Titel:
Keine Aufhebung der Pflichtverteidigerbestellung bei geänderter Rechtsauffassung
Normenkette:
StPO § 140 Abs. 2, § 143 Abs. 2 S. 1
Leitsatz:
Ist die Frage der Notwendigkeit der Verteidigung in irgendeinem Verfahrensstadium positiv beantwortet worden, muss es bei der Bestellung verbleiben, wenn das Gericht lediglich seine rechtliche Auffassung über das Vorliegen der Voraussetzungen der Pflichtverteidigerbestellung ändert. (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
notwendige Verteidigung, Bestellung, Pflichtverteidiger, Aufhebung, Änderung, rechtliche Auffassung
Vorinstanz:
LG Nürnberg-Fürth, Beschluss vom 02.03.2023 – 15 NBs 214 Js 30784/22
Fundstelle:
BeckRS 2023, 13998
Tenor
1. Auf die sofortige Beschwerde der Angeklagten wird der Beschluss des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 02.03.2023 aufgehoben.
2. Die Kosten des. Beschwerdeverfahrens einschließlich der notwendigen Auslagen der Beschwerdeführerin trägt die Staatskasse.
Gründe
1
Die mehrfach vorgeahndete und aufgrund Verurteilung durch das Amtsgericht Nürnberg vom 18.05.2022 (Az. 432 Ds 214 Js 6570/22), rechtskräftig seit 26.05.2022, hinsichtlich einer Freiheitsstrafe von acht Monaten unter Bewährung stehende Angeklagte wurde im vorliegenden Verfahren durch die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth wegen Diebstahls angeklagt. Die Staatsanwaltschaft beantragte auch im Hinblick auf die offene Bewährung wegen der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolgen die Bestellung eines Pflichtverteidigers. Im Hauptverhandlungstermin vom 16.01.2023 bestellte das Amtsgericht Nürnberg der Angeklagten Rechtsanwältin Μ. als Pflichtverteidigerin und verurteilte die Angeklagte zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu je 15,00 €.
2
Die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth legte gegen das erstinstanzliche Urteil mit Schreiben vom 19.01.2023 Berufung ein, beschränkte diese auf den Rechtsfolgenausspruch und begründete die Berufung damit, dass das Strafmaß dem Unrechtsgehalt der Tat und der Persönlichkeit der Angeklagten nicht gerecht werde.
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Mit Beschluss vom 02.03.2023 hob das Landgericht Nürnberg-Fürth die Bestellung der Pflichtverteidigerin auf, da ein Fall der notwendigen Verteidigung jedenfalls nicht mehr gegeben sei beziehungsweise nach Auffassung des Landgerichts ohnehin zu keinem Zeitpunkt vorgelegen habe.
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Die Verteidigerin legte gegen den ihr am 08.03.2023 zugestellten Beschluss mit Schreiben vom 13.03.2023, eingegangen beim Landgericht Nürnberg-Fürth am selben Tag, Beschwerde ein.
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Die Generalstaatsanwaltschaft Nürnberg hat in ihrer Stellungnahme vom 21.03.2023 beantragt, den Beschluss des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 02.03.2023 aufzuheben. Sie verweist darauf, dass die Pflichtverteidigerbestellung grundsätzlich für das gesamte Verfahren gelte und auch keine Änderung der maßgeblichen Umstände eingetreten sei, die insoweit eine Durchbrechung des prozessualen Vertrauensschutzes rechtfertigen könne. Nach wie vor stehe – unter Berücksichtigung der offenen Bewährung – ein Gesamtstrafübel von zwölf Monaten im Raum.
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Die Verteidigerin hat sich in ihrer Beschwerdebegründung vom 24.03.2023 ebenfalls auf das einschließlich des im Raum stehenden Bewährungswiderrufs drohende Strafübel berufen und sich mit weiterem Schriftsatz vom 30.03.2023 den Ausführungen der Generalstaatsanwaltschaft angeschlossen.
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Die nach §§ 143 Abs. 3, 306, 311 Abs. 2 StPO zulässige sofortige Beschwerde des Angeklagten, hat in der Sache Erfolg. Der Beschluss des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 02.03.2023 ist aufzuheben.
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1. Die Bestellung eines Pflichtverteidigers im Rahmen des § 140 Abs. 2 StPO gilt, worauf die Generalstaatsanwaltschaft zu Recht hinweist, grundsätzlich für das gesamte Verfahren bis zur Rechtskraft. § 143 Abs. 2 S. 1 StPO lässt eine Aufhebung der Bestellung dann zu, wenn kein Fall notwendiger Verteidigung mehr vorliegt. Ist die Frage der Notwendigkeit der Verteidigung aber in irgendeinem Verfahrensstadium positiv beantwortet worden, muss es insbesondere dann bei der Bestellung bleiben, wenn das Gericht lediglich seine rechtliche Auffassung über das Vorliegen der Voraussetzungen einer Pflichtverteidigerbestellung ändert. Denn der Eintritt einer Änderung ist nach objektiven Kriterien zu bestimmen. Insofern ist es grundsätzlich unbeachtlich, wenn das Gericht im Laufe des Verfahrens nur seine subjektive Auffassung hinsichtlich der Notwendigkeit der Pflichtverteidigung durch eine andere Beurteilung ersetzen will oder ein während des Verfahrens neu zuständig werdendes Gericht die Auffassung des Vorderrichters nicht zu teilen vermag. Dies gebietet der Grundsatz des prozessualen Vertrauensschutzes (vgl. KG, Beschluss vom 28.02.2017, 5 Ws 50/17; OLG Nürnberg, Beschluss vom 07.03.2023, Ws 173-174/23). Das Vertrauen des Angeklagten auf die einmal getroffene positive Entscheidung des Gerichts ist dann nicht schützenswert, wenn sich die für die Anordnung der Pflichtverteidigung maßgeblichen Umstände wesentlich geändert haben oder das Gericht von objektiv falschen Voraussetzungen ausgegangen ist. Dem steht es gleich, wenn das Gericht die Bestellung in grob fehlerhafter Verkennung der Voraussetzungen des § 140 StPO vorgenommen hat; denn auch in diesem Fall kann sich ein schützenswertes Vertrauen in den Bestand der Entscheidung nicht bilden (OLG Nürnberg a.a.O.).
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2. Nach diesen Grundsätzen kommt eine Aufhebung der Pflichtverteidigerbestellung im vorliegenden Fall nicht in Betracht. Die für eine Pflichtverteidigerbestellung nach § 140 Abs. 2 StPO notwendigen Voraussetzungen lagen und liegen vor. Die für die Bestellung maßgeblichen Umstände haben sich nicht entscheidend geändert, so dass der Grundsatz des prozessualen Vertrauensschutzes die Aufrechterhaltung der Pflichtverteidigerbestellung gebietet. Auf die zutreffenden und umfassenden Ausführungen der Generalstaatsanwaltschaft hierzu in ihrer Stellungnahme vom 21.03.2023 wird vollumfänglich Bezug genommen.
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Die Kostenentscheidung ergibt sich aus einer entsprechenden Anwendung des § 467 Abs. 1 StPO.