauGB qualifiziert werden kann.
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2.2. Der „Baulinienplan Nr. … mit Baubeschränkungen“ stellt sich aber als einfacher Bebauungsplan nach § 30 Abs. 3 BauGB dar. Denn derartige bei In-Kraft-Treten des Bundesbaugesetzes bestehende baurechtliche Vorschriften und festgestellte städtebauliche Pläne wurden gemäß § 173 Abs. 3 BBauG 1960 als einfache Bebauungspläne übergeleitet, soweit sie verbindliche Regelungen der in § 9 BBauG bezeichneten Art enthalten, und entfalten gemäß § 233 Abs. 3 BauGB nach wie vor Geltung. Unerheblich für die Überleitung ist es, ob die alten Vorschriften und Pläne in der Form von Verwaltungsakten, Rechtsverordnungen oder Bebauungsplänen erlassen worden sind. Daran hat sich durch das In-Kraft-Treten des Baugesetzbuches 1987 nichts geändert (vgl. BVerwG, B.v. 10.2.1983 - 4 B 15.83; B.v. 16.12.2003 - 4 B 105.03; BayVGH, U.v. 11.9.2003 - 2 B 00.1400; alle juris). Vorliegend bestehen auch keine Anhaltspunkte für eine Funktionslosigkeit des einfachen Bebauungsplans.
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Nach § 30 Abs. 3 BauGB ist ein Vorhaben zulässig, wenn es den Festsetzungen des einfachen Bebauungsplans nicht widerspricht. Soweit ein einfacher Bebauungsplan also Regelungen bzw. Festsetzungen enthält, bestimmt sich die Zulässigkeit eines Vorhabens allein danach, ob es diesen Festsetzungen widerspricht oder nicht. Lediglich ergänzend - soweit keine Festsetzungen vorhanden sind - sind die Bestimmungen des § 34 oder § 35 BauGB heranzuziehen, was § 30 Abs. 3 BauGB ausdrücklich klarstellt. Wie bei einem qualifizierten Bebauungsplan nach § 30 Abs. 1 BauGB ist ein Widerspruch zu den Festsetzungen des Bebauungsplans überwindbar durch Erteilung von Ausnahmen oder Befreiungen nach Maßgabe des § 31 BauGB (vgl. Söfker in Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, Baugesetzbuch, Stand: 147. EL Aug. 2022, § 30 BauGB Rn. 32 f.; Tophoven in BeckOK BauGB, Spannowsky/Uechtritz, Stand: 56. Ed. 1.9.2022, § 30 Rn. 50).
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2.3. Das zur Genehmigung gestellte Vorhaben widerspricht den Festsetzungen des „Baulinienplans Nr. … mit Baubeschränkungen“ und zwar hier (jedenfalls) der Nr. 3 der Baubeschränkungen: „Zugelassen sind im allgemeinen Ein- oder Zweifamilienhäuser mit höchstens zwei Vollgeschossen“.
26
Diese Regelung ist sachgerecht auszulegen als Festsetzung zur höchstzulässigen Zahl der Wohneinheiten in Wohngebäuden (vgl. hierzu nun § 9 Abs. 1 Nr. 6 BauGB). Die Wohnungsanzahl ist kein Kriterium des Maßes der baulichen Nutzung (vgl. § 16 Abs. 1 BauNVO: Geschossflächenzahl, Baumasssenzahl oder Höhe der baulichen Anlagen), sondern kann als Ausdruck der Art der baulichen Nutzung bodenrechtliche Relevanz haben (BVerwG, U.v. 26.9.1991 - 4 C 5/87 - NVwZ 1992, 977). Die Zwei-Wohnungs-Klausel kann nämlich geeignet sein, den Gebietscharakter im Sinne einer Bebauung vorwiegend mit Familienheimen zu bestimmen (BVerwG, B.v. 9.3.1993 - 4 B 38/93 - NVwZ 1993, 1100). Mit dem streitgegenständlichen Bauantrag vom 21. Dezember 2019 hat der Kläger die Baugenehmigung für die Errichtung eines Mehrfamilienwohnhauses mit vier Wohneinheiten auf dem Baugrundstück und insoweit auch eine Befreiung beantragt, die von der Beklagten abgelehnt wurden. Das Bauvorhaben entspricht mithin nicht den Festsetzungen des einfachen Bebauungsplans „Baulinienplan Nr. … mit Baubeschränkungen“ der Beklagten und ist deshalb nicht nach § 30 Abs. 3 BauGB zulässig.
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Nach § 31 Abs. 2 BauGB kann von den Festsetzungen des Bebauungsplans befreit werden, wenn die Grundzüge der Planung nicht berührt werden und Gründe des Wohls der Allgemeinheit die Befreiung erfordern (Nr. 1) oder die Abweichung städtebaulich vertretbar ist (Nr. 2) oder die Durchführung des Bebauungsplans zu einer offenbar nicht beabsichtigten Härte führen würde (Nr. 3) und wenn die Abweichung auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist.
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Diese tatbestandlichen Voraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB liegen bereits deshalb nicht vor, da die Grundzüge der Planung berührt werden.
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Mit dem Tatbestandsmerkmal „Grundzüge der Planung“ umschreibt das Gesetz in § 31 Abs. 2 BauGB die planerische Grundkonzeption, die den Festsetzungen eines Bebauungsplans zugrunde liegt und in ihnen zum Ausdruck kommt. Ob eine Befreiung von den Festsetzungen eines Bebauungsplans nach § 31 Abs. 2 BauGB in Betracht kommt, weil die Grundzüge der Planung nicht berührt werden, hängt von der jeweiligen Planungssituation ab. Was zum planerischen Grundkonzept zählt, beurteilt sich nach dem im Bebauungsplan zum Ausdruck kommenden Planungswillen der Gemeinde. Entscheidend ist, ob die Abweichung dem planerischen Grundkonzept zuwiderläuft. Je tiefer die Befreiung in den mit der Planung gefundenen Interessenausgleich eingreift, desto eher liegt es nahe, dass das Planungskonzept in einem Maße berührt wird, das eine (Um-)Planung erforderlich macht (vgl. BVerwG, B.v. 5.3.1999 - 4 B 5.99 - NVwZ 1999, 1110; B.v. 19.5.2004 - 4 B 35.04 - BRS 67 Nr. 83; U.v. 18.11.2010 - 4 C 10.09 - BVerwGE 138, 166 = juris Rn. 37). Eine Befreiung ist ausgeschlossen, wenn das Vorhaben in seine Umgebung Spannungen hineinträgt oder erhöht, die nur durch eine Planung zu bewältigen sind. Was den Bebauungsplan in seinen „Grundzügen“, was seine „Planungskonzeption“ verändert, lässt sich nur durch (Um-)Planung ermöglichen und darf nicht durch einen einzelfallbezogenen Verwaltungsakt der Baugenehmigungsbehörde zugelassen werden. Die Änderung eines Bebauungsplans obliegt nach § 2 BauGB der Gemeinde und nicht der Bauaufsichtsbehörde (vgl. BVerwG, U.v. 2.2.2012 - 4 C 14.10 - BVerwGE 142, 1 = juris Rn. 22 m.w.N.). Von Bedeutung für die Beurteilung, ob die Zulassung eines Vorhabens im Wege der Befreiung die Grundzüge der Planung berührt, können auch Auswirkungen des Vorhabens im Hinblick auf mögliche Vorbild- und Folgewirkungen für die Umgebung sein (vgl. BVerwG, B.v. 29.7.2008 - 4 B 11.08 - ZfBR 2008, 797 = juris Rn. 4). Auch Festsetzungen, die nicht für die Grundkonzeption des Bebauungsplans maßgeblich sind, können die Grundzüge der Planung bestimmen, wenn ihnen nämlich ein spezifisches planerisches Konzept zugrunde liegt. Die Befreiung darf deshalb auch nicht aus Gründen erteilt werden, die sich in einer Vielzahl gleichgelagerter Fälle oder gar für alle von einer bestimmten Festsetzung betroffenen Grundstücke anführen lassen (BVerwG, B.v. 8.5.1989 - 4 B 78.98; B.v. 5.3.1999 - 4 B 5.99 - beide juris; vgl. auch Söfker in Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, Baugesetzbuch, Stand: 147. EL Aug. 2022, § 31 BauGB Rn. 35 f.).
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Unter Zugrundelegung dieser Grundsätze ist vorliegend davon auszugehen, dass durch eine Genehmigung eines Mehrfamilienwohnhauses mit vier Wohneinheiten an Stelle der vom Plangeber festgelegten Ein- und Zweifamilienhäuser in dem hier gegebenen Baugebiet die Grundzüge der Planung berührt würden. Aus Sicht der Kammer sind insoweit folgende Erwägungen maßgeblich:
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In der Rechtsprechung ist anerkannt, dass die Festsetzung der höchstzulässigen Zahl der Wohneinheiten in Wohngebäuden - nach § 9 Abs. 1 Nr. 6 BauGB - einen Grundzug der Planung darstellen kann (vgl. OVG Lüneburg, B.v. 11.3.2022 - 1 LA 95/21 - NVwZ-RR 2022, 412; OVG Hamburg, B.v. 5.6.2009 - 2 Bs 26/09 - NJOZ 2009, 3854). Vorliegend gehört die Festsetzung der höchstzulässigen Zahl der Wohnungen in Nr. 3 der Baubeschränkungen des „Baulinienplans Nr. …“ zu den Grundzügen der Planung. Denn bei Heranziehung dieses Baulinienplans und der hierzu verfügten „Baubeschränkungen“ ist zunächst festzustellen, dass für den gesamten räumlichen Geltungsbereich ein Wohngebiet mit der entsprechenden Regelung über die höchstzulässige Anzahl der Wohneinheiten festgesetzt wurde; diese Festsetzung durchzieht mithin das gesamte Baugebiet. Hierin manifestiert sich, dass es sich insoweit um einen maßgeblichen und nicht nur nebensächlichen Bestandteil der Festsetzungen dieses Plans handelt. Die Regelung zieht sich mithin wie ein „roter Faden“ durch die gesamte Planung des Baugebiets. Dass die festgesetzte höchstzulässige Zahl der Wohnungen zu den Grundzügen des Plans gehört und nicht nur beiläufig erfolgt ist, wird bekräftigt durch die Ausführungen der Beklagten, der Baulinienplan mit einer entsprechenden Baubeschränkung sei gerade aufgrund der schwierigen örtlichen Geländeverhältnisse aufgestellt worden. Auch dies findet, wie auch die Problematik der schwierigen Erschließung, einen Anhaltspunkt in den Unterlagen zur Aufstellung des Baulinienplans, wenn dort davon die Rede ist, dass aufgrund der „vorgenommenen Untersuchungen und Geländeaufnahmen (…) die Undurchführbarkeit einer verbesserten Erschließung der Mittelzone (…) erhärtet ist und der 2,5 m breite Wohnweg auf halber Höhe zwischen H.- und S., der im Westen als Sackgasse und ohne Kehre endet, vom städtebaulich wie verkehrstechnischen Standpunkt nicht befriedigen kann“ (vgl. Schreiben der Regierung von Mainfranken vom …1938 an die Stadt Würzburg).
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Fortgeschrieben wird diese zentrale Festsetzung über die ausschließliche Zulässigkeit von Ein- und Zweifamilienhäusern in dem betroffenen Baugebiet zwischen der Hö. S., der S. und der G. in dem qualifizierten Bebauungsplan Nr. … „1. Änderung und Erweiterung des Bebauungsplans R.“, dessen räumlicher Geltungsbereich sich westlich des Baugrundstücks auf dem Gebiet des westlichen Teils des bisherigen Baulinienplans erstreckt. Denn auch insoweit werden - unter Ziffer 2.1. der Weiteren Festsetzungen - je Wohngebäude maximal zwei Wohneinheiten für zulässig erklärt. In diesem Zusammenhang hat die Beklagte - für die Kammer nachvollziehbar - darauf hingewiesen, dass auch das Bauleitplanverfahren zur „1. Änderung und Erweiterung des Bebauungsplanes R.“ maßgeblich von den Bedenken geleitet worden sei, dass eine räumliche Erweiterung des Geltungsbereichs zu einer noch höheren Belastung der ohnehin bereits kritischen Verkehrssituation führen würde. Der notwendige Ausgleich der berührten Belange habe letztlich durch die Beschränkung des allgemeinen Wohngebietes auf 15 Bestandseinzelhausbebauungen und neun neue Einzelwohnhäuser geschaffen werden können. Diese Aussage findet ihre Stütze in der Begründung des qualifizierten Bebauungsplans vom 15.2./12.7.1990, wonach eine Ausdehnung des Bebauungsplans nach Osten - und damit in Richtung des Baugrundstücks - nicht möglich sei, da die schon bei dieser Planung kritische Verkehrssituation noch weiter verschärft würde.
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Da die Beschränkung der Wohneinheiten einen Grundzug der Planung betrifft, steht der beantragten Befreiung entgegen, dass diese einen tiefgreifenden Eingriff in das planerische Grundkonzept darstellen würde. Es handelt sich nicht lediglich um eine untergeordnete Abweichung, vielmehr begehrt der Kläger eine Verdoppelung der zulässigen Wohneinheiten von maximal zwei auf vier. Die begehrte Befreiung berührt die Grundzüge der Planung, denn der mit der Befreiung verbundene Eingriff in das Plangefüge könnte nicht eingegrenzt, nicht isoliert werden. Hier ließe sich die Begründung für die zu erteilende Befreiung, nämlich die der „innerstädtischen Wohnraumschaffung (…) auf dem ca. 1.500 m²-Grundstück“ (vgl. Antrag auf Befreiung, Bl. 21 der Bauakte) auf eine Vielzahl gleichgelagerter Fälle oder gar auf (nahezu) alle Grundstücke im betroffenen Baugebiet anführen. Auch wenn die Grundstücke zum Teil einen anderen Zuschnitt haben und größtenteils mit Einfamilienhäusern bebaut sind, könnte innerhalb der festgesetzten Baufenster mehr als die festgesetzte Zahl an Wohnungen errichtet werden. Dann aber wäre das der Planung zugrundeliegende Konzept beeinträchtigt und die städtebauliche Konzeption ausgehebelt.
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Ob darüber hinaus Gründe des Wohls der Allgemeinheit die Befreiung erfordern oder die Abweichung städtebaulich vertretbar ist oder die Durchführung des Bebauungsplans zu einer offenbar nicht beabsichtigten Härte führen würde und ob die Abweichung auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist, bedarf nach allem keiner Entscheidung mehr. Gründe, die für das Vorliegen dieser tatbestandlichen Voraussetzungen in Ansatz gebracht werden könnten, wurden jedenfalls weder im Baugenehmigungsverfahren noch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren vorgebracht.
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Da nach alledem bereits die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Befreiung hinsichtlich der Zahl der Wohneinheiten nach § 31 Abs. 2 BauGB nicht gegeben sind, erweist sich die Entscheidung der Beklagten, die entsprechende Befreiung und damit auch die beantragte Baugenehmigung gemäß § 30 Abs. 3 i.V.m. § 31 Abs. 2 BauGB zu versagen, als rechtsfehlerfrei.
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2.4. Ob dem Kläger ein Anspruch auf Erteilung der weiterhin beantragten Befreiungen hinsichtlich der geänderten Dachform (Flachdach statt Walmdach), der Überschreitung der Baugrenzen sowie der Bautiefenbegrenzung zusteht, konnte ebenfalls offenbleiben.
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2.5. Nach allem bedurfte schließlich auch die zwischen den Beteiligten strittige Frage, ob von einer gesicherten Erschließung i.S.v. § 30 Abs. 3 BauGB auszugehen ist, ebenfalls keiner abschließenden Entscheidung.
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3. Der Hilfsantrag ist ebenfalls unbegründet. Die Ablehnung der beantragten Baugenehmigung war rechtmäßig und der Kläger wird durch sie nicht in ihren Rechten verletzt.
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Insbesondere ist die Ablehnung der beantragten Befreiung bzgl. der Zahl der Wohneinheiten nicht ermessensfehlerhaft erfolgt. Es liegen nämlich bereits die Tatbestandsvoraussetzungen für den Erlass der Befreiung nicht vor (s. oben unter 2.3.). Eine Ermessensausübung musste daher gar nicht vorgenommen werden.
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4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit resultiert aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11 und § 711 ZPO.