Titel:
kein Anspruch auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis
Normenketten:
AufenthG § 5 Abs. 2 S. 1 Nr. 1, § 5 Abs. 2 S. 2, § 28 Abs. 4, § 36 Abs. 2, § 71 Abs. 2 S. 1
AufenthV § 19, § 31
Leitsätze:
1. Für die Erteilung eines Aufenthaltstitels (Visum zum Familiennachzug) für einen im Ausland lebenden Ausländer ist die deutsche Auslandsvertretung nach § 71 Abs. 2 S. 1 AufenthG örtlich und sachlich zuständig; richtige Beklagte wäre die Bundesrepublik nach § 78 Abs. 1 Nr. 1 VwGO. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Einreise mit einem türkischen Spezial-/Dienst-/Diplomatenpass ins Bundesgebiet befreit den Ausländer nicht von der Pflicht zum Besitz des erforderlichen Visums für den tatsächlichen Aufenthaltszweck. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Aufenthaltserlaubnis als sonstige Familienangehörige, Einreise und vorübergehender visumfreier Aufenthalt mit einem türkischen Spezial-/ Dienst-Diplomatenpass im Bundesgebiet, fehlende Einreise mit dem erforderlichen Visum, Nachholung des Visumverfahrens, Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug, türkischer Dienstreisepass, „grüner Reisepass“
Fundstelle:
BeckRS 2023, 14286
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Kosten des Verfahrens hat die Klägerin zu tragen.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
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Die zu Besuchszwecken ins Bundesgebiet ein- und wieder ausgereiste Klägerin begehrt eine Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug zu ihrem Sohn in Deutschland.
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Die am ...1960 in der T. geborene Klägerin ist türkische Staatsangehörige, nach eigenen Angaben früher in einer türkischen Bank (...) erwerbstätig gewesen und seit dem Jahr 2011 im Ruhestand. Sie war und ist Inhaberin eines türkischen Dienstreisepasses („grüner Reisepass“), mit dessen bis zum 15. Juli 2021 befristeten Exemplar sie am 8. Januar 2020 zu Besuch zu ihrem in Deutschland lebenden Sohn einreiste und aufgrund der Pandemiebedingten Einschränkungen des Flugverkehrs zunächst nicht innerhalb des 90-tägigen visumfreien Aufenthalts wieder ausreisen konnte. Der Beklagte verlängerte ihr daraufhin mehrfach und zuletzt bis in den Oktober 2020 hinein die Ausreisefrist mittels einer Grenzübertrittsbescheinigung.
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Am 25. August 2022 ließ sie durch ihren Bevollmächtigten beim Beklagten eine Aufenthaltserlaubnis nach § 36 Abs. 2 AufenthG beantragen und zur Begründung ausführen, sie sei geschieden, alleinstehende Rentnerin und habe keine Verwandten in A.. Ihre einzigen Verwandten lebten in Deutschland, so ihre 1937 geborene Mutter in F.. Zwei Geschwister lebten ebenfalls in F. und in M. sowie ihr einziger Sohn in D.. Dieser sei deutscher Staatsangehöriger. Sie wolle länger als die drei – mit ihrem nun bis zum 30. Juni 2026 neu ausgestellten Dienstreisepass – visumfreie Monate bei ihrem Sohn bleiben und gleichzeitig die Wohnung in A. behalten, da sie je nach Jahreszeit dort wieder hinreisen, sich aber bei ihrem Sohn mit Hauptwohnsitz anmelden wolle. Sie verfüge über Grundbesitz in der Türkei (zwei Wohnungen), beziehe Altersrente und sei für Aufenthalte in Deutschland gemäß dem deutsch-türkischen Abkommen über soziale Sicherheit krankenversichert. In Deutschland könne sie bei ihrem erwerbstätigen und ebenfalls vermögenden Sohn in dessen Einfamilienhaus wohnen.
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Der Beklagte bestand auf der Ausreise und Nachholung des Visumverfahrens, da der geplante Aufenthalt ein Daueraufenthalt und hierfür ein nationales Visum erforderlich sei. Im Rahmen einer Vorsprache hielt der Klägerbevollmächtigte an seiner Rechtsauffassung fest und kündigte die Vorlage ärztlicher Atteste für die Klägerin binnen zwei Monaten an; der Beklagte hielt ebenfalls an seiner Rechtsauffassung fest. Die Klägerin reiste nach eigenen Angaben am 9. September 2022 in Begleitung ihres Sohnes aus.
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Das Landratsamt ... lehnte mit streitgegenständlichem Bescheid vom 12. September 2022 den formlosen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ab. Zur Begründung führte die Ausländerbehörde aus, sie sei für den Erlass des Bescheids weder sachlich noch örtlich zuständig. Hinsichtlich der örtlichen Zuständigkeit sei auf den gewöhnlichen Aufenthaltsort abzustellen, d. h. dort, wo der Ausländer seine alleinige Wohnung oder Hauptwohnung im melderechtlichen Sinne habe, also die Klägerin in A. in der Türkei. Daher sei die deutsche Auslandsvertretung für die Erteilung eines Visums an die – für längerfristige Aufenthalte nicht von der Visumpflicht befreite, sondern visumpflichtige – Klägerin nach § 71 Abs. 2 Satz 1 AufenthG zuständig. Erst danach könne im Bundesgebiet eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden. Zwar könne die Klägerin aufgrund ihres „grünen Reisepasses“ nach Art. 6 Abs. 1 Buchst. a VO 2018/1806/EG (EG-Visa-VO) als Inhaberin eines Dienstreisepasses für einen Aufenthalt von 90 Tagen im Zeitraum von 180 Tagen visumfrei einreisen. Dies gelte aber nicht für Daueraufenthalte zum Familiennachzug, für welche nach § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und Satz 2 i.V.m. § 28 Abs. 4 und § 36 Abs. 2 AufenthG ein durch die deutsche Auslandsvertretung unter Beteiligung der Ausländerbehörde nach § 31 AufenthV erteiltes nationales Visum erforderlich sei.
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Die Klägerin ließ gegen den am 14. September 2022 zugestellten Bescheid am 9. Oktober 2022 Klage erheben und beantragen,
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1. Der Bescheid des Beklagten vom 12. September 2022, mit dem der Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung vom 23. August 2022 ablehnend beschieden wurde, wird aufgehoben.
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2. Der Beklagte wird verpflichtet, unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts der Klägerin eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen.
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Unter Vertiefung des bisherigen Vortrags wurde ausgeführt, die Klägerin halte sich bis zu sechs Monate im Jahr bei ihrem Sohn in D. und damit gewöhnlich in Deutschland auf, sodass sowohl die Ausländerbehörde des Beklagten als auch die deutsche Botschaft in A. für den Antrag auf Aufenthaltserlaubnis zuständig seien. Das Visumverfahren sei jedoch zeitaufwendig und kompliziert und daher der Klägerin nicht mehr zumutbar. Sie benötige immer mehr Hilfe im Alltag, die sie in A. nicht bezahlen könne, weil die dortige Krankenkasse die Kosten nicht übernehme und es keine Pflegekasse gebe. Sie benötige daher die Nähe ihrer Familie. Zumindest aus humanitären Gründen sei nach § 22 AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen.
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Der Beklagte beantragt,
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Unter Vertiefung seiner Bescheidsbegründung führte er aus, das Visumverfahren sei zumutbar. Es diene der Zuwanderungssteuerung und der einer Einreise vorgelagerten Prüfung der Voraussetzungen seiner Erteilung zum Familiennachzug nach § 36 Abs. 2 AufenthG oder nach § 22 AufenthG.
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Auf Hinweis des Berichterstatters verzichteten die Klägerin am 15. Januar 2023 und der Beklagte am 25. Oktober 2022 auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung. Die Klägerin trug ergänzend vor, sie sei aufgrund ihres „grünen Reisepasses“ von der Visumpflicht befreit, ohne dass „eine amtliche Funktion oder ein amtlicher Auftrag“ nach § 19 AufenthV vorliegen müsse. Es fehle keineswegs an der Einreise mit dem erforderlichen Visum und die nächste Gerichtsinstanz denke hoffentlich anders.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird Bezug genommen auf die Gerichts- und die beigezogenen Behördenakten.
Entscheidungsgründe
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Die Klage, über welche auf Grund des allseitigen Verzichts der Beteiligten ohne die Durchführung einer mündlichen Verhandlung entschieden werden konnte (§ 101 Abs. 2 VwGO), ist unbegründet, weil die Klägerin weder einen Anspruch auf Erteilung der begehrten Aufenthaltserlaubnis noch auf Neuverbescheidung gegen den Beklagten hat (§ 113 Abs. 5 Satz 1 und Satz 2 AufenthG). Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Verpflichtungsklage ist jener der gerichtlichen Entscheidung.
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I. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis gegen den Beklagten. Der Anspruch scheitert erstens an der fehlenden Zuständigkeit des Beklagten und zweitens an den fehlenden sachlichen Voraussetzungen.
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Soweit die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis mittels dieser Klage gegen den Beklagten begehrt wird, ist dieser hierfür nicht nach § 71 Abs. 1 AufenthG örtlich und sachlich zuständig und insoweit nach § 78 Abs. 1 Nr. 1 VwGO auch der falsche Beklagte. Da die Klägerin nach den mit der Klage übermittelten Informationen am 9. September 2022 ausgereist ist und keine seitherige Einreise mitgeteilt wurde, befindet sie sich im Ausland, sodass die deutsche Auslandsvertretung – mutmaßlich in der Türkei – nach § 71 Abs. 2 Satz 1 AufenthG örtlich und sachlich für die Erteilung eines Aufenthaltstitels (Visum zum Familiennachzug) an die Klägerin zuständig und die Bundesrepublik nach § 78 Abs. 1 Nr. 1 VwGO die richtige Beklagte wäre.
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Der Antrag auf Verpflichtung des Beklagten zur Erteilung scheitert darüber hinaus an der fehlenden Ermessensreduzierung auf Null mit Blick auf die Ermessensvorschrift des § 36 Abs. 2 AufenthG sowie auch den hilfsweise geltend gemachten § 22 AufenthG. Eine Ermessenentscheidung der Behörde reicht für einen Anspruch nicht aus (vgl. BVerwG, U.v. 16.12.2008 – 1 C-37/07 – BVerwGE 132, 382 juris Rn. 21).
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Eine Einholung des Aufenthaltstitels im Bundesgebiet ist der Klägerin auch nicht über § 39 Satz 1 Nr. 2 AufenthV möglich, da sie allenfalls zu einem Kurzaufenthalt von bis zu 90 Tagen und nur für einen Aufenthalt von weniger als sechs Monaten visumbefreit wäre (vgl. oben). Ebenso scheitert die Anwendung von § 39 Satz 1 Nr. 3 AufenthV, da sie nicht nach Anhang II der Verordnung (EU) 2018/1806, sondern allenfalls nach Anlage B Nr. 1 zur nationalen Aufenthaltsverordnung visumbefreit wäre.
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Die Klägerin ist daher auf ein Visumverfahren aus der Türkei heraus zu verweisen.
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II. Die Klägerin hat auch keinen Anspruch auf Neuverbescheidung ihres Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis, denn die Versagung im Bescheid des Beklagten vom 12. September 2022 ist nicht rechtswidrig. Der Anspruch scheitert erstens an der o.g. fehlenden Zuständigkeit des Beklagten und zweitens an der fehlenden Einreise mit dem erforderlichen Visum nach § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1, Satz 2 AufenthG, wovon abzusehen ebenfalls im Ermessen des Beklagten steht und wozu eine Ermessensreduzierung auf Null weder dargetan noch sonst ersichtlich ist.
22
Das Verwaltungsgericht ist auch nicht der Auffassung, dass die Klägerin allein zu Familienbesuchen visumfrei einreisen und dann aus dem Bundesgebiet heraus direkt eine Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug beantragen kann. Insbesondere führt auch eine Einreise mit einem türkischen Spezial-/Dienst-/Diplomatenpass ins Bundesgebiet nicht dazu, dass sie von der Pflicht zum Besitz des erforderlichen Visums für den tatsächlichen Aufenthaltszweck befreit wäre: Für eine Aufenthaltserlaubnis ist grundsätzlich die Einreise mit dem erforderlichen Visum nach § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1, Satz 2 AufenthG vorgesehen, außer es besteht ein Anspruch auf Erteilung oder seine Nachholung ist unzumutbar. Da hier eine Aufenthaltserlaubnis auf längere Zeit nach § 36 Abs. 2 i.V.m. § 6 Abs. 3 Satz 1, § 7 Abs. 1 Satz 1 AufenthG begehrt wird, um die aufenthaltsrechtlichen Lücken zwischen vermeintlich visumfreien Kurzaufenthalten von bis zu 90 Tagen im Zeitraum von 180 Tagen zu überbrücken, besteht grundsätzlich eine Visumpflicht und auf der anderen Seite nach § 36 Abs. 2 AufenthG kein Erteilungsanspruch (vgl. BVerwG, U.v. 16.12.2008 – 1 C-37/07 – BVerwGE 132, 382 juris Rn. 21).
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Die vermeintlich visumfreie Einreise mit dem o.g. Reisepass ersetzt das erforderliche Visum nicht (vgl. nur VG Düsseldorf, B.v. 23.12.2016 -7 L 3292/16 – juris Rn. 15). Der Zweck der Visumpflichtbefreiung einerseits und der mit der Einreise tatsächlich verfolgte Einreisezweck stimmen gerade nicht überein. Abgesehen davon ist auch fraglich, ob die Klägerin überhaupt zur visumfreien Einreise befugt ist: Nach § 19 AufenthV sind Staatsangehörige der in Anlage B zur Aufenthaltsverordnung aufgeführten Staaten für die Einreise und Kurzaufenthalte vom Erfordernis eines Aufenthaltstitels befreit. Anlage B schränkt dies aber auf Inhaber dienstlicher Pässe für in amtlicher Funktion oder in amtlichem Auftrag Reisende ein. Da die Klägerin seit dem Jahr 2011 Rentnerin ist, erscheint eine Einreise in amtlicher Funktion oder in amtlichem Auftrag unter Befreiung vom Visumerfordernis fernliegend. Es kommt nicht auf ihre subjektive Einreiseabsicht an, die kaum überprüfbar wäre (vgl. VG Düsseldorf, B.v. 23.12.2016 -7 L 3292/16 – juris Rn. 14), sondern auf den objektiven Umstand, dass bei ihr als Rentenbezieherin eine Einreise in amtlicher Funktion oder in amtlichem Auftrag ausgeschlossen ist.
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III. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.