Inhalt

OLG Nürnberg, Endurteil v. 14.06.2023 – 4 U 3561/22
Titel:

Auslegung eines Teilungsabkommens bei gestörtem Gesamtschuldverhältnis

Normenketten:
SGB VII § 104, § 105, § 106 Abs. 3
BGB § 426, § 823 Abs. 1, § 831, § 840
Teilungsabkommen § 6 Abs. 1, Abs. 2
Leitsätze:
Zur Auslegung eines Teilungsabkommens, das Sonderregelungen für die Haftungsbefreiung nach §§ 104, 105, 106 SGB VII und die Fälle des sogenannten "gestörten Gesamtschuldverhältnisses" vorsieht. (Rn. 2 – 11)
1. Die Haftung des außerhalb des Sozialversicherungsverhältnisses stehenden Zweitschädigers ist gegenüber dem Geschädigten auf den Betrag beschränkt, der im Verhältnis zu dem haftungsprivilegierten Erstschädiger auf ihn entfiele, wenn der Ausgleich nach § 426 BGB nicht durch das Haftungsprivileg der §§ 104, 105, 106 SGB VII verhindert würde. (Rn. 6) (redaktioneller Leitsatz)
2. Hätte ein Erstschädiger im Innenverhältnis zu weiteren für die Schadensentstehung Verantwortlichen ohne die Haftungsprivilegierung des § 106 Abs. 3 Alt. 3 SGB VII den Schaden allein zu tragen, wäre es nicht gerechtfertigt, den Zweitschädiger im Rahmen des gestörten Gesamtschuldverhältnisses gleichwohl für den Schaden (endgültig) haften zu lassen. (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Teilungsabkommen, Auslegung, gestörtes Gesamtschuldverhältnis, Haftungsprivilegierung, Verrichtungsgehilfe, Beteiligung
Vorinstanz:
LG Ansbach, Endurteil vom 12.12.2022 – 2 O 549/22
Fundstellen:
VersR 2024, 823
r+s 2023, 739
BeckRS 2023, 14632
LSK 2023, 14632

Tenor

1. Auf die Berufung der Klägerin wird das Endurteil des Landgerichts Ansbach vom 12.12.2022 geändert:
a) Es wird festgestellt, dass die Beklagte zu 1) nicht berechtigt ist, die an die Klägerin unter der Schadensnr. D… bereits gezahlten 4.727,60 € zurückzufordern.
b) Die Beklagte zu 1) wird verurteilt, über die negative Feststellung in Ziffer 1 hinaus an die Klägerin weitere 10.272,40 € nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 02.07.2022 zu zahlen.
2. Die Beklagte zu 1) hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen. Von den Gerichtskosten erster Instanz trägt die Klägerin 95%, die Beklagte zu 1) 5%. Von den erstinstanzlichen außergerichtlichen Kosten der Beklagten zu 1) trägt die Klägerin 33%. Von den erstinstanzlichen außergerichtlichen Kosten der Klägerin trägt die Beklagte zu 1) 5%.
3. Das Urteil ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.
4. Die Revision wird nicht zugelassen.
Beschluss
Der Streitwert wird für das Berufungsverfahren auf 15.000,00 € festgesetzt.

Entscheidungsgründe

I.
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Die zulässige Berufung ist begründet.
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Die Klägerin hat gegen die Beklagte zu 1) aufgrund § 6 Abs. 2 des zwischen den Parteien bestehenden Teilungsabkommens (TA) einen Anspruch auf Feststellung und Zahlung im tenorierten Umfang.
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1. § 6 Abs. 1 TA bestimmt, dass das Teilungsabkommen keine Anwendung findet, wenn es sich bei dem Geschädigten – neben der hier nicht einschlägigen Fallkonstellation des in häuslicher Gemeinschaft lebenden Familienangehörigen (§ 116 Abs. 6 SGB X) – um eine Person handelt, der gegenüber die Haftung nach §§ 104, 105, 106 SGB VII ausgeschlossen ist. Der Haftpflichtversicherer soll in diesen Fällen, in denen er nach der Haftungslage nicht einstehen muss, dem Abkommenspartner auch nicht auf die Abkommensquote haften. Davon ist auch das Landgericht ausgegangen, denn es hat festgestellt, dass es sich bei dem Geschädigten (Herr R.) um eine Person handelt, der gegenüber die Haftung nach 106 Abs. 3 3. Alt. SGB VII ausgeschlossen ist, weil der LKW-Fahrer R. und der Beklagte zu 3 als Gabelstaplerfahrer auf einer gemeinsamen Betriebsstätte tätig waren und auch eine Gefahrengemeinschaft vorgelegen habe. Diese Würdigung (gemeinsame Betriebsstätte) wird von der Berufung hingenommen.
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2. Demgegenüber bestimmt § 6 Abs. 2 TA, dass ein Sonderfall aus dem Problemkreis der Haftungsfreistellung doch in den Wirkungsbereich des Teilungsabkommens fallen soll, allerdings mit einer vom Regelfall abweichenden Quote (zwei Drittel der nach § 1 des Abkommens erstattungsfähigen Sozialversicherungsleistungen).
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a) § 6 Abs. 2 TA betrifft den Fall, in dem − wieder abgesehen von der hier nicht vorliegenden Fallkonstellation des § 116 Abs. 6 SGB X − neben dem Haftpflichtversicherten der X.-Versicherung (also der Beklagten zu 2) eine Person beteiligt ist, deren Haftung im Verhältnis zum Geschädigten nach §§ 104, 105, 106 SGB VII ausgeschlossen ist, also den Fall des sog. „gestörten Gesamtschuldverhältnisses“.
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Für diese Fälle hat die Rechtsprechung den Grundsatz entwickelt, dass sich die Haftung des außerhalb des Sozialversicherungsverhältnisses stehenden Schädigers − des sog. Zweitschädigers (Beklagte zu 2) − gegenüber dem Geschädigten auf den Betrag beschränkt, der im Verhältnis zu dem haftungsprivilegierten sog. Erstschädiger (Beklagter zu 3) auf ihn entfiele, wenn der Ausgleich nach § 426 BGB nicht durch das Haftungsprivileg der §§ 104, 105, 106 SGB VII verhindert würde (BGH, Urteil vom 18.11.2014 – VI ZR 47/13 –, BGHZ 203, 224-239).
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b) Die Voraussetzungen der gesamtschuldnerischen Haftung der Beklagten zu 2) und des Beklagten zu 3) sind gegeben: Der Beklagte zu 3) haftet als unmittelbar Handelnder wegen fahrlässiger Körperverletzung nach § 823 Abs. 1, § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 229 StGB. Denkt man das Haftungsprivileg des § 106 Abs. 3 Alt. 3 SGB VII hinweg, so würde die Beklagte zu 2) nach § 831, § 823, § 840 Abs. 1 BGB als Gesamtschuldnerin aus vermutetem Auswahl- oder Überwachungsverschulden für ihren Mitarbeiter und Verrichtungsgehilfen haften, der beim Rückwärtsfahren mit dem Gabelstapler die erforderliche Sorgfalt außer Acht gelassen und den Versicherten der Klägerin verletzt hat.
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c) Ist neben demjenigen, welcher nach § 831 BGB zum Ersatz des von einem anderen verursachten Schadens verpflichtet ist, auch der andere für den Schaden verantwortlich, so ist in ihrem Verhältnis zueinander nach § 840 Abs. 2 BGB der andere allein verpflichtet. Insoweit ist „ein anderes bestimmt“ i. S. d. § 426 Abs. 1 S. 1 BGB. Dies beruht auf dem Grundgedanken, dass in den Fällen, in denen auf der einen Seite nur eine Gefährdungshaftung oder eine Haftung aus vermutetem Verschulden, auf der anderen Seite jedoch erwiesenes Verschulden vorliegt, im Innenverhältnis derjenige den ganzen Schaden tragen soll, der nachweislich schuldhaft gehandelt hat. Demgemäß entspricht es ständiger Rechtsprechung, dass derjenige, der seinerseits eine Pflicht verletzt hat, im Innenausgleich sich nicht mit Erfolg darauf berufen kann, in der Erfüllung eben dieser Pflicht nicht genügend überwacht worden zu sein. Hätte mithin der Erstschädiger im Innenverhältnis zur Beklagten zu 2) die Verantwortung für die Schadensentstehung ohne die Haftungsprivilegierung des § 106 Abs. 3 Alt. 3 SGB VII allein zu tragen, so wäre es nicht gerechtfertigt, die Beklagte zu 2) als Zweitschädiger im Rahmen des gestörten Gesamtschuldverhältnisses gleichwohl für den Schaden (endgültig) haften zu lassen (BGH VersR 2004, 202).
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d) Von dieser Rechtsprechung sind die Abkommenspartner offensichtlich ausgegangen. Sie haben sich in § 6 Abs. 2 TA entschieden, die Haftung des in diesen Fällen allein einstandspflichtigen Zweitschädigers gleichfalls der abkommensmäßigen Pauschalierung zuzuführen, dabei jedoch berücksichtigt, dass sich nach der Haftungslage durch die Rechtsprechungsgrundsätze zum gestörten Gesamtschuldverhältnis in der großen Zahl der Fälle eine geminderte Haftung des Zweitschädigers ergibt. Dies kommt im Teilungsabkommen durch eine geringere Abkommensquote zum Ausdruck (zwei Drittel der nach § 1 des Abkommens erstattungsfähigen Sozialversicherungsleistungen).
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3. Die Beklagte zu 1) kann nichts zu ihren Gunsten daraus herleiten, dass der Beklagten zu 2) keine Verkehrssicherungspflichtverletzung oder ein Organisationsverschulden vorgeworfen werden kann. Dies ist nicht erforderlich. Die Beklagte zu 2) haftet aus § 831 BGB für ihren Verrichtungsgehilfen. Damit ist sie nach § 6 Abs. 2 TA „an der Entstehung des Schadensereignisses … beteiligt“. Ohne den Einsatz ihres Arbeitnehmers, des Beklagten zu 3), wäre es nicht zu dem Schadensereignis gekommen.
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Der Bundesgerichtshof (Urteil vom 23.03.1993 – VI ZR 164/92 – juris) hatte einen ähnlichen Fall zu entscheiden, bei dem die Klausel eines Teilungsabkommens vergleichbar war. Sie war sogar noch etwas strenger und unterschied sich darin, dass es dort hieß „Entstehung des Schadens“ (hier: „Entstehung des Schadensereignisses“) und „als Mitverursacher beteiligt“ (hier „beteiligt“). Gleichwohl hat der Bundesgerichtshof entschieden, dass die dortige Regelung in § 4b TA die gestörte Gesamtschuld betrifft und auch die Fahrzeughalterin, die das Fahrzeug im verkehrssicheren Zustand übergeben hatte, neben dem haftungsprivilegierten Unfallfahrer an der Entstehung des Schadens als Mitverursacherin beteiligt war. Für die streitgegenständliche Konstellation gilt nichts anderes. Die Beklagte zu 2) als Arbeitgeberin des Erstschädigers ist an der „Entstehung des Schadensereignisses beteiligt“, auch wenn sie kein Organisationsverschulden oder eine Verletzung einer eigenen Verkehrssicherungspflicht trifft. Sie würde nach § 831 BGB für ihren Arbeitnehmer haften, haftet aber wegen der gestörten Gesamtschuld mit ihrem haftungsbefreiten Arbeitnehmer auch im Außenverhältnis nicht.
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4. Die Höhe des Anspruchs ist zwischen den Parteien nicht streitig. Sie beträgt zwei Drittel der nach § 1 TA erstattungsfähigen Sozialversicherungsleistungen (2/3 von 45% des Teilungsabkommenslimits von 50.000 €), mithin 15.000 €. Da die Beklagte zu 1) bereits 4.727.60 € gezahlt hat, steht ihr kein Rückforderungsanspruch zu. Die restlichen 10.272,40 € hat sie noch zu zahlen.
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Eine Geldschuld hat der Schuldner von dem Eintritt der Rechtshängigkeit an in gesetzlicher Höhe zu verzinsen, § 291, § 288 Abs. 1 S. 2 BGB.
II.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 Abs. 1, § 92 Abs. 1 ZPO. Hinsichtlich der erstinstanzlichen Kostenentscheidung war zu berücksichtigen, dass bei den Gerichtskosten von einem gedachten Streitwert in Höhe von 274.428,56 € (4.727,60 € + (3 x 17.772,40 € =) 53.317,20 € + (2 x 108.191,88 € =) 216.383,76 €) auszugehen ist. Da die Klage in erster Instanz vollständig abgewiesen wurde und die Klägerin in zweiter Instanz 15.000 € gegen die Beklagte zu 1) gewinnt, sind dies 5,47%, gerundet 5%. Bei der Erstattung der außergerichtlichen Kosten der Beklagten zu 1) war zu berücksichtigen, dass die Beklagte zu 1) nur mit einem Streitwert von 22.500 € (4.727,60 € + 17.772,40 €) beteiligt war und die Klägerin mit 15.000 € obsiegt. Damit hat die Klägerin 33% der außergerichtlichen Kosten der Beklagten zu 1) zu tragen. Der erstinstanzliche Erstattungsanspruch der außergerichtlichen Kosten der Klägerin gegenüber der Beklagten zu 1) beträgt wieder 5,47%, gerundet 5%.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 708 Nr. 10, §§ 711, 713 ZPO.
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Die Revision gegen dieses Urteil war nicht zuzulassen. Zulassungsgründe i. S. d. § 543 Abs. 2 S. 1 ZPO liegen nicht vor.