Titel:
rechtswidrige Unzulässigkeitsentscheidung (Folgeantrag Bulgarien)
Normenketten:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 5, § 71
GRCh Art. 4
EMRK Art. 3
VwVfG § 51 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 3
Asylverfahrens-RL Art. 40
Leitsätze:
1. Die nationale Fristgebundenheit bei Folgeanträgen ist mit den unionsrechtlichen Vorgaben aus Art. 40 der Asylverfahrens-Richtlinie nicht vereinbar; § 51 Abs. 3 VwVfG bleibt infolge des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts daher unangewendet. (Rn. 36) (redaktioneller Leitsatz)
2. Nachdem in Bulgarien nunmehr Voraussetzung für den Erhalt eines Identitätsdokuments stets eine Registrierung eines anerkannt Schutzberechtigten in der zivilen Datenbank ist, bei der ein fester Wohnsitz angegeben werden muss, Schutzberechtigte es aber zuerst aus eigener Kraft schaffen müssen, eine Wohnanschrift vorzuweisen, bevor eine Registrierung möglich ist, und Ende des Jahres 2020 die zuvor gesetzlich verankerte finanzielle Unterstützung zur Unterbringung für einen Zeitraum von sechs Monaten abgeschafft wurde, besteht nunmehr die ernsthafte Gefahr, dass ein anerkannt Schutzberechtigter bei einer erneuten Überstellung nach Bulgarien (mit seiner Familie) einer gegen Art. 4 GRCh, Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung ausgesetzt wäre. (Rn. 66 – 69) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Folgeantrag nach Ablehnung des Asylantrags als unzulässig, Überstellung nach Bulgarien, Obdachlosigkeit in Bulgarien nach Gewährung internationalen Schutzes, Flüchtlingsschutz, Durchführung eines weiteren Asylverfahrens, Folgeantrag, RL 2013/32//EU, Familienverband, „out-of-Pocket“-Zahlungen, Korruption
Fundstelle:
BeckRS 2023, 14478
Tenor
Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 15. Mai 2019 wird aufgehoben.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens; insoweit ist das Urteil vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der festgesetzten Kosten abwenden, wenn nicht der Kläger Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Tatbestand
1
Der Kläger wendet sich gegen einen Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt), mit welchem sein Antrag auf die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens als unzulässig abgelehnt und seine Abschiebung nach Bulgarien angedroht wurde.
2
Der Kläger ist syrischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit. Eigenen Angaben zufolge verließ er sein Herkunftsland am 16. August 2014. Er reiste am 28. Dezember 2014 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte erstmalig am 27. Januar 2015 einen förmlichen Asylantrag.
3
Ein aufgrund eines für den Kläger festgestellten EURODAC-Treffers (…) an Bulgarien gestelltes Wiederaufnahmegesuch wurde mit Schreiben der bulgarischen Behörden vom 18. Februar 2015 mit dem Hinweis darauf abgelehnt, der Kläger habe in Bulgarien am 12. November 2014 Flüchtlingsschutz zuerkannt bekommen.
4
Mit Bescheid des Bundesamtes vom 23. Februar 2015 wurde der Asylantrag des Klägers als unzulässig abgelehnt (Ziffer 1 des Bescheids). Der Kläger wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Unzulässigkeitsentscheidung zu verlassen, andernfalls wurde ihm die Abschiebung, zuvorderst nach Bulgarien, angedroht (Ziffer 2 des Bescheids).
5
Hiergegen ließ der Kläger durch seinen vormals Bevollmächtigten am 3. März 2015 Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht Regensburg erheben. Die Klage wurde mit Urteil vom 29. Juli 2015 (…) abgewiesen. Das Verwaltungsgericht ging von der Zulässigkeit einer Abschiebung nach Bulgarien aus, da keine systemischen Mängel festzustellen seien, die einer Abschiebung entgegenstünden. Ein hiergegen gerichteter und durch den Klägerbevollmächtigten gestellter Antrag auf Zulassung der Berufung vom 10. August 2015 wurde durch den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof mit Beschluss vom 6. Oktober 2015 (…) abgelehnt.
6
Am 17. Februar 2016 ließ der Kläger durch seinen vormals Bevollmächtigten gegenüber dem Bundesamt das Wiederaufgreifen des Verfahrens und die Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG beantragen.
7
Mit Bescheid des Bundesamtes vom 6. Februar 2017 wurde der Antrag auf Abänderung des Bescheids vom 23. Februar 2015 bezüglich der Feststellungen zu § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG abgelehnt.
8
Am 18. Oktober 2017 wurde der Kläger nach Bulgarien überstellt.
9
Der Kläger und seine Familie reisten am 29. März 2019 über Dänemark in die Bundesrepublik Deutschland ein, am 3. April 2019 stellte der Kläger einen förmlichen Antrag auf Durchführung eines weiteren Asylverfahrens.
10
Im Rahmen der Anhörung zur Zulässigkeit des Asylantrags am 7. Mai 2019 gab der Kläger unter anderem an, seine Aufenthaltserlaubnis für Bulgarien werde im November 2019 ablaufen. Das Leben in Bulgarien sei nicht einfach. Der Kläger habe fünf Kinder, mit seiner Frau seien sie zu siebt. Es gebe in Bulgarien keine Arbeit für sie. Der Kläger habe in Bulgarien als Tagelöhner gearbeitet, etwa auf Baustellen oder als Reinigungskraft, die Arbeit sei aber schlecht bezahlt gewesen. Er habe auch samstags und sonntags arbeiten müssen und, wenn er sonntags Arbeit gefunden habe, monatlich etwa 1200 Lewa verdient, wobei er 600 bis 700 Lewa für die Miete habe zahlen müssen und zusätzlich Nebenkosten und medizinische Versorgung. Auch wenn man bei einer Firma arbeite, bekomme man nur 600 bis 700 Lewa im Monat.
11
Als seine Familie nach Bulgarien gekommen sei, hätten sie trotz monatelanger Suche keine Wohnung gefunden. Es sei schwierig gewesen, weil die Leute nicht an Flüchtlinge vermieten wollten. Vorübergehend seien sie beim Roten Kreuz untergekommen, als seine Frau und seine Kinder anerkannt worden seien, hätten sie die Einrichtung jedoch wieder verlassen müssen. Die Kinder des Klägers hätten zwar in der Türkei gearbeitet, nicht aber in Bulgarien. Als sie in der Aufnahmeeinrichtung gewesen seien, hätten sie zur Schule gehen können, danach nicht mehr; der Kläger habe es finanziell nicht geschafft, seine Kinder in die Schule zu schicken. Allerdings habe er es auch nicht probiert, denn als sie aus der Aufnahmeeinrichtung entlassen worden seien, seien sie gleich nach Deutschland gekommen. Hefte und sonstiger Schulbedarf seien nicht umsonst. Die Kinder des Klägers hätten in Bulgarien keine Zukunft, ihr Ziel sei von Anfang an Deutschland gewesen. In Bulgarien gebe es keine Arbeit, und ohne Arbeit könne der Kläger nicht überleben. Auch die medizinische Versorgung in Bulgarien sei sehr schlecht. Es sei dort auch nicht möglich, als Flüchtling eine Wohnung zu bekommen.
12
Mit Bescheid des Bundesamtes vom 15. Mai 2019, dem Kläger zugestellt am 20. Mai 2019, wurde der Asylantrag des Klägers als unzulässig abgelehnt (Ziffer 1 des Bescheids). Der Antrag auf Abänderung des Bescheids vom 6. Februar 2017 (Az.: …) bezüglich der Feststellungen zu § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG wurde ebenfalls abgelehnt (Ziffer 2). Der Kläger wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von einer Woche nach Bekanntgabe des Bescheids zu verlassen, andernfalls wurde ihm die Abschiebung, zuvorderst nach Bulgarien, angedroht. Der Antragsteller dürfe nicht nach Syrien abgeschoben werden (Ziffer 3). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf 48 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet.
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Zur Begründung des Bescheids wurde unter anderem ausgeführt, der Asylantrag sei unzulässig, da die Voraussetzungen für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens im Sinne von § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG i.V.m. § 71 AsylG nicht vorlägen. Der Kläger könne aufgrund des in Bulgarien gewährten internationalen Schutzes keine weitere Schutzgewährung verlangen. Es liege keine geänderte Sach- oder Rechtslage vor und es seien auch keine anderen Wiederaufgreifensgründe ersichtlich. Eine günstigere Entscheidung sei nicht möglich. Auch in Bezug auf die Abschiebungsverbote seien die Voraussetzungen von § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG nicht erfüllt, zudem bestehe kein Anspruch des Klägers auf ein Wiederaufgreifen im weiteren Sinn nach §§ 51 Abs. 5, 48 oder 49 VwVfG. Es sei insbesondere nicht ersichtlich, dass sich die humanitären Bedingungen für international Schutzbedürftige derart verschlechtert hätten, dass das Verfahren wiederaufgenommen werden müsse. Es sei auch nicht erkennbar, dass der Kläger durch die insoweit neue Situation, nunmehr nicht alleine, sondern gemeinsam mit seiner Familie in Bulgarien zu leben, von Verelendung bedroht sei. Die Wohnsituation für international Schutzberechtigte in Bulgarien sei inzwischen nicht mehr bedenklich. Auch hätten Schutzberechtigte in Bulgarien vollständigen Zugang zum dortigen Arbeitsmarkt, zu Sozialhilfe und Rechtshilfe. Eine medizinische Notfallversorgung sei sichergestellt, der Zugang zur Krankenversicherung sei wie bei bulgarischen Staatsangehörigen durch Beitragszahlungen möglich. Auf die weitere Begründung des Bescheids wird Bezug genommen.
14
Am 27. Mai 2019 ließ der Kläger durch seinen nunmehr Bevollmächtigten Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht Ansbach erheben. Zur Begründung wurde zunächst auf die Anhörung des Bundesamts verwiesen.
15
Mit am 22. Juli 2019 eingegangenem Schriftsatz machte der klägerische Bevollmächtigte geltend, eine Abschiebung des Klägers nach Bulgarien dürfe nicht erfolgen, da dort Gefahren im Sinne von Art. 3 EMRK zu erwarten seien (unter Verweis auf MSC-International, Report Bulgarien 2017/2018; OVG Berlin-Brandenburg, B.v. 15.11.2018 – OVG 3 S 87.18).
16
Mit Schriftsatz vom 25. August 2022 führte der Klägerbevollmächtigte weiter aus, eine Abschiebung nach Griechenland (wohl Bulgarien) sei nach derzeitigem Stand unzulässig. Der dort anerkannte Schutz sei aufgrund des bereits vergangenen Zeitfensters abgelaufen und der Kläger könne sich hierauf bereits nicht mehr berufen. Zudem existierten derart schlechte Lebensverhältnisse, dass die herrschenden Lebensbedingungen nicht ausreichen würden, um, selbst bei unterstellter Erwerbstätigkeit, eine Ernährung der Angehörigen sicherzustellen.
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Die Asylanträge der Ehefrau des Klägers und seiner fünf Kinder wurden mit Bescheid des Bundesamts vom 21. Mai 2019 als unzulässig abgelehnt und die Abschiebung nach Bulgarien wurde ihnen angedroht. Das gegen die Unzulässigkeitsentscheidung des Bundesamtes gerichtete Klageverfahren der Ehefrau und der Kinder des Klägers (…) wurde durch in der mündlichen Verhandlung vom 5. Mai 2023 gefassten Beschluss mit dem Verfahren des Klägers zur gemeinsamen Verhandlung verbunden.
18
Im Rahmen der Erörterung der Sach- und Rechtslage gab der Kläger in der mündlichen Verhandlung an, nach der Abschiebung nach Bulgarien 2017 zunächste auf sich allein gestellt gewesen zu sein. Er habe dann einen Menschen aus Syrien kennengelernt, der ihm Arbeit als Reinigungskraft in seiner Fabrik gegeben habe und ihn an der Arbeitsstelle habe schlafen lassen. Er habe nur dort Arbeit gefunden. Das verdiente Geld, etwa 30 Lewa je Tag, an dem der Kläger habe arbeiten können, habe nicht gereicht, um ein Zimmer oder eine Wohnung zu mieten. Der Kläger habe in Bulgarien keine Arbeitserlaubnis gehabt. Auch mit Arbeitserlaubnis hätte er maximal 600 Lewa verdienen können. Er sei nicht in der nationalen Datenbank Bulgariens registriert gewesen, wisse davon nichts. Krankenversichert sei er ebenfalls nicht gewesen. Er habe durch den bulgarischen Staat keinerlei Unterstützung bekommen. Nach einer staatlichen Unterstützung habe er bei staatlichen Stellen nicht gefragt, sondern nur bei der Caritas und beim Roten Kreuz. Zu dem Syrer, der ihm in Bulgarien geholfen habe, bestehe kein Kontakt; er habe dem Kläger auch vereinbarungsgemäß nur so lange geholfen, bis seine Familie da gewesen sei. Der Kläger glaube nicht, bei einer Rückkehr nach Bulgarien wieder von ihm Arbeit zu bekommen.
19
Gesundheitliche Probleme bestünden weder bei dem Kläger noch bei seiner Familie. Die Kinder der Familie hätten in Bulgarien nicht die Schule besucht, sondern nur Sprachunterricht bekommen. Bulgarisch beherrsche kein Familienmitglied mehr. Nachdem ihnen ein Schutzstatus gewährt worden sei, sei die Familie mit ihren Koffern vor die Tür der Asylbewerberunterkunft gesetzt worden. Das Rote Kreuz habe ihnen nicht helfen können. Bis zur Ausreise aus Bulgarien zwei Tage später sei die Familie kurzfristig beim Arbeitgeber des Klägers untergekommen. Das Geld für die Reise nach Deutschland habe der Kläger von seinem Bruder geliehen, der in Deutschland lebe und arbeite.
Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 15.02.2019, AZ: …, wird aufgehoben.
21
Die Beklagte beantragt mit Schriftsatz vom 11. Juni 2019,
22
Sie bezieht sich zur Begründung auf die angefochtene Entscheidung.
23
Hinsichtlich weiterer Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte und auf die vorgelegten Behördenakten im hiesigen Verfahren sowie im Verfahren … verwiesen. Auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 5. Mai 2023 wird Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
24
Über den Rechtsstreit konnte aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 5. Mai 2023 trotz des Ausbleibens eines Vertreters der Beklagten entschieden werden. Die Beteiligten wurden gemäß § 102 Abs. 2 VwGO in der Ladung auf die Möglichkeit der Verhandlung und Entscheidung auch bei Ausbleiben eines Beteiligten hingewiesen.
25
Die zulässige Klage ist auch begründet, daher ist der streitgegenständliche Bescheid aufzuheben (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
26
1. Die Klage ist zulässig.
27
Die Anfechtungsklage ist die allein statthafte Klageart gegen die erneute Unzulässigkeitsentscheidung (Ziffer 1 des streitgegenständlichen Bescheids). Jedenfalls seit der Zusammenfassung der verschiedenen Unzulässigkeitsgründe in § 29 Abs. 1 AsylG sind Bescheide, die einen Asylantrag ohne weitere inhaltliche Sachprüfung als unzulässig ablehnen, mit der Anfechtungsklage anzugreifen (BVerwG, U.v. 1.6.2017 – 1 C 9/17 – juris Rn. 15; U.v. 14.12.2016 – 1 C 4/16 – juris Rn. 17 ff.). Bei Erfolg der Anfechtungsklage wird der die Unzulässigkeit des Asylantrags feststellende Bescheid komplett aufgehoben und das Asylverfahren fortgeführt.
28
Die Klage wurde fristgerecht erhoben und ist auch im Übrigen zulässig.
29
2. Die Anfechtungsklage ist auch begründet. Der streitgegenständliche Bescheid ist rechtswidrig, da er im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 AsylG) auf keinen Unzulässigkeitstatbestand des § 29 Abs. 1 AsylG – insbesondere weder auf § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG noch auf § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG – gestützt werden kann, und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
30
a) Vorliegend wurde der erste in Deutschland gestellte Asylantrag des Klägers bereits 2015 wegen zuvor gewährten internationalen Schutzes als unzulässig abgelehnt und die Klage gegen die Ablehnung rechtskräftig abgewiesen. Der nun vom Kläger gestellte und mit dem streitgegenständlichen Bescheid als unzulässig abgelehnte Asylantrag wurde vom Bundesamt im angefochtenen Bescheid als Folgeantrag im Sinne von § 71 AsylG behandelt.
31
Ob der 2019 in der Bundesrepublik gestellte, erneute Asylantrag einen Folgeantrag nach § 71 AsylG darstellt, wird uneinheitlich beurteilt. Teils wird vertreten, dass ein Folgeantrag nur vorliegen soll, wenn ein zuvor gestellter Asylantrag nach inhaltlicher Prüfung in der Sache (und nicht allein nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a oder Nr. 2 AsylG als unzulässig) abgelehnt wurde (vgl. VG Ansbach, U.v. 22.9.2021 – AN 17 K 20.50012 – juris Rn. 25 f. m.w.N.; Stern in Huber/Mantel AufenthG, 3. Aufl. 2021, AsylG § 71 Rn. 6 m.w.N.).
32
Überzeugend erscheint es indes – wie vorliegend auch vom Bundesamt angenommen wurde – im nochmaligen Begehren des Klägers einen Folgeantrag i.S.d. § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylG zu sehen und entsprechend die Zulässigkeit des erneuten Asylantrags an § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG zu messen. Für ein enges Verständnis des Folgeantragsbegriffs gibt der Wortlaut des § 71 AsylG, der allein von der unanfechtbaren Ablehnung eines Asylantrags – und nicht von seiner unanfechtbaren Ablehnung in der Sache o.ä. – spricht, keine Anhaltspunkte. Sowohl bei einer uneingeschränkten sachlichen Erstprüfung als auch bei einer vorangegangenen Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 AsylG wurde das nationale Asylverfahren mit einer für den Antragsteller negativen Entscheidung abgeschlossen und sollte nur unter den besonderen Voraussetzungen des § 71 AsylG wiederaufgenommen werden (vgl. Dickten in BeckOK AuslR, 36. Ed. 1.1.2023, AsylG § 71 Rn. 5; VG München B.v. 4.4.2016 – M 1 K 16.50007 – BeckRS 2016, 46988). Anders als bei der vorangegangenen Ablehnung eines Asylantrags nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG aufgrund der Zuständigkeit eines anderen Mitgliedsstaats für das Asylverfahren des betreffenden Antragstellers, vermag das Gericht auch nicht zu erkennen, dass ein dem Wortlaut des § 71 AsylG Rechnung tragendes Verständnis des Asylfolgeantrags der Konzeption des deutschen und europäischen Asylsystems widerspräche (so aber VG Ansbach, B.v. 15.4.2020 – AN 17 E 20.50011 – juris Rn. 25).
33
Einer Entscheidung bedarf es vorliegend allerdings nicht, denn der streitgegenständliche Bescheid des Bundesamts ist in jedem Fall rechtswidrig, unabhängig davon, ob er auf § 29 Abs. 1 Nr. 1 oder Nr. 5 AsylG gestützt wird.
34
b) Im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylG) liegen die Voraussetzungen für eine Ablehnung des Asylantrags als unzulässig nach § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG i.V.m. § 71 AsylG nicht vor, da eine im Vergleich zur Situation bei der ablehnenden Entscheidung 2015 zugunsten des Klägers veränderte Sach- und Rechtslage in Bulgarien besteht.
35
Es kommt nicht auf die Veränderung der Sach- und Rechtslage gegenüber der Situation bei der Entscheidung über den Wiederaufgreifensantrag des Klägers im Februar 2017 an, denn im Rahmen des damaligen Wiederaufgreifensverfahrens begehrte der Kläger lediglich die Abänderung des Erstbescheids hinsichtlich der Feststellung von Abschiebungshindernissen nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG. Vorliegend geht es aber um die Sach- und Rechtslage insoweit, als sie für die Zulässigkeit des Asylantrags entscheidend ist. Hierüber ist seit dem Erstverfahren erst wieder mit dem streitgegenständlichen Bescheid entschieden worden.
36
Nach § 71 Abs. 1 AsylG ist ein weiteres Asylverfahren nach der Folgeantragstellung nur durchzuführen, wenn die Voraussetzungen des Wiederaufgreifens des Verfahrens des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG gegeben sind. Gemäß § 51 Abs. 1 VwVfG ist das Verfahren nur dann wiederaufzugreifen, wenn sich die dem Verwaltungsakt zugrundeliegende Sach- oder Rechtslage nachträglich zugunsten des Betroffenen geändert hat (Nr. 1), neue Beweismittel vorliegen, die eine dem Betroffenen günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würden (Nr. 2) oder Wiederaufnahmegründe entsprechend § 580 ZPO gegeben sind (Nr. 3). Ferner ist der Antrag auf Wiederaufgreifen im Sinne des § 51 Abs. 2 VwVfG nur zulässig, wenn der Betroffene ohne grobes Verschulden außerstande war, den Grund für das Wiederaufgreifen in dem früheren Verfahren geltend zu machen. Nach § 51 Abs. 3 Satz 1 VwVfG muss der Antrag binnen drei Monaten gestellt werden, jedoch ist § 51 Abs. 3 VwVfG nach der aktuellen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs mit den unionsrechtlichen Vorgaben der RL 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes vom 26. Juni 2013 (Asylverfahrensrichtlinie) nicht vereinbar und bleibt aufgrund des Anwendungsvorrangs unangewendet (vgl. EuGH, U.v. 9.9.2021 – C-18/20 – juris Rn. 54; VG München, U.v. 28.6.2022 – M 22 K 21.30972 – juris Rn. 22).
37
Eine nachträgliche Änderung der Sach- und Rechtslage zugunsten des Betroffenen liegt dabei nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts vor, wenn sich die für den ergangenen Verwaltungsakt entscheidungserheblichen Rechtsnormen oder tatsächlichen Grundlagen geändert haben, so dass die Änderung eine dem Betroffenen günstigere Entscheidung erfordert oder möglich ist. Die Sach- und Rechtslage muss sich hinsichtlich solcher Umstände geändert haben, die für den streitgegenständlichen Verwaltungsakt tatsächlich maßgeblich waren (vgl. BVerwG, U.v. 20.11.2018 – 1 C 23/17 – juris Rn. 13).
38
Bei dem Ausgangsbescheid vom 23. Februar 2015 handelt es sich um einen sog. „Drittstaatenbescheid“, da hierin nach damaligem Recht die Ablehnung des Asylantrags des Klägers als unzulässig aufgrund der Schutzzuerkennung in einem sicheren Drittstaat unter Verweis auf § 26a AsylVfG erfolgte. Im nach § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung wäre dies als Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 3 AsylG zu verstehen, dessen Voraussetzungen jedoch nicht vorliegen, da es sich bei Bulgarien als Mitgliedstaat der Europäischen Union nicht um einen „sicheren Drittstaat“ handeln kann (vgl. BVerwG, U.v. 30.3.2021 – 1 C 41/20 – juris Rn. 12, 13 m.w.N.). Jedoch kann die Unzulässigkeitsentscheidung in eine solche nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG aufgrund der Schutzzuerkennung in einen anderen Mitgliedstaat umgedeutet werden (§ 47 VwVfG; zum Ganzen vgl. BVerwG, U.v. 30.3.2021 – 1 C 41/20 – juris Rn. 14 ff.). Nachdem der Kläger durch das Bundesamt zur Zulässigkeit des Asylantrags ordnungsgemäß angehört wurde, liegen die verfahrensrechtlichen Voraussetzungen einer Umdeutung vor (vgl. BVerwG, U.v. 30.3.2021 – 1 C 41/20 – juris Rn. 17 ff).
39
Es ist also entscheidend, ob sich die Sach- und Rechtslage zugunsten des Klägers derart gewandelt hat, dass eine Unzulässigkeitsentscheidung basierend auf bereits in Bulgarien gewährtem internationalen Schutz – nach aktueller Rechtslage nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG – nunmehr rechtswidrig wäre.
40
Diese Voraussetzungen sind vorliegend gegeben, denn infolge von Änderungen der Sach- und Rechtslage seit 2015 droht dem Kläger bei einer Rückkehr nach Bulgarien eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK.
41
aa) Durch § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG wird Art. 33 Abs. 2 Buchst. a Asylverfahrensrichtlinie in nationales Recht umgesetzt (vgl. EuGH, B.v. 13.11.2019 – Hamed u.a., C-540/17 u.a. – juris Rn. 30). Hierbei wird in Art. 33 Abs. 2 Buchst. a Asylverfahrensrichtlinie den Mitgliedstaaten die Befugnis eingeräumt, einen Asylantrag aufgrund einer internationalen Schutzgewährung in einem anderweitigen Mitgliedstaat als unzulässig abzulehnen, wie im Falle des Klägers letztendlich geschehen ist.
42
Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs kann auch bei der bereits erfolgten Gewährung internationalen Schutzes die Unzulässigkeitsentscheidung aus Gründen vorrangigen Unionsrechts ausnahmsweise ausgeschlossen sein (vgl. EuGH, B. v. 13.11.2019 – Hamed – u.a., C-540/17 u.a. – juris; U.v. 19.3.2019 – Ibrahim u.a., C-297/17 u.a. – juris). Das ist der Fall, wenn den Kläger die Lebensverhältnisse, welche ihn als anerkannten Flüchtling in dem anderen Mitgliedstaat erwarten würden, der ernsthaften Gefahr aussetzen würden, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh zu erfahren. Unter diesen Voraussetzungen ist es den Mitgliedstaaten untersagt, von der durch Art. 33 Abs. 2 Buchst. a Asylverfahrensrichtlinie eingeräumten Befugnis Gebrauch zu machen, einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig abzulehnen (BVerwG, U.v. 20.5.2020 – 1 C 34/19 – juris Rn. 15 unter Verweis auf EuGH, B.v. 13.11.2019 – Hamed u.a., C-540/17 u.a. – Rn. 35 und U.v. 19.3.2019 – Ibrahim u.a., C-297/17 u.a. – Rn. 88). Somit sollen Verstöße gegen Art. 4 GRCh im Mitgliedstaat der anderweitigen Schutzgewährung nicht nur bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit einer Abschiebungsandrohung Berücksichtigung finden, sondern bereits zur Rechtswidrigkeit der Unzulässigkeitsentscheidung führen (vgl. BVerwG, U.v. 20.5.2020 – 1 C 34/19 – juris Rn. 15).
43
Allein der Umstand, dass die Lebensverhältnisse in dem Mitgliedstaat nicht den Bestimmungen der Art. 20 ff. im Kapitel VII der RL 2011/95/EU (Anerkennungsrichtlinie) gerecht werden, führt dabei angesichts des fundamentalen Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten nicht zu einer Einschränkung der Ausübung der in Art. 33 Abs. 2 Buchst. a Asylverfahrensrichtlinie vorgesehenen Befugnis, solange die Schwelle des Art. 4 GRCh nicht er-reicht ist (vgl. EuGH, B.v. 13.11.2019 – Hamed u.a., C-540/17 u.a. – juris Rn. 36; BVerwG, U.v. 20.5.2020 – 1 C 34/19 – juris Rn. 16, 17). Denn jeder Mitgliedstaat darf grundsätzlich davon ausgehen, dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die dort anerkannten Grundrechte beachten (vgl. BVerwG, U.v. 20.5.2020 – 1 C 34/19 – juris Rn. 16). Auch wenn der Schutzberechtigte in dem Staat, der ihm internationalen Schutz gewährt hat, keine o-der im Vergleich zu anderen Mitgliedstaaten nur in deutlich eingeschränktem Umfang existenz-sichernde Leistungen erhält, ohne jedoch anders als die Angehörigen dieses Mitgliedstaates behandelt zu werden und ohne der ernsthaften Gefahr einer gegen Art. 4 GRCh verstoßenden Behandlung ausgesetzt zu sein, kann vermutet werden, dass das Unionrecht durch den betreffenden Mitgliedstaat beachtet wird (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim u.a., C-297/17 u.a. – juris Rn. 93; BVerwG, U.v. 20.5.2020 – 1 C 34/19 – juris Rn. 16).
44
Diese Vermutung kann aber widerlegt werden, wenn in dem schutzgewährenden Mitgliedstaat das Gemeinsame Europäische Asylsystem in der Praxis auf größere Funktionsstörungen stößt und dadurch der betroffene Antragsteller tatsächlich der ernsthaften Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 GRCh ausgesetzt wäre (vgl. BVerwG, U.v. 20.5.2020 – 1 C 34.19 – juris Rn. 17). Dass sich ein anderer Mitgliedstaat in diesem Falle nicht auf Art. 33 Abs. 2 Buchst. a Asylverfahrensrichtlinie berufen darf, folgt aus dem absoluten Charakter des Verbotes in Art. 4 GRCh, wonach ausnahmslos jede Form unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung verboten ist, ohne dass es darauf ankommt, ob eine solche Behandlung zum Zeitpunkt der Überstellung, während des Asylverfahrens oder nach dessen Abschluss droht (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim u.a., C-297/17 u.a. – juris Rn. 86 ff.; BVerwG, U.v. 20.5.2020 – 1 C 34/19 – juris Rn. 17).
45
Aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs in seiner Entscheidung „Ibrahim“ vom 19. März 2019 ergibt sich, dass Mängel des Asylsystems nur dann gegen das Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung verstoßen können, wenn sie eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim u.a., C-297/17 u.a. – juris Rn. 88 f.; B.v. 13.11.2019 – Hamed u.a., C-540/17 u.a. – juris Rn. 34). Diese Schwelle soll erst dann erreicht sein, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaates zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre psychische oder physische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (vgl. EuGH, U. v. 19.3.2019 – Ibrahim u.a., C-297/17 u.a. – juris Rn. 90; B. v. 13.11.2019 – Hamed u.a., C-540/17 u.a. – juris Rn. 39). Selbst durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betroffenen Person ist diese Schwelle nicht erreicht, wenn diese Verhältnisse nicht mit extremer materieller Not verbunden sind, aufgrund derer diese Person sich in einer solch schwerwiegenden Situation befindet, dass diese einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann (EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim u.a., C-297/17 u.a. – juris Rn. 91; B.v. 13.11.2019 – Hamed u.a., C-540/17 u.a. – juris Rn. 39).
46
In jedem Fall muss nach den dargestellten Maßstäben des Europäischen Gerichtshofs ein „real risk“ der Verletzung von Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK bestehen, was dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entspricht (vgl. VG Würzburg, U.v. 29.1.2021 – W 9 K 20.30260 – juris Rn. 26). Besteht ein derartiges Risiko, ist eine Unzulässigentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG rechtswidrig.
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bb) Im entscheidungsrelevanten Zeitpunkt (§ 77 Abs. 1 AsylG) stellt sich die Lage für anerkannt Schutzberechtigte in Bulgarien wie folgt dar:
48
Anerkannte Flüchtlinge haben – mit wenigen Ausnahmen, die die bulgarische Staatsbürgerschaft voraussetzen – grundsätzlich dieselben Rechte wie bulgarische Staatsbürger, subsidiär Schutzberechtigte haben dieselben Rechte wie Inhaber eines permanenten Aufenthaltstitels (BFA, Länderinformation der Staatendokumentation Bulgarien, Stand: 13.06.2022, S. 13).
49
Dabei erhalten anerkannte Flüchtlinge ein Identitätsdokument mit einer Gültigkeit von fünf Jahren, das Identitätsdokument der subsidiär Schutzberechtigten hat eine Gültigkeit von drei Jahren (AIDA, Country Report: Bulgaria, 2022 Update, S. 103). Bei Auslaufen des jeweiligen Identitätsdokuments können die Betroffenen einen neuen Aufenthaltstitel beantragen (vgl. AIDA, Country Report: Bulgaria, 2022 Update, S. 106).
50
Der Besitz eines gültigen Identitätsdokuments ist Voraussetzung für die Ausübung fast aller Rechte wie u.a. des Rechts, sich in Bulgarien aufzuhalten, auf Unterbringung und Versorgung, sowie auf Sozialhilfe im gleichen Umfang wie bei bulgarischen Staatsbürgern sowie auf Krankenversicherung, medizinische Versorgung und Bildung (AIDA, Country Report: Bulgaria, 2022 Update, S. 103; BFA, Länderinformation der Staatendokumentation Bulgarien, Stand: 13.06.2022, S. 14).
51
Voraussetzung für den Erhalt des Identitätsdokuments ist stets eine Registrierung in der zivilen Datenbank, bei der ein fester Wohnsitz angegeben werden muss (AIDA, Country Report: Bulgaria, 2022 Update, S. 103). Dies stellt in der Praxis ein massives Problem für die Schutzberechtigten dar, denn für den für eine Wohnsitznahme erforderlichen Abschluss eines Mietvertrags ist seinerseits ein Identitätsdokument erforderlich (AIDA, Country Report: Bulgaria, 2022 Update, S. 111). Die Angabe der bisherigen Flüchtlingsunterkunft als Wohnsitz wurde seitens der staatlichen Agentur für Flüchtlinge beim Ministerrat (State Agency for Refugees with the Council of Ministers, SAR) Ende 2016 verboten (AIDA, Country Report: Bulgaria, 2022 Update, S. 103). Dementsprechend können anerkannt Schutzberechtigte bei der Beantragung der Dokumente keine gültige Wohnanschrift angeben, da es ihnen, in Ermangelung eben dieser Identitätsdokumente, verwehrt ist, eine Wohnung anzumieten (AIDA, Country Report: Bulgaria, 2022 Update, S. 103). Dies führt unter anderem zu Korruptionspraktiken mit falschen Anmietungen und Adressregistrierungen (AIDA, Country Report: Bulgaria, 2022 Update, S. 111, 103).
52
Ende des Jahres 2020 wurde in Bulgarien die gesetzlich verankerte finanzielle Unterstützung zur Unterbringung für einen Zeitraum von sechs Monaten abgeschafft (AIDA, Country Report: Bulgaria, 2022 Update, S. 111). In den Aufnahmezentren dürfen, in Ermangelung einer staatlichen Unterstützung bei der Integration, nach der Zuerkennung internationalen Schutzes nur noch manche besonders schutzbedürftigen Personen für ein paar Monate bleiben (AIDA, Country Report: Bulgaria, 2022 Update, S. 111). Ansonsten besteht für in Bulgarien anerkannt Schutzberechtigte keine Möglichkeit der staatlichen Unterbringung mehr.
53
Die Wohnungssuche gestaltet sich für anerkannt Schutzberechtigte als sehr schwierig (vgl. AIDA, Country Report: Bulgaria, 2022 Update, S. 111). Bei der selbstständigen Suche nach Wohnraum können anerkannt Schutzberechtigte zwar auf die Hilfe von Nichtregierungsorganisationen zurückgreifen (BFA, Länderinformation der Staatendokumentation Bulgarien, Stand: 13.06.2022, S. 15 f.), es besteht jedoch Zurückhaltung bulgarischer Vermieter, Wohnungen an anerkannt Schutzberechtigte zu vermieten (vgl. Auskunft des AA an das VG Potsdam zur Lage von in Bulgarien anerkannt Schutzberechtigten, vom 11.3.2021, S. 3; UNHCR, Municipal Housing Policies: A Key Factor for Successful Integration at the Local Level, 2020 (Sofia), S. 61). Bei den vorhandenen Hilfsorganisationen selbst können Schutzberechtigte nicht längerfristig untergebracht werden (BFA, Bulgarien, Situation von subsidiär Schutzberechtigten, 19.7.2021 (Wien), S. 2, 4).
54
Der Zugang von Schutzberechtigten zu Sozialwohnungen ist eingeschränkt (UNHCR, Municipal Housing Policies: A Key Factor for Successful Integration at the Local Level, 2020 (Sofia), S. 61). In vielen Gemeinden ist Voraussetzung für den Zugang, dass mindestens ein Familienmitglied die bulgarische Staatsangehörigkeit besitzt, was bei anerkannt Schutzberechtigten regelmäßig nicht der Fall ist (UNHCR, Municipal Housing Policies: A Key Factor for Successful Integration at the Local Level, 2020 (Sofia), S. 47). Daneben verlangen die Gemeinden eine mehrjährige Mindestwohndauer im Gemeindegebiet – je nach Gemeinde zwischen zwei und zehn Jahre – als Voraussetzung für den Zugang zu Sozialwohnungen (UNHCR, Municipal Housing Policies: A Key Factor for Successful Integration at the Local Level, 2020 (Sofia), S. 47).
55
Die prinzipiell mögliche Unterbringung in einem – nicht nur Flüchtlingen offenstehenden – staatlichen Obdachlosenheim scheitert häufig an bürokratischen Hürden und der eingeschränkten Verfügbarkeit. Auch hier ist für eine Registrierung die Vorlage eines gültigen Reise- bzw. Identitätsdokuments erforderlich, was wiederum eine Meldeanschrift erfordert. Auch die Adresse eines Übergangswohnheims für Obdachlose kann nicht als Meldeanschrift angegeben werden (vgl. Auskunft des AA an das VG Potsdam zur Lage von in Bulgarien anerkannt Schutzberechtigten, vom 11.3.2021, S. 2).
56
Ohne festen Wohnsitz können anerkannt Schutzberechtigte auch keine Sozialleistungen erhalten, da diese bei der zuständigen Wohnsitzbehörde zu beantragen sind (AIDA, Country Report: Bulgaria, 2022 Update, S. 112). Auch hierbei darf als Wohnsitz nicht die Adresse des vorherigen Aufnahmezentrums angegeben werden (AIDA, Country Report: Bulgaria, 2022 Update, S. 112). Zudem ist die Beantragung mit bürokratischen und formalen Hürden verbunden (BFA, Länderinformation der Staatendokumentation Bulgarien, Stand: 13.06.2022, S. 15), die anerkannt Schutzberechtigte nur mithilfe entsprechender Hilfsorganisationen, welche aber nicht immer verfügbar sind, überwinden können (AIDA, Country Report: Bulgaria, 2022 Update, S. 112). Daneben setzen auch viele Sozialleistungen eine bestimmte Mindestwohndauer in der Gemeinde voraus, sodass sie von anerkannt Schutzberechtigten in den meisten Fällen nicht sofort beansprucht werden können (AIDA, Country Report: Bulgaria, 2022 Update, S. 112).
57
Schutzberechtigte sind verpflichtet, ihr Identitätsdokument nach Gültigkeitsablauf neu ausstellen zu lassen. Eine nicht vorgenommene Erneuerung des Dokuments ist ein Grund für die Überprüfung des bereits gewährten Schutzstatus (BFA, Bulgarien, Situation von subsidiär Schutzberechtigten, 19.07.2021 (Wien), S. 3, 6). In den Jahren 2018 bis 2022 wurde über 4.200 Schutzberechtigten so der Schutzstatus entzogen, davon 41 im Jahr 2022 (AIDA, Country Report: Bulgaria, 2022 Update, S. 106, unter Berufung auf SAR, reg. No. №РД05-40 v. 16.01.2023).
58
Schutzberechtigte haben in Bulgarien automatisch und bedingungslos Zugang zum Arbeitsmarkt (AIDA, Country Report: Bulgaria, 2022 Update, S. 111). Übliche Probleme sind jedoch häufig die mangelnden Sprachkenntnisse und eine fehlende staatliche Unterstützung (AIDA, Country Report: Bulgaria, 2022 Update, S. 111; BFA, Länderinformation der Staatendokumentation Bulgarien, Stand: 13.06.2022, S. 15). Darüber hinaus ist auch für die Annahme einer (legalen) Erwerbstätigkeit wiederum ein gültiges Identitätsdokument erforderlich (AIDA, Country Report: Bulgaria, 2022 Update, S. 103; UNHCR, Municipal Housing Policies: A Key Factor for Successful Integration at the Local Level, 2020 (Sofia), S. 43).
59
Hinsichtlich der Gesundheitsversorgung sind anerkannt Schutzberechtigte bulgarischen Staatsangehörigen gleichgestellt; ab Schutzzuerkennung müssen sie monatliche Krankenversicherungsbeiträge in Höhe von mindestens BGN 44,80 (22,90 EUR) selbst bezahlen (AIDA, Country Report: Bulgaria, 2022 Update, S. 112 f., 81). Das führt dazu, dass viele anerkannt Schutzberechtigte ohne Versicherung bleiben (BFA, Länderinformation der Staatendokumentation Bulgarien, Stand: 13.06.2022, S. 15). Die medizinische Versorgung von Kindern unter 16 Jahren wird aus dem Staatshaushalt bezahlt (vgl. Website der Europäischen Kommission, aufgerufen am 17.5.2023 unter https://ec.europa.eu/social/main.jsp?catId=1103& langId=de& intPageId=4432). Hinzu kommen bei Ärzten und Krankenhäusern häufig sogenannte „out-of-Pocket“-Zahlungen, die ebenfalls aus eigenen finanziellen Mitteln zu erbringen sind und in Kombination mit den zu leistenden Krankenkassenbeiträgen zu einer unverhältnismäßigen Belastung der zahlreichen einkommensschwachen Haushalte führen (BFA, Länderinformation der Staatendokumentation Bulgarien, Stand: 13.06.2022, S. 15).
60
Problematisch ist, dass wegen des schlechten Allgemeinzustandes des Gesundheitssystems aufgrund finanzieller und materieller Defizite viele chronische Krankheiten nicht behandelt werden können und viele notwendige Medikamente nicht verfügbar sind (AIDA, Country Report: Bulgaria, 2022 Update, S. 112 f., 46). Außerdem müssen von Rückkehrern zur Wiederherstellung ihrer Krankenversicherungsrechte alle fälligen Beiträge der letzten 60 Monate nachgezahlt werden (BFA, Bulgarien, Situation von subsidiär Schutzberechtigten, 19.07.2021 (Wien), S. 11 f. m.w.N.). Bis zur vollständigen Beitragsnachzahlung umfasst die verfügbare Gesundheitsversorgung nur Nothilfe und einzelne Leistungen wie medizinische Versorgung für gebärende Frauen und Impfungen (vgl. Website der Europäischen Kommission, aufgerufen am 17.5.2023 unter https://ec.europa.eu/social/main.jsp?catId=1103& langId=de& intPageId=4432). Außerdem hängt der Zugang zur Gesundheitsversorgung ebenfalls vom Besitz eines gültigen Identitätsdokuments ab (AIDA, Country Report: Bulgaria, 2022 Update, S. 103).
61
Anerkannt Schutzberechtigte haben Zugang zu den Hilfeleistungen kommunaler und karitativer Einrichtungen in Bulgarien, sowie zu internationalen und bulgarischen Nichtregierungsorganisationen, wie etwa dem Bulgarischen Roten Kreuz, der Caritas oder dem vom UNHCR finanzierten Bulgarian Helsinki Commitee (BFA, Länderinformation der Staatendokumentation Bulgarien, Stand: 13.06.2022, S. 15 f.). Diese bieten den Schutzberechtigten Unterstützung etwa bei der Arbeitssuche, durch Geld- und Sachleistungen, Integrationsmaßnahmen (beispielsweise Sprachkurse), kurzzeitige Unterbringungsmöglichkeiten und soziale, rechtliche und psychologische Beratung (BFA, Bulgarien, Situation von subsidiär Schutzberechtigten, 19.07.2021 (Wien), S. 2 f.; BFA, Länderinformation der Staatendokumentation Bulgarien, Stand: 13.06.2022, S. 15 f.).
62
In Bulgarien existiert eine Integrationsverordnung vom 19. Juli 2017 (AIDA, Country Report: Bulgaria, 2022 Update, S. 101), die den Abschluss individueller Integrationsvereinbarungen auf Wunsch der Gemeinde und mit Zustimmung des Schutzberechtigten innerhalb von drei Jahren ab Schutzgewährung vorsieht (BFA, Bulgarien, Situation von subsidiär Schutzberechtigten, 19.07.2021 (Wien), S. 7). Eine Verpflichtung der Gemeinden zur Teilnahme an dem Integrationsprogramm oder zur Schaffung günstigerer Konditionen für die Integration gibt es nicht. Bisher wird die Integrationsverordnung schlicht nicht umgesetzt (BFA, Länderinformation der Staatendokumentation Bulgarien, Stand: 13.06.2022, S. 13). Obwohl für jeden einzelnen Schutzberechtigten die finanziellen Mittel für eine Integrationsvereinbarung bereitstünden, werden diese von den Gemeinden seit Jahren nicht abgerufen (AIDA, Country Report: Bulgaria, 2022 Update, S. 102).
63
cc) Die Sach- und Rechtslage hat sich seit dem Erstverfahren 2015 in entscheidender Weise im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG zugunsten des Klägers geändert.
64
Im Falle der gerichtlichen Überprüfung der nachträglichen Änderung der Sach- und Rechtslage zugunsten des Betroffenen und der diesbezüglichen Zulässigkeit der Stellung eines Folgeantrags gemäß § 71 AsylG genügt es, wenn der Asylantragsteller die sein persönliches Schicksal bestimmenden Umstände im Verhältnis zu der früheren Asylentscheidung zugrunde gelegten Sachlage glaubhaft und substantiiert vorträgt, wobei mithin die Möglichkeit einer günstigeren Entscheidung aufgrund der geltend gemachten Wiederaufgreifensgründe genügt (vgl. BVerfG, Entscheidung v. 4.12.2019 – 2 BvR 1600/19 – juris Rn. 20). Dies gelingt dem Kläger vorliegend.
65
Zunächst ist eine entscheidende Änderung der Sachlage darin zu sehen, dass der Kläger nunmehr – anders als 2015 – nicht alleinreisend in die Bundesrepublik gekommen ist, sondern dass seine Frau und seine fünf Kinder (davon drei minderjährig) nun mit ihm im Familienverband leben. Auch ihnen wurde in Bulgarien der Schutzstatus zuerkannt. In derartigen Fällen ist eine gemeinsame Rückkehr jedenfalls der Kernfamilie (Eltern und minderjährige Kinder) der Gefährdungsprognose zugrunde zu legen (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 49.18 – BeckRS 2019, 19728). Das Bundesverwaltungsgericht hat zu der Regelvermutung einer gemeinsamen Rückkehr der Kernfamilie als Grundlage der Verfolgungs- und Gefahrenprognose bislang nur im Falle einer Prüfung der Überstellung ins Herkunftsland entschieden, diese Rechtsprechung ist aber auf die vorliegende Konstellation der Rückführung in einen anderen EU-Mitgliedstaat übertragbar (vgl. etwa VGH BW, U.v. 7.7.2022 – A 4 S 3696/21 – juris Rn. 35; VG Würzburg, U. v. 5.10.2021 – W 4 K 20.31210 – juris Rn. 32).
66
Außerdem ist es seit Ende 2016 international Schutzberechtigten verwehrt, ihre vormalige Asylunterkunft als Adresse für die Registrierung in der zivilen Datenbank zu verwenden, bei der ein fester Wohnsitz angegeben werden muss. Von dieser Registrierung hängt wesentlich die Möglichkeit ab, diverse Formen der sozialen Unterstützung durch den bulgarischen Staat zu erlangen und legal am Arbeitsmarkt teilnehmen zu können (s.o.). Nunmehr müssen es Schutzberechtigte zuerst aus eigener Kraft schaffen, eine Wohnanschrift vorzuweisen, bevor eine Registrierung möglich ist (s.o.). Zudem hat sich die Rechtslage in Bulgarien derart geändert, dass Ende des Jahres 2020 in Bulgarien die zuvor gesetzlich verankerte finanzielle Unterstützung zur Unterbringung für einen Zeitraum von sechs Monaten abgeschafft wurde (s.o.).
67
Der Kläger konnte diese erst nachträglich eingetretenen Entwicklungen nicht im Ausgangsverfahren geltend machen, sodass § 51 Abs. 2 VwVfG das Wiederaufgreifen nicht ausschließt.
68
Die Sach- und Rechtslage hat sich damit hinsichtlich solcher Umstände geändert, die für den streitgegenständlichen Verwaltungsakt tatsächlich maßgeblich waren (BVerwG, U.v. 20.11.2018 – 1 C 23/17 – juris Rn. 13).
69
Es besteht nunmehr die ernsthafte Gefahr, dass der Kläger als anerkannt Schutzberechtigter bei einer erneuten Überstellung nach Bulgarien mit seiner Familie einer gegen Art. 4 GRCh, Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung ausgesetzt wäre. Insbesondere wären der Kläger und seine Kernfamilie mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von längerfristiger Obdachlosigkeit bedroht. Für den Kläger und seine Familie gibt es keine realistische Möglichkeit, bei einer Rückkehr nach Bulgarien eine Unterkunft zu finden und ihre weiteren grundliegenden Bedürfnisse zu befriedigen. Dies gilt auch dann, wenn eine Rückkehr auch der beiden inzwischen erwachsenen Kinder gemeinsam mit der Kernfamilie des Klägers der Prognose zugrunde gelegt wird.
70
Das Vorbringen des Klägers und seiner Familie beim Bundesamt und in der mündlichen Verhandlung deckt sich in Bezug auf die fehlende staatliche Bereitstellung einer Unterkunft nach Schutzzuerkennung mit der ausgeführten Auskunftslage: Nach seiner Rücküberstellung nach Bulgarien hat der Kläger insbesondere in Bezug auf eine Unterkunft keine Unterstützung durch den bulgarischen Staat erfahren. Seine Familie musste nach ihrer Schutzzuerkennung sofort die während des Asylverfahrens bereitgestellte Unterkunft verlassen. Obwohl alle fünf Kinder noch minderjährig waren, wurde die laut Auskunftslage bei besonderer Schutzbedürftigkeit prinzipiell bestehende Möglichkeit einer weiteren Unterbringung für mehrere Monate nicht angewendet. Der Kläger und seine Familie wendeten sich zudem in ihrer Notsituation erfolglos an das Rote Kreuz und die Caritas; eine mehr als vorübergehende Unterstützung durch Nichtregierungsorganisationen ist ohnehin laut Auskunftslage nicht möglich.
71
Bei einer Überstellung müssten sich der Kläger und seine Familie demnach selbstständig um eine Unterkunft bemühen, wobei sich sämtliche Schwierigkeiten dadurch potenzieren, dass die Familie des Klägers eine besonders große ist und entsprechend eine geräumigere Unterkunft benötigt.
72
Eine Sozialwohnung könnten der Kläger und seine Familie frühestens nach zwei Jahren erhalten und auch dann bleiben die Chancen nach der Auskunftslage äußerst gering. Es ist nicht ersichtlich, dass der Kläger und seine Familie Freunde, Verwandte oder anderweitige Kontakte in Bulgarien haben, bei denen ein kurz- bis mittelfristiges Unterkommen möglich wäre. Insbesondere ist nicht ersichtlich geworden, dass der Kläger über den in Bulgarien etablierten Syrer, der ihm nach seiner Überstellung nach Bulgarien Obdach und Arbeit gewährt hat und bei dem die ganze Familie zwei Tage bis zu ihrer Ausreise nach Deutschland unterkommen konnte, wieder die Möglichkeit hat, an eine Unterkunft zu kommen. Der Kläger gab an, keinen Kontakt mehr zu ihm zu haben und nicht zu glauben, dass er und seine Familie wieder dort unterkommen könnten. Nach seinen Angaben war die getroffene Abmachung – sowohl was die Arbeit betraf als auch in Bezug auf das kurzfristige Unterkommen der ganzen Familie – von vornherein als bloße Übergangslösung bis zur Ausreise der Familie nach Deutschland gedacht. Es bestehen daher keine Anhaltspunkte dafür, dass ein erneutes, zeitlich offenes Unterkommen hier möglich sein könnte, um eine Obdachlosigkeit abzuwenden.
73
Die Reise des Klägers und seiner Familie von Bulgarien nach Deutschland wurde durch Geld des Bruders des Klägers finanziert; es ist aber nicht erkennbar, dass er sich das nötige Geld leihen könnte, um auch nur übergangsweise durch anderweitige Anmietung einer Unterkunft eine Obdachlosigkeit abwenden zu können, geschweige denn, dass eine dauerhafte Unterstützung möglich wäre.
74
Der Kläger und seine Familie müssten sich wie oben beschrieben zunächst registrieren lassen, bevor sie gültige Identitätsdokumente erhalten könnten. Solange sie keine Identitätsdokumente haben, können sie auf dem freien Wohnungsmarkt keine Wohnung anmieten – für Flüchtlinge angesichts zögerlicher Vermietung ohnehin ein schwieriges Unterfangen, gerade für eine große Familie. Auch ein kurzfristiges Unterkommen in einer Obdachlosenunterkunft ist ohne Registrierung in der zivilen Datenbank nicht möglich. Die Registrierung könnten der Kläger und seine Familie aber mangels Wohnsitzes höchstens auf dem Wege der oben beschriebenen Korruptionspraktik vollziehen. Selbst wenn der Kläger auf diese illegale Praktik, einen fiktiven Mietvertrag vorzulegen, verwiesen werden dürfte (bejahend OVG Lüneburg, U. v. 07.12.2021 – 10 LB 257/20 – juris Rn. 25; verneinend VG Freiburg, U. v. 22.09.2021 – A 14 K 1088/19 – juris Rn. 34), ist nicht ersichtlich, wie er bzw. seine Familie zuvor die hierfür erforderlichen finanziellen Mittel erlangen könnte. Der Kläger und seine Familie sind in Deutschland völlig von öffentlicher Unterstützung abhängig und bringen glaubhaft vor, keine Ersparnisse zu haben. Zwar besteht in Bulgarien für anerkannt Schutzberechtigte grundsätzlich ein unbeschränkter Zugang zum Arbeitsmarkt. Jedoch ist für die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit zur Schaffung einer Existenzgrundlage ebenfalls die Vorlage gültiger Identitätsnachweise erforderlich (s.o.).
75
Dass der Kläger in den anderthalb Jahren zwischen seiner Überstellung nach Bulgarien im Oktober 2017 und seiner Wiedereinreise nach Deutschland im März 2019 Arbeit und Unterkunft gefunden hat, führt diesbezüglich zu keiner anderen Einschätzung. Er war in diesen anderthalb Jahren völlig von der – absprachegemäß nur vorübergehenden – Unterstützung durch seinen syrischen Landsmann abhängig. Der Kläger trägt glaubhaft vor, keine Möglichkeit zu sehen, wieder bei seinem vorherigen Arbeitgeber Arbeit zu bekommen. Sein damaliger Lohn hätte es ihm ohnehin nicht ermöglicht, für sich und seine Familie eine Wohnung zu mieten. Er hat sich keinerlei „Lageerkenntnisse“ in Bulgarien angeeignet, die es ihm ermöglichen könnten, anderweitig Arbeit zu finden oder an Unterstützung zu kommen. Er lebte für anderthalb Jahre außerhalb des staatlichen Systems, war nicht krankenversichert und arbeitete schwarz. Weder er noch seine Familie haben noch Kenntnisse der bulgarischen Sprache.
76
Dem Kläger und seiner Familie droht daher bei einer Rückkehr nach Bulgarien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine längerfristige Obdachlosigkeit. Daneben ist für sie keine realistische Möglichkeit ersichtlich – auch bei vier volljährigen und arbeitsfähigen Familienmitgliedern – durch Arbeit ihre grundlegenden Bedürfnisse (Nahrung, Hygieneartikel, Kleidung usw.) zu decken. Mangels Unterkunft wird ihnen keine Registrierung in der zivilen Datenbank gelingen. Damit ist ihnen legale Arbeit nicht möglich, wobei die Aussichten auf einen Job in Bulgarien angesichts hoher Arbeitslosigkeit ohnehin gering sind. Mangels Registrierung bleibt den arbeitenden Familienmitgliedern lediglich – sofern sie zu finden ist – schlecht bezahlte Schwarzarbeit offen, was angesichts der Größe der Familie nicht reichen wird, um die Deckung ihrer grundlegenden Bedürfnisse zu sichern.
77
Es ist nicht erkennbar, dass der Kläger durch seinen Willen und persönliche Entscheidungen dieser aussichtslosen Lage entkommen könnte. Er wäre in diesem Fall vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängig, könnte aber seine grundlegenden Bedürfnisse nicht decken. Dem steht der bulgarische Staat jedoch gleichgültig gegenüber, indem er für Anerkannte in dieser Situation keinerlei Hilfen bereithält und es ihnen durch die dargestellten Regelungen erheblich erschwert, in Bulgarien Fuß zu fassen (s.o.).
78
c) Das Gericht hat bei Vorliegen einer rechtswidrigen Unzulässigkeitsentscheidung zu prüfen, ob diese auf der Grundlage eines anderen, auf gleicher Stufe stehenden Unzulässigkeitstatbestandes aufrechterhalten werden kann (vgl. BVerwG, U.v. 1.6.2017 – 1 C 9/17 – juris Rn. 15). Vorliegend ist dies voraussichtlich jedoch nicht der Fall; insbesondere einer Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG steht wie erläutert entgegen, dass dem Kläger im Falle einer Überstellung nach Italien eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh, Art. 3 EMRK droht.
79
3. Die in Ziffer 1 des streitgegenständlichen Bescheids enthaltene Ablehnung seines Asylantrags als unzulässig ist daher rechtswidrig, verletzt den Kläger in eigenen Rechten und ist auf die Anfechtungsklage hin aufzuheben, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Das Asylverfahren des Klägers ist im nationalen Verfahren fortzusetzen. Damit ist die Ablehnung der Abänderung des Bescheids vom 6. Februar 2017 bzgl. der Feststellung zu § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG (Ziffer 2 des Bescheids) gegenstandslos geworden und zur Klarstellung ebenfalls aufzuheben.
80
Die in den Ziffern 3 und 4 des streitgegenständlichen Bescheids getroffenen Regelungen sind wegen der Aufhebung der Unzulässigkeitsentscheidung auf die Anfechtungsklage hin aufzuheben, weil sie verfrüht ergangen und daher rechtswidrig sind (vgl. BVerwG, U.v. 14.12.2016 – 1 C 4/16 – juris Rn. 21; VG Ansbach, U.v. 28.1.2021 – AN 17 K 18.50329 – BeckRS 2021, 2474, Rn. 75).
81
4. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.
82
Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 2, Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.