Titel:
Fehlerhafte Entpflichtung des Verteidigers in Berufungsinstanz – Vertrauensschutz hindert Aufhebung der Pflichtverteidigerbestellung auch bei zustande gekommener Verständigung
Normenkette:
StPO § 35a, § 44, § 140 Abs. 2, § 257c
Leitsätze:
1. Eine Pflichtverteidigerbestellung nach § 140 Abs. 2 StPO gilt grundsätzlich für das gesamte Verfahren bis zur Rechtskraft (ebenso KG BeckRS 2017, 109349). (Rn. 10) (redaktioneller Leitsatz)
2. Da eine erfolgte Pflichtverteidigerbestellung prozessualen Vertrauensschutz genießt, sind Änderungen der Auffassung des Gerichts oder eine andere Beurteilung eines neu zuständig gewordenen Gerichts unbeachtlich. Der Vertrauensschutz entfällt ausnahmsweise dort, wo sich die maßgeblichen Umstände wesentlich geändert haben oder das Gericht von objektiv falschen Voraussetzungen ausgegangen oder die Voraussetzungen des § 140 StPO grob verkannt hat (ebenso KG BeckRS 2017, 109349). (Rn. 10 – 12) (redaktioneller Leitsatz)
3. Die in erster Instanz bejahte Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage iSv § 140 Abs. 2 StPO besteht in der Berufungsinstanz auch dann fort, wenn in erster Instanz eine Verständigung zu einer Geldstrafe getroffen wurde und das Verschlechterungsverbot die Verhängung einer höheren Strafe ausschließt. Zudem darf der Angeklagte darauf vertrauen, dass ihn sein Pflichtverteidiger auch in der zweiten Instanz zur Verwertbarkeit des im Rahmen der Verständigung abgegebenen Geständnisses berät. (Rn. 13 – 14) (redaktioneller Leitsatz)
4. Ist das Rechtsmittel verfristet und war die gem. § 35a StPO beigefügte Rechtsmittelbelehrung unrichtig, ist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand vAw zu gewähren. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Pflichtverteidiger, Vertrauensschutz, Berufungsinstanz, Verständigung, Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage, Geldstrafe, Straferwartung, Verschlechterungsverbot, Wiedereinsetzung von Amts wegen, unrichtige Rechtsmittelbelehrung
Fundstelle:
BeckRS 2023, 13997
Tenor
1. Der Angeklagten Gk. wird von Amts wegen Wiedereinsetzung in die Frist zur Einlegung der sofortigen Beschwerde gegen den Beschluss des Landgerichts Regensburg vom 18.01.2023 gewährt.
2. Auf die sofortigen Beschwerden der Angeklagten Gk. und G. wird der Beschluss des Vorsitzenden der 6. Strafkammer als Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts Regensburg vom 18.01.2023 aufgehoben.
3. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der notwendigen Auslagen der beiden Beschwerdeführer trägt die Staatskasse.
Gründe
1
Die Staatsanwaltschaft Regensburg hat im führenden Verfahren, Az.: 154 4321/19, mit Anklage vom 18.04.2019 zum Amtsgericht – Schöffengericht – Regensburg dem Angeklagten 28 Fälle der Steuerhinterziehung in Tatmehrheit mit zwei Fällen der versuchten Steuerhinterziehung und der Angeklagten im Verfahren, Az.: 154 Js 4322/19, mit Anklage vom selben Tag zum Amtsgericht – Schöffengericht – Regensburg die gleichen Straftaten zur Last gelegt. In beiden Anklagen stellte die Staatsanwaltschaft den Antrag auf Bestellung eines Pflichtverteidigers nach § 140 Abs. 2 StPO wegen der Straferwartung von jeweils mehr als einem Jahr Freiheitsstrafe. Beim Amtsgericht hatte sie bereits im Verfahren, Az.: 153 Js 30095/15, eine Anklage vom 19.09.2018 gegen beide Angeklagte wegen 30 Fälle des gemeinschaftlichen Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt erhoben. Die beiden Verteidiger der Angeklagten stellten ebenfalls jeweils einen Antrag auf Bestellung als Pflichtverteidiger, Rechtsanwältin T. unter Hinweis auf die Straferwartung und die Schwierigkeit der Sachlage. Mit Beschluss vom 06.05. bzw. 09.05.2019 wurde der Angeklagten bzw. dem Angeklagten nach § 140 Abs. 2 StPO jeweils ein Pflichtverteidiger, Rechtsanwältin T. und Rechtsanwalt K., bestellt. Zur Begründung wird auf § 140 Abs. 2 StPO verwiesen. Nach Verbindung der Verfahren zum führenden Verfahren wurden die Angeklagten mit Urteil des Amtsgerichts Regensburg vom 27.10.2022 nach Anklagen zu Geldstrafen verurteilt, der Angeklagte zu einer Gesamtgeldstrafe von 450 Tagessätzen, die Angeklagte zu einer solchen von 160 Tagessätzen. Dem Urteil war eine Verständigung vorausgegangen. Gegen dieses Urteil haben die Angeklagten jeweils Berufung eingelegt.
2
Der Vorsitzende der 6. Strafkammer des Landgerichts Regensburg hat mit Beschluss vom 18.01.2023 die Pflichtverteidigerbestellungen aufgehoben, in Ziffer 1. in Bezug auf den Angeklagten und in Ziffer 2. in Bezug auf die Angeklagte. Es liege kein Fall der notwendigen Verteidigung nach § 140 Abs. 2 StPO mehr vor. Die nunmehr drohende Straferwartung rechtfertige wegen des Verschlechterungsverbots (§ 331 Abs. 1 StPO) keine „Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge“ im Sinne des § 140 Abs. 2 StPO. Auch sei der Sachverhalt nicht besonders schwierig im Sinne der Vorschrift.
3
Der Beschluss enthält eine Rechtsmittelbelehrung unter Hinweis auf eine innerhalb von zwei Wochen einzulegende sofortige Beschwerde.
4
Die Zustellung des Beschlusses an den Verteidiger des Angeklagten erfolgte am 24.01.2023 und an die Verteidigerin der Angeklagten am 25.01.2023.
5
Mit Schreiben vom 27.01.2023, eingegangen am selben Tag, legte der Verteidiger des Angeklagten sofortige Beschwerde ein, wobei er im Schreiben vom 27.02.2023 klarstellte, dass dies namens und im Auftrag des Angeklagten erfolgte. Mit Schreiben vom 08.02.2023, eingegangen am selben Tag, legte die Verteidigerin der Angeklagten namens und im Auftrag der Angeklagten sofortige Beschwerde ein. Beide führen aus, dass nach wie vor eine schwierige Sach- bzw. Sach- und Rechtslage vorliege, wobei die Verteidigerin auf die wegen der für die Strafhöhe maßgebliche Höhe des Steuerschadens abstellt, die die Steuerbehörden bislang nur geschätzt hätten und der von den Angeklagten nicht ohne weiteres nachgeprüft werden könne.
6
Die Generalstaatsanwaltschaft beantragt,
auf die sofortige Beschwerde des Angeklagten den Beschluss vom 18.01.2023 aufzuheben und die sofortige Beschwerde der Angeklagten kostenfällig als unzulässig zu verwerfen.
7
Die Beteiligten hatten die Gelegenheit, sich zu äußern.
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1. Die sofortige Beschwerde des Angeklagten G.
9
Die nach §§ 143 Abs. 3, 306, 311 Abs. 2 StPO zulässige, insbesondere fristgerecht eingelegte sofortige Beschwerde des Angeklagten, hat auch in der Sache Erfolg. Der Beschluss vom 18.01.2023 ist in Ziffer 1. aufzuheben. Zunächst wird auf die zutreffenden Ausführungen der Generalstaatsanwaltschaft Nürnberg vom 20.02.2023 verwiesen.
10
a) Die Bestellung eines Pflichtverteidigers im Rahmen des § 140 Abs. 2 StPO gilt grundsätzlich für das gesamte Verfahren bis zur Rechtskraft. Ist die Frage der Notwendigkeit der Verteidigung in irgendeinem Verfahrensstadium positiv beantwortet worden, muss es – abgesehen von den gesetzlich geregelten Ausnahmen nach den §§ 140 Abs. 3 Satz 1, 143 StPO – insbesondere dann bei der Bestellung bleiben, wenn das Gericht lediglich seine rechtliche Auffassung über das Vorliegen der Voraussetzungen einer Pflichtverteidigerbestellung ändert. Denn der Eintritt einer Änderung ist nach objektiven Kriterien zu bestimmen. Insofern ist es grundsätzlich unbeachtlich, wenn das Gericht im Laufe des Verfahrens nur seine subjektive Auffassung hinsichtlich der Notwendigkeit der Pflichtverteidigung durch eine andere Beurteilung ersetzen will oder ein während des Verfahrens neu zuständig werdendes Gericht die Auffassung des Vorderrichters nicht zu teilen vermag. Dies gebietet der Grundsatz des prozessualen Vertrauensschutzes (vgl. KG Beschl. v. 28.2.2017 – 5 Ws 50/17, BeckRS 2017, 109349, zitiert nach beck-online, m.w.N.).
11
Nicht schutzwürdig ist das Vertrauen des Angeklagten auf die einmal getroffene positive Entscheidung des Gerichts, wenn sich die für die Anordnung der Pflichtverteidigung maßgeblichen Umstände wesentlich geändert haben oder das Gericht von objektiv falschen Voraussetzungen ausgegangen ist. Dem steht es gleich, wenn das Gericht die Bestellung in grob fehlerhafter Verkennung der Voraussetzungen des § 140 StPO vorgenommen hat; denn auch in diesem Fall kann sich ein schützenswertes Vertrauen in den Bestand der Entscheidung nicht bilden.
12
b) Gemessen daran gebietet hier der Grundsatz des prozessualen Vertrauensschutzes die Aufrechterhaltung der vom Amtsgericht beschlossenen Bestellung nach § 140 Abs. 2 StPO, denn die hierfür maßgeblichen Umstände haben sich inzwischen nicht wesentlich geändert.
13
Die Staatsanwaltschaft ging, wie aus ihrem Antrag auf Bestellung eines Pflichtverteidigers und der Anklageerhebung zum Schöffengericht zu ersehen ist, von einer Straferwartung von mehr als einem Jahr Freiheitsstrafe aus. Auch das Amtsgericht hatte eine solche Straferwartung, wie sich aus der Tatsache der Eröffnung vor dem Schöffengericht ergibt, wobei eine solche auch angesichts der Höhe des Gesamtschadens berechtigt war. Allein die Tatsache, dass der Angeklagte nun, auf der Grundlage einer Verständigung, „nur“ zu einer Gesamtgeldstrafe von 450 Tagessätzen verurteilt worden und die Verhängung einer höheren Strafe im Berufungsverfahren aufgrund des Verschlechterungsverbotes (§ 331 Abs. 1 StPO) ausgeschlossen ist, rechtfertigt nicht die Rücknahme der Pflichtverteidigerbestellung (vgl. KG, ebenda, m.w.N.).
14
Auch sonst liegen keine besonderen Umstände vor. Die Pflichtverteidigerbestellung erfolgte allein unter Hinweis auf § 140 Abs. 2 StPO. Der Sachverhalt, der in erster Instanz auch als von der Sach- und Rechtslage als schwierig eingeordnet wurde, steht auch in zweiter Instanz vollumfänglich zur Überprüfung. Eine andere Handhabung kann leicht dazu führen, das Vertrauen in die Rechtspflege zu erschüttern. Sie kann zur Folge haben, dass ein Angeklagter, der sich darauf verlassen hat, dass er verteidigt wird, sich nicht rechtzeitig bemüht, Mittel zusammenzubringen, um einen Wahlverteidiger zu bestellen, oder sich auf die Selbstverteidigung einzurichten (BGH, Urteil vom 16.11.1954 – 5 StR 299/54 (LG Hamburg), BeckRS 1954, 106344, zitiert nach beck-online). Dabei ist vorliegend insbesondere zu berücksichtigen, dass sich die Verfahrensbeteiligten in erster Instanz nach § 257c StPO verständigt haben und der Angeklagte darauf vertrauen darf, dass der Pflichtverteidiger ihn auch in zweiter Instanz in Bezug auf die Frage der Verwertbarkeit des in erster Instanz im Rahmen der Verständigung abgelegten Geständnisses und der Bindungswirkung des Berufungsgerichts berät.
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Der Beschluss des Landgerichts ist daher in Ziffer 1. aufzuheben.
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2. Die sofortige Beschwerde der Angeklagten Gk.
17
Die sofortige Beschwerde der Angeklagten vom 08.02.2023, eingegangen bei Gericht am selben Tag, ist zwar verfristet, da verspätet eingelegt worden (§311 Abs. 2 StPO) und damit unzulässig. Die einwöchige Frist begann am Tag der Zustellung an die Verteidigerin am 25.01.2023 zu laufen und endete am 01.02.2023. Allerdings ist ihr von Amts wegen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 44 S. 2 i.V.m. S. 1 StPO zu gewähren, da die dem Rechtsmittel nach § 35a StPO beigefügte Rechtsmittelbelehrung unrichtig war (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl., § 44 Rn. 23).
18
Sie hat auch in der Sache Erfolg. Auf die sofortige Beschwerde ist der angegangene Beschluss in Ziffer 2. aufzuheben.
19
Zur Begründung wird auf das oben Ausgeführte verwiesen. Dabei ist es unerheblich, da Angeklagte in erster Instanz nur zu einer Gesamtgeldstrafe von 160 Tagessätzen ve wurde. Auch sie kann sich auf den prozessualen Vertrauensgrundsatz berufen.
20
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 467 Abs. 1 StPO.