Inhalt

VG Würzburg, Beschluss v. 25.05.2023 – W 5 S 23.335
Titel:

Erfolgloser Eilantrag auf Abänderung eines die aufschiebende Wirkung einer Nachbarklage gegen Baugenehmigung angeordnenden Gerichtsbeschlusses

Normenketten:
VwGO § 80 Abs. 7 S. 2, § 80a Abs. 3 S. 2
BauGB § 29 Abs. 1, § 31
BauNVO § 3, § 13
Leitsätze:
1. Zu den im eilverfahrensrechtlichen Abänderungsverfahren berücksichtigungsfähigen „veränderten Umständen“ zählt eine Tekturgenehmigung, die dazu führt, dass die Ausgangsbaugenehmigung, die gegen diese vorgehenden Nachbarn nicht mehr in ihren Rechten verletzt, denn eine Nachtragsgenehmigung ist dann ein „veränderter Umstand“ , wenn sie keinen selbstständig anfechtbaren Streitgegenstand, kein selbstständiges (neues) Vorhaben betrifft. (Rn. 27) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ein Nachbar im Plangebiet wird grundsätzlich bereits durch die Zulassung eines mit der Gebietsfestsetzung unvereinbaren Vorhabens ausgelöst, denn im Rahmen des nachbarschaftlichen Gemeinschaftsverhältnisses soll jeder Planbetroffene das Eindringen einer gebietsfremden Nutzung und damit die schleichende Umwandlung des Baugebiets verhindern können. (Rn. 36) (redaktioneller Leitsatz)
3. In einem als reines Wohngebiet ausgewiesenen Plangebiet ist das Errichten von Geschäfts- und Bürogebäuden nicht zulässig und die Beschränkung der freiberuflichen Nutzung auf Räume soll verhindern, dass in einem reinen Wohngebiet durch eine zu starke freiberufliche Nutzungsweise – generell – die planerisch unerwünschte Wirkung einer Zurückdrängung der Wohnnutzung und damit einer zumindest teilweisen Umwidmung des Plangebiets eintreten kann. (Rn. 42) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Antrag auf Abänderung eines Beschlusses im einstweiligen Rechtsschutzverfahren, Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung, baurechtliche Nachbarklage, (Änderungs-)Baugenehmigung für Modernisierung und Erweiterung eines Wohnhauses durch Anbau für freiberufliche Nutzung, reines Wohngebiet, freiberufliche Nutzung, „Räume“, Abgrenzung „Gebäude“ und „Räume“, Überwiegen der freiberuflichen Nutzung über Wohnnutzung, zu berücksichtigende Flächen, Eilverfahren, Baurecht, Abänderung eines Eilbeschlusses, Baugenehmigung, Modernisierung, Bebauungsplan, Baugebietsfestsetzung, Nachbarschutz, baul. Anlage, Gebäude, Raum, Art d. baul. Nutzung, Maß d. baul. Nutzung, Flächenvergleich
Fundstelle:
BeckRS 2023, 13809

Tenor

I. Der Antrag auf Abänderung des Beschlusses vom 8. März 2022 im Verfahren W 5 S 22.156 wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller hat die Kosten des Abänderungsverfahrens zu tragen. Die Beigeladene trägt ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
III. Der Streitwert wird auf 5.000,00 EUR festgesetzt.

Gründe

I.
1
Der Antragsteller begehrt die Abänderung eines Beschlusses des Bayerischen Verwaltungsgerichts Würzburg, in welchem dieses die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragsgegnerin gegen eine dem Antragsteller erteilte Baugenehmigung angeordnet hat.
2
1. Die Antragsgegnerin ist Eigentümerin des mit einem Einfamilienwohnhaus bebauten Grundstücks Fl.Nr. …9/2 der Gemarkung W* …, … Straße … in W* … Das streitgegenständliche Bauvorhaben soll auf dem südwestlich des Grundstücks der Antragsgegnerin angrenzenden Grundstück Fl.Nr. …8 der Gemarkung W* …, … Straße … (Baugrundstück) durchgeführt werden. Dieses ist seit dem Jahr 1987 mit einem Einfamilienhaus (mit Walmdach) mit Garage und zwei Büroräumen (Baugenehmigung vom 25.9.1987 an den Voreigentümer des Baugrundstücks) bebaut. Die Wohnräume befinden sich im Erdgeschoss (vollständig) sowie teilweise im Untergeschoss („Gästezimmer I“), die Büroräume („Büro I“, „Büro II“) im Untergeschoss. Ausweislich der Bauantragsunterlagen beträgt die Wohnfläche 141,5 m², die gewerbliche Nutzfläche 55,78 m². Auf den Bauantrag vom 4. Dezember 2019 erteilte die Beigeladene mit Bescheid vom 12. Mai 2020 dem Antragsteller die Baugenehmigung zur Nutzungsänderung des Gästezimmers im Untergeschoss (18,37 m²) zu einem Büroraum.
3
Das Baugrundstück und das Grundstück Fl.Nr. …9/2 der Antragsgegnerin befinden sich im Geltungsbereich des qualifizierten Bebauungsplans „… …“ der Stadt Würzburg vom 2. Dezember 1964 / 9. Dezember 1965, in Kraft getreten am 10. November 1966. Dieser setzt hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung für den betroffenen Bereich ein reines Wohngebiet fest. Für das Baugrundstück ist hinsichtlich des Maßes der baulichen Nutzung in den textlichen Festsetzungen eine Geschossflächenzahl sowie eine Grundflächenzahl von jeweils 0,25 bestimmt. Die Zahl der Vollgeschosse (Höchstgrenze) ist mit „bergseits ein, talseits zwei Vollgeschosse“ festgelegt, wobei insoweit gilt, dass die „zusätzlich zu den festgesetzten Geschoßzahlen sichtbare Sockelhöhe (…) über dem natürlichen Gelände bergseits und talseits höchstens 0,4 m betragen“ darf und das „talseitig zweite Geschoß (…) niveaugleich mit dem bergseitigen Erdgeschoß sein“ muss. Festgesetzt wurde des Weiteren hinsichtlich des Baugrundstücks die offene Bauweise (Einzelhäuser) und die überbaubare Grundstücksfläche durch Baugrenzen. Unter den textlichen Festsetzungen findet sich weiter eine Regelung, wonach für die Abstandsflächen die Vorschriften der Bayerischen Bauordnung maßgebend sind.
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2. Mit Bauantrag vom 25. Oktober 2019 beantragte der Antragsteller die „Modernisierung und Erweiterung eines Wohnhauses, hier: Aufstockung eines Bürogeschosses, Grundrissänderungen der Wohnungen im Keller- und Erdgeschoss sowie Errichtung von 8 PKW-Stellplätzen“ auf dem Baugrundstück. Dieser sah vor, das bestehende Wohnhaus (talseitig zwei- und bergseitig eingeschossig) zu sanieren und weiterhin für Wohnzwecke zu nutzen. Geplant waren weiter ein Anbau und eine Aufstockung durch einen länglichen, straßenseitig auskragenden Flachdach-Baukörper, die freiberuflich für das Büro des Antragstellers genutzt werden und über einen eigenen Eingang verfügen sollten. Nachdem die Bevollmächtigte der Antragsgegnerin bauplanungsrechtliche und bauordnungsrechtliche Verstöße reklamiert hatte und die Bauaufsichtsbehörde die Versagung der Baugenehmigung gegenüber dem Bau- und Ordnungsausschuss der Beigeladenen befürwortet hatte, weil sich das Vorhaben sowohl im Hinblick auf die Art als auch hinsichtlich des Maßes der baulichen Nutzung als bauplanungsrechtlich unzulässig erweise, nahm der Antragsteller mit Schreiben vom 14. August 2020 den Bauantrag zurück.
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3. Am 26. März 2021 reichte der Antragsteller bei der Beigeladenen einen neuen, geänderten und auf den 19. März 2021 datierten Bauantrag für die „Modernisierung und Erweiterung eines Wohnhauses durch Anbau für freiberufliche Nutzung“ ein. Der Bauantrag wurde – geringfügig geändert – schließlich final unter dem 13. August 2021 vorgelegt.
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Aufgeplant wurde nun ein in Richtung Südost bzw. Süden deutlich vergrößerter Anbau, während das Obergeschoss gegenüber der früheren Planung deutlich reduziert ist. Ausweislich der Planzeichnungen soll der überwiegende Teil des Anbaus im Untergeschoss sowie ein kleiner Teil des bisher als Wohnung genutzten Teils im Untergeschoss (WC-Herren und WC-Damen) freiberuflich genutzt werden, der übrige Bereich des Bestandsgebäudes im Untergeschoss zu Wohnzwecken bzw. als Raum für die Heizungsanlage. Im Erdgeschoss soll der Anbau freiberuflich genutzt werden, wie auch ein Raum des Bestandsgebäudes („Teeküche“). Der übrige Bereich gehört zur Wohneinheit. Im Obergeschoss finden sich zwei Büroräume und im Übrigen der Luftraum über den Büroarbeitsplätzen im Erdgeschoss. Angegeben wird in den Berechnungen zum Bauantrag eine GRZ I und II mit 0,245 und eine GFZ von 0,318. Ausweislich der Flächenberechnungen ergibt sich eine Fläche der Räume für Wohnnutzung mit 200,50 m², davon Wohnfläche von 165,44 m² und eine Gesamtfläche Büronutzung von 183,89 m², davon Hauptnutzfläche von 109,41 m². Das Verhältnis der Summe Wohnnutzung zu Büronutzung wird mit 52,2% zu 47,8% angegeben. Die Fassade des Anbaus nach Südwesten soll über zwei Stockwerke hinweg auf einer Fläche von ca. 10,81 m Breite und ca. 5,13 m Höhe vollständig mit Photovoltaikmodulen verkleidet werden. Auf dem Grundstück sollen sechs Pkw-Stellplätze errichtet werden, die teils in einer Garage, teils in einem Carport und teils im Freien untergebracht werden. Nach der „Beschreibung der freiberuflichen Nutzung“ ist eine Büronutzung für zehn Mitarbeiter vorgesehen. Beantragt wurden Befreiungen von den Festsetzungen der GFZ, der Geschossigkeit, des Garagenstandortes und der Baugrenze.
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Mit Schriftsatz vom 22. April 2021 machte die Bevollmächtigte der Antragsgegnerin umfangreiche rechtliche Bedenken gegen das Bauvorhaben in Bezug auf die Art der baulichen Nutzung, das Maß der baulichen Nutzung, die überbaubare Grundstücksfläche, das Rücksichtnahmegebot sowie die Abstandsflächen geltend.
8
Mit Bescheid vom 21. Dezember 2021 erteilte die Stadt Würzburg dem Antragsteller die begehrte Baugenehmigung zur Modernisierung und Erweiterung eines Wohnhauses durch Anbau für freiberufliche Nutzung nach den Plänen vom 13. August 2021 unter Auflagen, Hinweisen und einer Abweichung. Des Weiteren wurden folgende Befreiungen von den Festsetzungen des Bebauungsplans sowie eine Abweichung erteilt:
„1210
Eine Befreiung von der Festsetzung des Bebauungsplanes hinsichtlich der Geschossflächenzahl (zulässig: 0,25; geplant: 0,32) wird gemäß § 31 Abs. 2 Nr. 2 BauGB erteilt.
1220
Eine Befreiung von der Festsetzung des Bebauungsplanes hinsichtlich der Überschreitung der Baugrenze auf der Nordwestseite um bis zu 9,00 m wird gemäß § 31 Abs. 2 Nr. 2 BauGB erteilt.
1230
Eine Befreiung von der Festsetzung des Bebauungsplanes hinsichtlich der Zahl der Vollgeschosse (zulässig: bergseits ein, talseits zwei, geplant: bergseits zwei, talseits zwei) wird gemäß § 31 Abs. 2 Nr. 2 BauGB erteilt.
1240
Eine Befreiung von dem im Bebauungsplan festgesetzten Garagenstandort wird gemäß § 31 Abs. 2 Nr. 2 BauGB erteilt.“
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4. Gegen die Baugenehmigung vom 21. Dezember 2021 ließ die Antragsgegnerin durch ihre Bevollmächtigte am 19. Januar 2022 bei Gericht Klage erheben (Az. W 5 K 22.93). Mit Schriftsatz vom 27. Januar 2022 beantragte sie, die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen, woraufhin mit Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichts Würzburg vom 8. März 2022 dem Antrag stattgegeben wurde (Az. W 5 S 22.156). Es wurde in dem Beschluss ausgeführt, dass nach summarischer Prüfung aus bauplanungsrechtlichen Gründen vieles für einen Erfolg der Antragsgegnerin im Hauptsacheverfahren spreche, da die Antragsgegnerin eine Verletzung des Gebietserhaltungsanspruchs geltend machen könne, weil insbesondere die Voraussetzungen des § 13 BauNVO 1962 nicht gegeben seien.
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5. Am 29. Juli 2022 reichte der Antragsteller bei der Beigeladenen einen auf den 27. Juli 2022 datierten „Änderungsantrag zur BG 1423/2021 für die Modernisierung und Erweiterung eines Wohnhauses durch Anbau für freiberufliche Büronutzung“ ein. Dieser enthält unter dem 7. Dezember 2022 verfügte handschriftliche Eintragungen durch die Bauaufsichtsbehörde mit blauer Farbe. Gegenüber der bisherigen Planung lassen sich den Planzeichnungen folgende Änderungen entnehmen: Im nordöstlichen Eingangsbereich zum Erdgeschoss (bisher: eigenständiger Zugang zur freiberuflichen Nutzung) findet sich nun ein gemeinsamer Eingang zu einem gemeinsamen Foyer, von dem aus die Eingangstüren für die Wohn- und die Büronutzung abgehen. Ein zweiter (eigenständiger) Zugang zum Wohnbereich findet sich im südwestlichen Bereich des Untergeschosses. Der Grundrissplan Erdgeschoss enthält – wie bisher – die Eintragung „Büro I – 8 Arbeitsplätze“ und die handschriftliche Eintragung vom 7.12.2022 in blauer Farbe „7“ statt „8“ Arbeitsplätze. Der in den bisherigen Planungen aus dem Bestandsgebäude der freiberuflichen Nutzung zugewiesene Raum „Teeküche – 19,34 m²“ wird nun der Wohnnutzung zugewiesen („Küche – 22,72 m²“). Im Erdgeschoss sind neben dem Wohnen/Essen drei kleinere Zimmer („Kind 1 – 7,60 m²“, „Kind 2 – 9,88 m²“ und „Kind 3 – 10,04 m²“) statt bisher zwei Zimmer („Kind – 17,34 m²“, „Gast – 11,18 m²“) aufgeplant.
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Angegeben wird in den Berechnungen zum Bauantrag nun eine GRZ I und II mit 0,247 (statt bisher: 0,245), korrigiert mit Blaueintrag auf 0,275, und eine GFZ von 0,32 (bisher: 0,318), korrigiert mit Blaueintrag auf 0,328. Ausweislich der Flächenberechnungen ergibt sich nun eine Fläche für „Gesamt Wohnnutzung“ von 219,33 m², korrigiert mit Blaueintrag auf „Gesamt Wohnnutzung (Aufenthaltsräume)“ von 125,58 m² bzw. eine Wohnfläche von 181,51 m² und eine Fläche „Fläche Gesamt Büronutzung“ von 165,38 m², korrigiert mit Blaueintrag in „Gesamt Büronutzung (Aufenthaltsräume)“ von 110,99 m² bzw. eine „HNF“ (ergänzt mit Blaueintrag: „Stellplatz relevant“) von 87,46 m². Das Verhältnis der Summe Wohnnutzung zur Summe Büronutzung wird mit 219,33 m² und 57% zu 165,38 m² zu 43% angegeben, geändert mit Blaueintrag auf 125,88 m² und 53% zu 110,99 m² und 47%. Auf dem Grundstück sollen nun fünf statt sechs Pkw-Stellplätze errichtet werden. Nach der „Beschreibung der freiberuflichen Nutzung“ vom 28. Juli 2022 ist eine Büronutzung für zehn Mitarbeiter vorgesehen. Beantragt wurden unter dem 7. Dezember 2022 (eingegangen bei der Beklagten am 9.12.2022) eine Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplans wegen der Überschreitung der GRZ um 0,025 auf 0,275.
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Mit Schriftsatz vom 22. August 2022 machte die Bevollmächtigte der Antragsgegnerin umfangreiche rechtliche Bedenken gegen das Bauvorhaben in Bezug auf den Gebietserhaltungsanspruch, den Gebietsprägungserhaltungsanspruch, das Rücksichtnahmegebot sowie die Abstandsflächen geltend.
13
In ihrer planungsrechtlichen Stellungnahme vom 22. September 2022 hielt die Fachabteilung Bauleitplanung der Beigeladenen das Bauvorhaben wegen des Überwiegens der freiberuflichen Nutzung über die Wohnnutzung für unzulässig.
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6. Mit Bescheid vom 15. Dezember 2022 erteilte die Stadt Würzburg dem Antragsteller die Baugenehmigung zur „Modernisierung und Erweiterung eines Wohnhauses durch Anbau für freiberufliche Nutzung (1. Planänderung zu Az. 1423/2021, Baugenehmigung vom 21.12.2021) – hier: Interne Grundrissänderungen nach den Plänen vom 27. Juli 2022 unter Auflagen, Hinweisen und einer Befreiung:
„1171
Die Auflagen und Bedingungen der Baugenehmigung vom 21.12.2021, Az. 1423-2021 gelten weiter und sind bei Bauausführung zu beachten; dies gilt nicht für die Auflagen oder die Bedingungen mit den Nrn. 1100 und 2052.
1174
Die Auflagen oder die Bedingungen mit den Nrn. 1100 und 2052 der Baugenehmigung vom 21.12.2021, Az. 1423-2021 werden wie folgt ersetzt:
1100.1
Die der Planänderung zugrunde liegende Projektbeschreibung und die Beschreibung der freiberuflichen Nutzung vom 28.07.2022 ist Grundlage und Bestandteil des Bescheids.
(…)
1190
Die in den Bauvorlagen mit blauer Farbe geänderten oder beschriebenen Maße und Prüfungsbemerkungen sowie die Plankorrekturen sind bindend und zu beachten.
1250
Eine Befreiung von der Festsetzung des Bebauungsplanes hinsichtlich der Grundflächenzahl (zulässig: 0,25, geplant: 0,275) wird gemäß § 31 Abs. 2 Nr. 2 BauGB erteilt.
(…).“
15
In der Begründung wurde hinsichtlich der von Antragsgegnerseite vorgebrachten Einwendungen ausgeführt, dass diese nicht ausreichend seien, um eine Versagung der Baugenehmigung zu begründen. Die nachbarlichen Belange seien im Rahmen des Baugenehmigungsverfahrens umfassend gewürdigt und insbesondere bei der Erteilung der Befreiungen berücksichtigt worden. Im Übrigen liege eine Verletzung von nachbarschützenden Vorschriften nicht vor.
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Gegen den Bescheid der Beigeladenen vom 15. Dezember 2022 ließ die Antragsgegnerin durch ihre Bevollmächtigte am 19. Januar 2023 Klage erheben (W 5 K 23.79). Dieses Verfahren wurde mit Beschluss des Gerichts vom 2. Februar 2023 mit dem Verfahren W 5 K 22.93 zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden.
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7. Mit Schriftsatz vom 13. März 2023, eingegangen bei Gericht am nächsten Tag, beantragte der Bevollmächtigte des Antragstellers:
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Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Würzburg vom 8. März 2022 (Az. W 5 S 22.156) wird aufgehoben und der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Antragsgegnerin vom 26. Januar 2022 wird abgewiesen.
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Zur Begründung wurde vorgebracht, dass der Beschluss vom 8. März 2022 abzuändern und der Antrag abzulehnen sei. Der Antrag nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO sei zulässig. In der am 15. Dezember 2022 erlassenen Baugenehmigung sei ein veränderter Umstand i.S. der vg. Vorschrift zu sehen; durch den Erlass der Baugenehmigung habe sich die Sachlage geändert. Ziel des Antrags sei es, die Rechtswirkungen des Beschlusses vom 8. März 2022 zu beseitigen, um von der Baugenehmigung Gebrauch machen zu können. Dabei sei davon auszugehen, dass durch die 1. Planänderung die Identität des Vorhabens nicht verändert worden sei, sondern dieser fortgelte, so dass der vorliegende Änderungsantrag auf Ablehnung des zunächst erfolgreichen Antrags nach § 80 Abs. 5 VwGO gerichtet sei.
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Der Antrag sei auch begründet. Die angefochtene Baugenehmigung in der Gestalt des Änderungsbescheids vom 15. Dezember 2022 verletze keine nachbarschützenden Rechte der Antragsgegnerin mehr. Mit der Änderungsgenehmigung sei den im Beschluss vom 8. März 2022 beanstandeten Punkten abgeholfen worden. Die Antragsgegnerin könne sich nicht mehr auf die Verletzung des Gebietserhaltungsanspruchs stützen. Die Wohnnutzung überwiege die freiberufliche Nutzung, die sich auf Räume im Sinne des § 13 BauNVO beschränke, sodass das Bauvorhaben den Vorgaben des § 13 BauNVO entspreche. Die Räume, die eine freiberufliche Nutzung vorsähen, beträfen Raumeinheiten, die nur Teile des Gebäudes und jedenfalls wesentlich kleiner als die geplante Wohnung seien. Die für die freiberufliche Nutzung bestimmte Fläche bleibe entsprechend der von der Kammer im Eilverfahren zugrunde gelegten Berechnungsmethode deutlich unter 50%. Die Berechnung des Antragstellers ende bei 45,92% zu 54,08%, die Bauaufsichtsbehörde berechne ein Verhältnis von 47% zu 53%. Ein „Runden“ auf 50% zu 50% scheide damit aus. Somit bleibe auch kein Raum mehr dafür, im Einzelfall entgegen des Ergebnisses des Flächenvergleichs eine prägende Wirkung der freiberuflichen Nutzung anzunehmen. Überdies sei die Wohnnutzung die nach außen hin vornehmlich wahrnehmbare Nutzung. Die Wohnnutzung sei für fünf Personen ausgelegt; es entstehe eine zeitgemäße 5-Zimmer-Wohnung auf zwei Ebenen mit einer Wohnfläche von 182 m². Die Büronutzung reduziere sich auf neun Arbeitsplätze. Mithin entfalle ein Stellplatz, so dass für die Wohnnutzung nun zwei und die Büronutzung drei Stellplätze vorgesehen seien und davon auszugehen sei, dass keine für ein reines Wohngebiet untypische Nutzung mehr vorliege. Die freiberufliche Nutzung sei damit unselbständig und trete hinter die Wohnnutzung zurück, beide Bereiche nutzten nun den gemeinsamen Hauseingang an der Nordwestseite. Eine autonome Nutzbarkeit der freiberuflichen Nutzung sei somit nicht mehr möglich. Die beiden Bereiche seien baulich miteinander verbunden. Die Wohnung sei – anders als von der Antragsgegnerin behauptet – auch nicht selbständig benutzbar. Der Zugang zum Keller im KG stelle in diesem Sinne keinen Hauseingang dar. Die in der planungsrechtlichen Stellungnahme seitens der Beigeladenen im Baugenehmigungsverfahren geäußerten Bedenken würden im Ergebnis nicht durchgreifen. Im Vergleich zur Genehmigung vom 21. Dezember 2021 sei ein Büroarbeitsplatz weggefallen. Insoweit liege auf dem Grundriss EG ein Schreibversehen vor, wenn dort von acht Arbeitsplätzen die Rede sei; der Grundrissplan sehe im EG sieben Arbeitsplätze vor. Wie bereits in den vergangenen Verfahren ausgeführt, sei ein Publikums- und Besucherverkehr nahezu ausgeschlossen. Ein Verstoß gegen § 15 Abs. 1 Satz 1 oder Satz 2 BauNVO 1962 liege ebenso wenig vor wie gegen den Gebietsprägungserhaltungsanspruch. Die Berechnung der Terrasse sei korrekt. Die hinsichtlich der im Bebauungsplan festgesetzten Grundflächenzahl erteilte Befreiung sei mithin genauso wenig zu beanstanden wie die hinsichtlich der Geschossflächenzahl, der Geschossigkeit und des Garagenstandorts. Ein Verstoß gegen das nachbarliche Rücksichtnahmegebot wegen der erteilten Befreiungen liege nicht vor.
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8. Die Antragsgegnerin stellte durch ihre Bevollmächtigte den Antrag:
Der Antrag auf Abänderung des Beschlusses vom 8. März 2022 (Az. W 5 S 22.156) wird abgelehnt.
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Zur Begründung wurde vorgetragen: Die Voraussetzungen für die Anordnung der aufschiebenden Wirkung lägen weiterhin vor. Auch in der Fassung der Tekturgenehmigung vom 15. Dezember 2022 sei die Baugenehmigung vom 21. Dezember 2021 rechtswidrig und verletze die Antragsgegnerin in eigenen, nachbarschützenden Rechten. Eine summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache müsse deshalb zu dem Ergebnis führen, dass die aufschiebende Wirkung aufrecht zu erhalten ist. Die mit Schriftsatz vom 18. Januar 2023 erhobene Drittanfechtungsklage sei zulässig und begründet, insoweit bestünden überwiegende Erfolgsaussichten in der Hauptsache. Zur Begründung werde auf die mit Schriftsatz vom 1. Februar 2023 im Hauptsacheverfahren eingereichte Klagebegründung verwiesen. Auch in Form der Tekturgenehmigung verletze das genehmigte Vorhaben den Gebietserhaltungsanspruch, den Gebietsprägungserhaltungsanspruch und das Rücksichtnahmegebot bzw. die Abstandsflächenvorschriften zulasten der Antragsgegnerin. Damit sei der neuerliche Genehmigungsbescheid rechtswidrig und verletze die Antragsgegnerin in eigenen, nachbarschützenden Rechten. Selbst bei offenen Erfolgsaussichten in der Hauptsache rechtfertige die vorzunehmende Abwägung zwischen den öffentlichen Interessen bzw. den Interessen des Antragstellers und den Interessen der Antragsgegnerin die Anordnung bzw. Aufrechterhaltung der aufschiebenden Wirkung. Gegenüber dem zu berücksichtigenden Interesse des Antragstellers, von einer Verzögerung der Ausführung der Arbeiten bis zur Entscheidung in der Hauptsache verschont zu bleiben überwiege das Interesse der Antragsgegnerin am Unterbleiben einer Störung des Gebietscharakters insgesamt, aber zugleich an einer unzumutbaren Einwirkung auf ihr Wohnhaus und an einer baulichen Verfestigung des faktischen rechtswidrigen Zustandes.
23
9. Die Beigeladene äußerte sich im hiesigen Verfahren nicht.
24
10. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichts- und Behördenakten, auch in den Verfahren W 5 K 22.93, W 5 S 22.156 und W 5 K 23.79 sowie in den Verfahren der südwestlich an das Baugrundstück angrenzenden Nachbarin, W 5 K 22.94, W 5 S 22.155, W 5 K 23.80 und W 5 S 23.336, Bezug genommen.
II.
25
Der zulässige Antrag nach § 80a Abs. 3 Satz 2 VwGO i.V.m. § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO ist unbegründet.
26
1. Der Änderungsantrag nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO ist zulässig.
27
Demnach können die Beteiligten die Aufhebung oder Änderung von Beschlüssen nach § 80 Abs. 5 VwGO wegen veränderter oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachter Umstände beantragen. Darunter fällt insbesondere eine Änderung der Sach- und/oder Rechtslage, die für die Entscheidung im vorläufigen Rechtsschutzverfahren relevant ist (Kopp/Schenke, VwGO, 28. Aufl. 2022, § 80 Rn. 197). Zu den nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO berücksichtigungsfähigen „veränderten Umständen“ zählt eine Tekturgenehmigung, die dazu führt, dass die Ausgangsbaugenehmigung die gegen diese vorgehenden Nachbarn nicht mehr in ihren Rechten verletzt. Die Nachtragsgenehmigung ist ein „veränderter Umstand“ im Sinne des § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO, wenn sie keinen selbstständig anfechtbaren Streitgegenstand, kein selbstständiges (neues) Vorhaben betrifft (OVG Münster, B.v. 16.11.2012 – 2 B 1095/12 – BeckRS 2012, 60652; Kopp/Schenke, VwGO, 28. Aufl. 2022, § 80 Rn. 197).
28
Eine derartige Änderungsgenehmigung hat hier die Beigeladene dem Antragsteller unter dem 15. Dezember 2022 erteilt. Denn diese verändert die ursprüngliche Baugenehmigung vom 21. Dezember 2021 nur in der Weise, welche die Identität des Vorhabens wahrt; es handelt sich nicht um ein aliud (vgl. hierzu Kopp/Schenke, VwGO, 28. Aufl. 2022, § 80 Rn. 197 m.w.N.). Vorliegend war für die stattgebende Entscheidung im Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 8. März 2022 (Az. W 5 S 22.156) ausschlaggebend, dass vieles dafürsprach, dass die zur Genehmigung gestellte freiberufliche Nutzung sich nicht als solche von „Räumen“ i.S.d. § 13 BauNVO 1962 darstellte, sondern als die eines „Gebäudes“, und darüber hinaus § 13 BauNVO nicht zur Anwendung komme, weil die für die freiberufliche Nutzung vorgesehenen Räumlichkeiten den Umfang dessen, was noch als „Räume“ i.S.d. § 13 BauNVO qualifiziert werden könnte, überschreiten würden. Die Änderungsgenehmigung beinhaltet sowohl Veränderungen hinsichtlich der Zugänge zu den beiden Nutzungen als auch bauliche Änderungen bzgl. der Flächen- und Raumaufteilung zwischen den beiden Nutzungen. Die Sachlage hat sich folglich in Bezug auf die Anforderungen des § 13 BauNVO 1962 nach dem Beschluss vom 8. März 2022 geändert, so dass die darin getroffene Abwägungsentscheidung möglicherweise anders zu treffen ist.
29
Die Antragsbefugnis und damit die Zulässigkeit des Antrags folgen somit daraus, dass sich der Antragsteller auf eine Sachänderung beruft, die es grundsätzlich möglich erscheinen lässt, dass die frühere Entscheidung änderungsbedürftig geworden ist (vgl. Eyermann, Verwaltungsgerichtsordnung, 16. Aufl. 2022, § 80 Rn. 133).
30
2. Der Antrag nach § 80 Abs. 7 VwGO hat aber in der Sache keinen Erfolg.
31
Die Voraussetzungen für die Entscheidung nach § 80 Abs. 7 Satz 2 Alt. 1 VwGO sind verwirklicht, wenn tatsächlich veränderte Umstände vorliegen, die zu einem von der betroffenen Entscheidung abweichenden Ergebnis führen. Ein erfolgreicher Änderungsantrag setzt dementsprechend voraus, dass neben dem in den veränderten Umständen liegenden Abänderungsgrund auch im Übrigen die Voraussetzungen für eine von der Ausgangsentscheidung abweichende Bewertung der Rechtslage gegeben sind (Schoch in Schoch/Schneider, VwGO, 43. EL August 2022, § 80 Rn. 584). Als veränderte Umstände i.S.v. § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO kommen insbesondere Änderungen der entscheidungserheblichen Sach- oder Rechtslage in Betracht.
32
2.1. Wie bereits unter 1. dargelegt, hat sich die Sachlage durch die Erteilung der Tekturgenehmigung vom 15. Dezember 2022 geändert.
33
2.2. Aufgrund dieser veränderten Umstände nimmt jedoch die ursprünglich im Beschluss vom 8. März 2022 (Az. W 5 S 22.156) getroffene Interessenabwägung keinen anderen Ausgang.
34
Der Prüfungsmaßstab im Rahmen des § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO entspricht demjenigen für die Ausgangsentscheidung nach § 80 Abs. 5 VwGO (BVerwG, B.v. 21.7.1994 – 4 VR 1/94 – BVerwGE 96, 239; Gersdorf in BeckOK VwGO, Posser/Wolff, 65. Ed. Stand: 1.7.2021, § 80 Rn. 198). Somit kommt es auch für die hiesige Entscheidung nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO auf die nach §§ 80a Abs. 3 Satz 2, 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO vorzunehmende Interessenabwägung an, nämlich darauf, ob das Interesse der Antragsgegnerin an der aufschiebenden Wirkung ihres Rechtsbehelfs oder das Interesse des Antragstellers am sofortigen Gebrauch der Baugenehmigung i.d.F. der Tekturgenehmigung überwiegt (vgl. zur Stellung der Beteiligten im Verfahren nach § 80 Abs. 7 VwGO BVerwG, B.v. 7.1.2016 – 4 VR 3/15 – juris). Entscheidendes Kriterium sind somit die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache. Erweist sich der angefochtene Verwaltungsakt bei der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes allein möglichen und gebotenen summarischen Prüfung als offensichtlich rechtswidrig und wird die Antragsgegnerin hierdurch in ihren rügefähigen Rechten verletzt, weshalb sie im Hauptsacheverfahren voraussichtlich einen Aufhebungsanspruch erfolgreich wird durchsetzen können, überwiegt regelmäßig das Aussetzungsinteresse das Vollzugsinteresse. Stellt der Verwaltungsakt sich demgegenüber als offensichtlich rechtmäßig dar, weshalb der von der Antragsgegnerin eingelegte Rechtsbehelf mit erheblicher Wahrscheinlichkeit in der Hauptsache erfolglos bleiben wird, überwiegt in der Regel das Vollzugsinteresse. Bei offenem Ausgang in der Hauptsache sind die beteiligten Interessen abzuwägen.
35
Vorliegend überwiegt nach wie vor das Aussetzungsinteresse. Denn eine summarische Prüfung unter Berücksichtigung des gegenwärtigen Erkenntnisstandes nach Aktenlage ergibt weiterhin eine überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür, dass die Antragsgegnerin im Hauptsacheverfahren mit ihrem Rechtsschutzbegehren Erfolg haben wird. Nach summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage unter Berücksichtigung der von der Antragstellerseite angeführten veränderten Umstände wird die Klage der Antragsgegnerin erfolgreich sein, da die Baugenehmigung vom 21. Dezember 2021 (auch) in der Fassung der Tekturgenehmigung vom 15. Dezember 2022 die Antragsgegnerin in drittschützenden Rechten, nämlich im sog. Gebietsbewahrungs- oder Gebietserhaltungsanspruch, verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
2.2.1.
36
Hinsichtlich des anzulegenden rechtlichen Maßstabs, der auch im hiesigen Verfahren zugrunde zu legen ist, hat die Kammer im Beschluss vom 8. März 2022 im Verfahren W 5 S 22.156 bereits Folgendes ausgeführt:
„Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann ein Nachbar im Plangebiet sich gegen die Zulässigkeit einer gebietswidrigen Nutzung im Plangebiet wenden, auch wenn er durch sie selbst nicht unzumutbar beeinträchtigt wird. Der Nachbar hat also bereits dann einen Abwehranspruch, wenn das baugebietswidrige Vorhaben im jeweiligen Einzelfall noch nicht zu einer tatsächlich spürbaren und nachweisbaren Beeinträchtigung führt. Der Abwehranspruch wird grundsätzlich bereits durch die Zulassung eines mit der Gebietsfestsetzung unvereinbaren Vorhabens ausgelöst. Begründet wird dies damit, dass im Rahmen des nachbarschaftlichen Gemeinschaftsverhältnisses jeder Planbetroffene das Eindringen einer gebietsfremden Nutzung und damit die schleichende Umwandlung des Baugebiets verhindern können soll (vgl. BVerwG, B.v. 2.2.2000 – 4 B 87/99 – NVwZ 2000, 679; U.v. 16.9.1993 – 4 C 28/91 – BVerwGE 94, 151).
Als Grundstückseigentümerin in einem durch qualifizierten Bebauungsplan festgesetzten reinen Wohngebiet hat die Antragstellerin einen Anspruch darauf, dass in dem Baugebiet keine Vorhaben zugelassen werden, die dort hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung nicht zulässig sind, denn Baugebietsfestsetzungen dienen nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, U.v. 16.9.1993 – 4 C 28/91 – BVerwGE 94, 151) auch dem Nachbarschutz. Dieser Anspruch auf Erhaltung der Gebietsart wird durch die streitgegenständliche Baugenehmigung hinsichtlich des Anwesens des Beigeladenen verletzt, weil eine freiberufliche Nutzung in einem Umfang gestattet wurde, der über das zulässige Maß hinausgeht. Im Einzelnen:
(…)
Die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit richtet sich hier nach § 30 Abs. 1 BauGB, da das Vorhaben im Geltungsbereich des qualifizierten Bebauungsplans „… …“ der Stadt Würzburg vom 2. Dezember 1964 / 9. Dezember 1965, in Kraft getreten am 10. November 1966, liegt.
Das Bauvorhaben entspricht hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung nicht den Festsetzungen des Bebauungsplans „… …“, der hier ein reines Wohngebiet nach § 3 BauNVO 1962 festsetzt. Nach § 3 Abs. 2 BauNVO 1962 sind in dem festgesetzten reinen Wohngebiet, das nach der Zweckbestimmung in § 3 Abs. 1 BauNVO 1962 (allein) dem Wohnen dient, regelmäßig nur Wohngebäude zulässig. Bestimmte gewerbliche Nutzungen können nach § 3 Abs. 3 BauNVO 1962 zwar ausnahmsweise zugelassen werden; die engen Voraussetzungen dieser Ausnahmen liegen aber sämtlich nicht vor.
Als Grundlage für die Genehmigung der strittigen Nutzung kommt deshalb nur § 13 BauNVO 1962 in Betracht. Danach sind in den Baugebieten nach §§ 2 bis 9 BauNVO 1962 Räume für die Berufsausübung freiberuflich Tätiger und solcher Gewerbetreibender, die ihren Beruf in ähnlicher Weise ausüben, zulässig. Die Voraussetzungen dieser Norm sind zwar insoweit gegeben, als es sich bei der Tätigkeit des Beigeladenen als Ingenieur für Tragwerksplanung um eine freiberufliche Betätigung im Bereich der freien technischen und naturwissenschaftlichen Berufe handelt (vgl. hierzu Stock in Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, Baugesetzbuch, Stand 143. EL August 2021, § 13 BauNVO Rn. 21; Hornmann in BeckOK BauNVO, Stand 28. Ed. 15.1.2022, § 13 Rn. 23).
(…)
§ 13 BauNVO 1962 lässt jedoch in allen Baugebieten (außer den Sondergebieten) nur eine freiberufliche bzw. freiberufsähnliche Nutzung von Räumen, nicht aber eines gesamten Gebäudes zu.
(…)
§ 13 BauNVO 1962 (wie auch § 13 BauNVO 1977) beschränkt die freiberufliche und die ihr gleichgestellte gewerbliche Nutzung in allen Baugebieten (mit Ausnahme der Sondergebiete) auf „Räume“, während in den Baugebieten nach §§ 4-9 BauNVO 1977 / BauNVO 1990 auch „Gebäude“ mit freiberuflicher und gleichgestellter Nutzung zulässig sind. Unverändert sind dagegen in den reinen und allgemeinen Wohngebieten sowie in den Kleinsiedlungsgebieten nach wie vor nur Räume für die freiberufliche und vergleichbare gewerbliche Tätigkeit zulässig, nicht aber (vollständige) Gebäude. Die Auslegung des Begriffs „Räume“ in § 13 BauNVO muss daher von dem in dieser Vorschrift enthaltenen Gegensatzpaar „Räume“ und „Gebäude“ ausgehen. Beide Begriffe werden in der Baunutzungsverordnung nicht legal definiert. Das Bundesverwaltungsgericht geht seit seiner Grundsatzentscheidung vom 20. Januar 1984 bei der Auslegung dieses Begriffspaars von dem Normzweck der Wahrung des jeweiligen Gebietscharakters aus: Die Beschränkung auf Räume soll danach verhindern, dass in einem reinen Wohngebiet durch eine zu starke freiberufliche Nutzungsweise die planerisch unerwünschte Wirkung einer Zurückdrängung der Wohnnutzung und damit einer zumindest teilweisen Umwidmung des Plangebiets eintreten kann (BVerwG, U.v. 20.1.1984 – 4 C 56/80 – juris Rn. 13; vgl. Aschke in Kröninger/Aschke/Jeromin, Baugesetzbuch, 4. Aufl. 2018, § 13 BauNVO Rn. 5). Die Baunutzungsverordnung 1962 unterscheidet für die Wohngebiete zwischen (Wohn-)Gebäuden und Wohnungen (vgl. § 2 Abs. 3 Nr. 1, § 3 Abs. 2 und Abs. 4, § 4 Abs. 2 Nr. 1 und Abs. 4 BauNVO). Der in § 13 BauNVO verwendete Begriff „Räume“ kennzeichnet daher Raumeinheiten, die nur Teile des Gebäudes und jedenfalls nicht umfangreicher als jeweils eine Wohnung sind, so wie sie im Zeitpunkt des Beginns der Nutzung für den freien oder den ähnlichen Beruf vorgefunden werden. Das bedeutet, dass ein freiberuflich oder ähnlich Tätiger in einem Wohnhaus äußerstenfalls alle Räume einer einzelnen Wohnung beruflich nutzen darf (BVerwG, U.v. 20.1.1984 – 4 C 56/80 – juris Rn. 13). Der bauplanungsrechtliche Begriff „Gebäude“ ist ein Unterfall des Anlagenbegriffs des § 29 Abs. 1 BauGB. Für den Begriff des Gebäudes ist in diesem Zusammenhang die tatsächliche selbständige Benutzbarkeit kennzeichnend. Unselbständige Teile eines Gebäudes können Räume sein, nicht aber (ganze) Gebäude (BVerwG, B.v. 13.12.1995 – 4 B 245/95 – juris Rn. 4; vgl. Stock in Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, Baugesetzbuch, Stand 143. EL August 2021, § 13 BauNVO Rn. 35; Aschke in Kröninger/Aschke/Jeromin, Baugesetzbuch, 4. Aufl. 2018, § 13 BauNVO Rn. 5). Als Abgrenzungsmerkmal eignet sich insoweit – so das Bundesverwaltungsgericht im Beschluss vom 13. Dezember 1995 (4 B 245/95 – juris Rn. 4) – das Kriterium der selbständigen Benutzbarkeit, das auch bei der Bestimmung des bauordnungsrechtlichen Gebäudebegriffs eine maßgebliche Rolle spielt (vgl. hierzu Art. 2 Abs. 2 BayBO: „Gebäude sind selbständig benutzbare … bauliche Anlagen“). Zwar nicht zur Definition, wohl aber zur Verdeutlichung kann diesbezüglich auch die jeweilige Landesbauordnung herangezogen werden (vgl. Ziegler/Finger in Brügelmann, Baugesetzbuch, Stand Okt. 2019, § 13 BauNVO Rn. 37). Erforderlich ist – so das Bundesverwaltungsgericht –, dass das Gebäude jedenfalls tatsächlich unabhängig von sonstigen baulichen Anlagen genutzt werden kann. Durch eine etwaige bauliche Verbindung mit anderen Gebäuden oder Anlagen wird die funktionale Selbständigkeit nicht in Frage gestellt. Dies belegt § 22 Abs. 2 BauNVO, für den es erkennbar ohne Belang ist, ob Gebäude als Einzelhäuser, Doppelhäuser oder Hausgruppen errichtet werden. In die gleiche Richtung deutet die in § 22 Abs. 3 BauNVO getroffene Regelung, dass in der geschlossenen Bauweise die Gebäude ohne seitlichen Grenzabstand errichtet werden. Unerheblich ist, welches äußere Erscheinungsbild mehrere Gebäude abgeben. Auch wenn der Eindruck von Haupt- und Anbau hervorgerufen wird, handelt es sich um verschiedene Gebäude, sofern jedes von ihnen unabhängig vom anderen zugänglich ist (BVerwG, B.v. 13.12.1995 – 4 B 245/95 – juris Rn. 4; so auch Stock in Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, Baugesetzbuch, Stand 143. EL August 2021, § 13 BauNVO Rn. 35; Aschke in Kröninger/Aschke/Jeromin, Baugesetzbuch, 4. Aufl. 2018, § 13 BauNVO Rn. 5; Hornmann in BeckOK BauNVO, Stand 28. Ed. 15.1.2022, § 13 Rn. 31, 43). Auf die relative Größe der beiden Gebäude oder den optischen Eindruck als Haupt- und Anbau kommt es nicht an, wenn beide Gebäude jeweils unabhängig voneinander zugänglich sind (Stock in Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, Baugesetzbuch, Stand 143. EL August 2021, § 13 BauNVO Rn. 35; Stock in König/Roeser/Stock, BauNVO, 4. Aufl. 2019, § 13 Rn. 20).“
2.2.2.
37
Unter Heranziehung dieser – in Rechtsprechung und Literatur anerkannten – rechtlichen Maßstäbe spricht einiges dafür, dass sich unter Zugrundelegung der Änderungsplanung vom 27. Juli 2022 die vorliegend genehmigte freiberufliche Nutzung, wohl anders als in der dem Ausgangsbescheid vom 21. Dezember 2021 zugrundeliegenden Planung, nicht als die eines „Gebäudes“ im vg. Sinn darstellt.
38
Vorliegend besteht zwar – nach wie vor – ausweislich der Planzeichnungen eine klare bauliche Trennung zwischen den beiden Nutzungen: Das neu zu errichtende Obergeschoss soll ausschließlich der freiberuflichen Nutzung zugeführt werden. Im Erdgeschoss soll die freiberufliche Nutzung in dem zu errichtenden Anbau und die Wohnnutzung in dem durch eine massive geschlossene Wand abgetrennten Bereich des bisherigen Bestandsgebäudes durchgeführt werden. Im Untergeschoss soll die freiberufliche Nutzung ebenfalls in großen Teilen des Anbaus und in einem Teil des bisherigen Wohnbereichs, der ebenfalls durch massive geschlossene Wände vom Wohnbereich abgetrennt werden soll, erfolgen. Nach allem besteht eine klare bauliche Trennung zwischen den beiden Nutzungen.
39
Allerdings zeigt sich nun in den genehmigten Änderungsplänen – anders als noch in den mit der Ausgangsbaugenehmigung genehmigten Planzeichnungen – ein gemeinsamer Zugang zu den beiden Nutzungen. So führt jetzt im nordöstlichen Eingangsbereich zum Erdgeschoss nicht mehr wie bisher ein eigenständiger Zugang zur freiberuflichen Nutzung, sondern ein einziger Eingang zu einem gemeinsamen Foyer, von dem aus die Eingangstüren für die Wohn- und die Büronutzung abgehen. Dass ein zweiter Zugang zum Wohnbereich über den südwestlichen Bereich des Untergeschosses führt, ändert nichts daran, dass der freiberuflich genutzte Bereich nur über den vg. gemeinsamen Hauseingang und das sich anschließende Foyer an der Nordostseite zugänglich ist. Zum freiberuflich genutzten Bereich führt jetzt kein von der Wohnnutzung unabhängiger weiterer Eingang mehr.
40
Dass die freiberuflich genutzte Einheit nur einen gemeinsamen Zugang mit der Wohnnutzung aufweist, der Nutzer des Bürobereichs also auf einen gemeinsamen Zugang mit der Wohnnutzung angewiesen ist, stellt aus Sicht der Kammer ein starkes Indiz gegen eine selbständige Benutzbarkeit dar.
2.2.3.
41
Dies ändert aber nichts daran, dass auch vorliegend § 13 BauNVO nicht zur Anwendung kommt, weil entgegen der Ansicht des Antragstellers auch unter Zugrundelegung der Änderungsplanung die Größe der für die freiberufliche Tätigkeit vorgesehenen Räumlichkeiten den Umfang dessen überschreitet, was noch als „Räume“ i.S.d. § 13 BauNVO qualifiziert werden kann.
42
Insoweit sind die von der Kammer im Beschluss vom 8. März 2022 im Verfahren W 5 S 22.156 gemachten – folgenden – Ausführungen auch hier zugrunde zu legen:
„In seinem Urteil vom 20. Januar 1984 (4 C 56/80 – juris Rn. 13) hat das Bundesverwaltungsgericht ausgeführt, dass der Begriff der „Räume“ Raumeinheiten kennzeichne, die nur Teile des Gebäudes und jedenfalls nicht umfangreicher seien als jeweils eine Wohnung, so wie sie im Zeitpunkt des Beginns der Nutzung für den freien Beruf vorgefunden würden. In dem an diese Grundsatzentscheidung anknüpfenden Urteil vom 25. Januar 1985 (4 C 34/81 – juris Rn. 11) hat der Senat den wesentlichen Inhalt des § 13 BauNVO im Hinblick auf die Wohngebiete gemäß §§ 2 bis 4 BauNVO wie folgt zusammengefasst: Entscheidend sei, ob bei der Nutzung von „Räumen“ durch freie oder ähnliche Berufe der Charakter des Plangebiets verloren gehe. Die beabsichtigte Nutzungsänderung müsse den jeweiligen Gebietscharakter wahren. Da in einem als reines Wohngebiet ausgewiesenen Plangebiet das Errichten von Geschäfts- und Bürogebäuden nicht zulässig sei (vgl. § 3 Abs. 2 BauNVO), dürfe die hierauf gerichtete „gemischte“ Nutzung eines Gebäudes als Wohn- und Bürogebäude grundsätzlich nicht zugelassen werden. Mit der Beschränkung der freiberuflichen Nutzung auf Räume wolle der Verordnungsgeber verhindern, dass in einem reinen Wohngebiet durch eine zu starke freiberufliche Nutzungsweise – generell – die planerisch unerwünschte Wirkung einer Zurückdrängung der Wohnnutzung und damit einer zumindest teilweisen Umwidmung des Plangebiets eintreten könne. Deshalb dürfe die freiberufliche Nutzung in Mehrfamilienhäusern nicht mehr als die halbe Anzahl der Wohnungen und nicht mehr als 50% der Wohnfläche in Anspruch annehmen. Im Einzelfall könne die Büronutzung sogar auf wesentlich weniger als 50% der Wohnungsanzahl oder der Wohnfläche zu beschränken sein; unter besonderen Umständen mögen diese Grenzen auch etwas überschritten werden können. Niemals dürfe jedoch die geänderte Nutzungsweise für das einzelne Gebäude prägend sein. Der spezifische Gebietscharakter müsse – auch für das einzelne Gebäude – gewahrt bleiben. An dieser Rechtsprechung hat das Bundesverwaltungsgericht auch in seinem Urteil vom 18. Mai 2001 (4 C 8/00 – juris) im Wesentlichen festgehalten, dies allerdings auch zum Anlass genommen, darauf hinzuweisen, dass die aufgestellten Regeln nicht rechtssatzartig angewendet werden dürften, um ungerechte Zufallsergebnisse zu vermeiden, aber als „Faustregel“ heranzuziehen seien. Dieser Rechtsprechung hat sich auch die Literatur angeschlossen (vgl. Stock in König/Roeser/Stock, BauNVO, 4. Aufl. 2019, § 13 Rn. 21 ff.; Aschke in Kröninger/Aschke/Jeromin, Baugesetzbuch, 4. Aufl. 2018, § 13 BauNVO Rn. 5 f.; Hornmann in BeckOK BauNVO, Stand 28. Ed. 15.1.2022, § 13 Rn. 35; Ziegler/Finger in Brügelmann, Baugesetzbuch, Stand Okt. 2019, § 13 BauNVO Rn. 41 ff.).
Bei einem Flächenvergleich, aufgrund dessen im Allgemeinen zu entscheiden ist, ob sich eine freiberufliche Nutzung im Sinne von § 13 BauNVO auf „Räume“ beschränkt, sind die Räume der freiberuflichen Nutzung denen der Wohnnutzung gegenüberzustellen. Dabei ist in der Regel nur auf Räume des Gebäudes abzustellen, die zum dauernden Aufenthalt objektiv geeignet sind und auch für diesen Zweck – entsprechend der Baubeschreibung bzw. den genehmigten Planunterlagen – genutzt werden sollen; denn in aller Regel wird ein Gebäude hinsichtlich seiner Nutzungsart nur durch solche Räume geprägt (BayVGH, U.v. 14.5.2001 – 1 B 99/652 – juris Rn. 35; OVG Lüneburg, B.v. 17.8.2007 – 1 LA 37/07 – juris Rn. 6; VGH Mannheim, U.v. 1.10.2019 – 5 S 963/17 – juris Rn. 50; VG Augsburg, U.v. 14.12.2012 – Au 4 K 12.1159 – juris Rn. 37; VG München, U.v. 9.5.2016 – M 8 K 15.733 – juris Rn. 66; Stock in Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, Baugesetzbuch, Stand 143. EL August 2021, § 13 BauNVO Rn. 46; Hornmann in BeckOK BauNVO, Stand 28. Ed. 15.1.2022, § 13 Rn. 35; offen gelassen: OVG NW, U.v. 28.8.2013 – 10 A 2085/12 – juris Rn. 47 ff.). Der im Städtebaurecht nicht eigens definierte Begriff des Aufenthaltsraums kann unter Heranziehung des Bauordnungsrechts konkretisiert werden. Unter einem Aufenthaltsraum wird bauordnungsrechtlich der Raum eines Gebäudes verstanden, der zum nicht nur vorübergehenden Aufenthalt von Menschen bestimmt oder geeignet ist (vgl. Art. 2 Abs. 5 BayBO). Soweit auf die Eignung als Aufenthaltsraum abgestellt wird, bezieht sich diese auf Lage, Größe und Beschaffenheit. Keine Aufenthaltsräume sind u.a. Badezimmer, Toilettenräume, Nebenräume (wie Speisekammern, Vorratsräume, Abstellräume, Trockenräume und -böden, Waschküchen), Garagen, Heiz- und Kesselräume, Lagerräume und Maschinenräume. Flure und Treppenräume zählen bauordnungsrechtlich ebenfalls zu den Räumen, die nicht als Aufenthaltsräume eingeordnet werden. Auch Kellerräume sind auszuklammern (vgl. Stock in Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, Baugesetzbuch, Stand 143. EL August 2021, § 13 BauNVO Rn. 46).“
43
Die Anwendung dieser Grundsätze führt vorliegend zu dem Ergebnis, dass die streitgegenständliche Nutzung insoweit nicht den Vorgaben des § 13 BauNVO entspricht. Ein nach den Vorgaben der Rechtsprechung durchgeführter Flächenvergleich ergibt, dass im vorliegenden Fall die freiberufliche Nutzung des Antragstellers zwar unter 50% der den Aufenthaltszwecken dienenden Gesamtfläche des Anwesens ausmacht. Es liegen hier aber bzgl. der Änderungsgenehmigung – wie bereits hinsichtlich der Ausgangsgenehmigung – andere Anhaltspunkte vor, die das Anwesen unabhängig von dieser reinen Flächenberechnung insgesamt als ein dem spezifischen Gebietscharakter nicht entsprechendes Gebäude prägen, so dass hier der spezifische Gebietscharakter – bei dem es sich um die „Eigenart des Baugebiets“ i.S.d. § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO handelt, wenn es auch nicht um die Anwendung dieser Vorschrift geht (vgl. Ziegler/Finger, in Brügelmann, Baugesetzbuch, Stand Okt. 2019, § 13 BauNVO Rn. 55) – auch für das einzelne Gebäude, nicht gewahrt ist. Insoweit waren für die Kammer folgende Erwägungen maßgeblich:
44
Unter Zugrundelegung der vg. von der Rechtsprechung aufgestellten Maßstäbe ist nun hinsichtlich der Wohnnutzung zu berücksichtigen: im Erdgeschoss Wohnen/Essen mit 56,08 m² (57,80 m² ./. 1,72 m²), Küche mit 22,72 m², das Kinderzimmer 1 mit 7,60 m², das Kinderzimmer 2 mit 9,88 m², das Kinderzimmer 3 mit 10,04 m² und im Untergeschoss das Schlafzimmer mit 15,86 m² (17,58 ./. 1,72 m²). Hieraus errechnet sich eine Fläche für die Wohnnutzung von 122,18 m².
45
Hinsichtlich des Bereichs für die freiberufliche Nutzung sind der Flächenberechnung nun zugrunde zu legen: im Erdgeschoss das Büro mit 53,38 m² und die Teeküche mit 2,27 m² sowie im Obergeschoss die Büros 1 und 2 mit je 17,04 m². Es spricht auch einiges dafür, mit der Bauaufsichtsbehörde auch den Bereich „Empfang/Flur“ im Erdgeschoss als Aufenthaltsraum mit anzusetzen, zumal diese bisher schon „üppig“ angesetzte Fläche im Änderungsantrag gegenüber der ursprünglichen Genehmigung nochmals vergrößert wurde (von 19,76 m² auf 21,26 m²), und zwar zu Lasten der eigentlichen Bürofläche, und eine Abgrenzung dieses Bereichs vom Bürobereich des Erdgeschosses weder baulich noch in sonstiger Weise sich den Planunterlagen entnehmen lässt, also der Übergang fließend ist. Letztlich kann dies aber auch offenbleiben, da dies für die Kammer nicht streitentscheidend ist. Nach allem errechnet sich eine Gesamtfläche für die freiberufliche Nutzung von 89,73 m² bzw. bei Berücksichtigung des „Empfangs/Flur“ von 110,99 m².
46
Dies ergibt ein Verhältnis für die Wohnnutzung von 57,66% zu 42,34% für die freiberufliche Nutzung bzw. bei Berücksichtigung des „Empfangs/Flur“ von 52,40% zu 47,60%.
47
Bei der vorgenommenen reinen Flächenbetrachtung in Bezug auf die Aufenthaltsräume ist mithin zwar nun von einem Überwiegen der Wohnnutzung über die freiberufliche Nutzung auszugehen. Allerdings kann in dem hier gegebenen Einzelfall bei dem og. Verhältnis von 57,66% zu 42,34% bzw. von 52,40% zu 47,60% durchaus von einer prägenden Wirkung der freiberuflichen Nutzung ausgegangen werden. So sind zum einen bei einer nur geringfügigen Flächendifferenz zwischen Wohnnutzung und Nutzung für freiberufliche Tätigkeit die vom Bundesverwaltungsgericht angeführten Prozentsätze nicht rechtssatzmäßig anzuwenden, vielmehr ist die Prägung des Gebäudes für die einzelnen Nutzungsformen insgesamt zu bewerten. Jedenfalls kann im Einzelfall – wie das Bundesverwaltungsgericht entschieden hat (s.o. S. 21) – die Büronutzung auch auf wesentlich weniger als 50% der Wohnfläche zu beschränken sein; niemals darf die geänderte Nutzung für das einzelne Gebäude prägend sein. Es liegen hier aber eine Reihe von besonderen Umständen vor, durch welche die geänderte Nutzungsweise für das Anwesen des Antragstellers prägend wird.
48
So hat die Kammer jenseits der vorgenommenen detaillierten Quadratmeterberechnung der Aufenthaltsräume – anhand der Bauakten des Ausgangs- und des Änderungsverfahrens und insb. der zur Änderungsgenehmigung gestellten Planunterlagen – den Eindruck gewonnen, dass die freiberufliche Nutzung als Büro für Tragwerksplanung trotz der vorgenommenen Reduzierung der Büroflächen zu Gunsten der Wohnflächen die wohnmäßige Nutzung des Anwesens nach wie vor überwiegt. Während sich die freiberufliche Nutzung des Bestandsgebäudes (nach der Baugenehmigung vom 12.5.2020) lediglich in drei Büros des Untergeschosses bewegt hat und der übrige (überwiegende) Bereich des Untergeschosses wie auch das komplette Erdgeschoss der Wohnnutzung vorbehalten war, wird nun mit der Änderungsgenehmigung (wie schon in der Ausgangs-Baugenehmigung) im Bestandsgebäude ein Kellerraum der freiberuflichen Nutzung zugeschlagen. Im Anbau des Untergeschosses wird der Eingangsbereich der Wohnnutzung zugewiesen. Im deutlich überwiegenden Teil des Anbaus im Untergeschoss wie auch im Anbau des Erdgeschosses findet ausschließlich freiberufliche Nutzung statt. Im Erdgeschoss des Bestandsgebäudes soll weiterhin Wohnnutzung stattfinden. Der in den bisherigen, der Ausgangs-Baugenehmigung zugrundeliegenden Planungen aus dem Bestandsgebäude der freiberuflichen Nutzung zugewiesene Raum „Teeküche – 19,34 m²“ soll nun bei der Wohnnutzung verbleiben („Küche – 22,72 m²“). Mithin lässt sich der Änderungsplanung entnehmen, dass die beiden vg. Geschosse in etwa hälftig auf die beiden Nutzungsarten aufgeteilt sind. Demgegenüber ist das neu zu errichtende Obergeschoss einschließlich des großzügig bemessenen Luftraums über den Büroflächen im Erdgeschoss vollständig der freiberuflichen Nutzung vorbehalten.
49
Die prägende Wirkung der freiberuflichen Nutzung wird weiterhin verstärkt durch das äußere Erscheinungsbild und die Kubatur des Gebäudes. Insbesondere der massive Luftraum im Bereich der freiberuflichen Nutzung über dem Erdgeschoss trägt zur vergleichsweise hohen Baumasse und zur prägenden Wirkung der freiberuflichen Nutzung bei. Hinsichtlich der äußeren Erscheinung des Gebäudes tritt wiederum vor allem der freiberuflich genutzte Teil gegenüber dem Wohnteil in den Vordergrund. So dominiert bei Betrachtung der Ansichten in den Änderungsplänen das Obergeschoss, und zwar in alle Richtungen, also auch zur Straßenseite. Aber auch hinsichtlich der beiden in südlicher bzw. nördlicher Richtung angrenzenden Grundstücksnachbarn tritt der freiberuflich genutzte Teil in den Vordergrund, während demgegenüber der Wohnteil deutlich dahinter zurücktritt. Darüber hinaus fällt hinsichtlich der zur Genehmigung gestellten Änderungsplanung weiterhin auf, dass – worauf bereits die beiden Fachstellen der Beigeladenen im Rahmen ihrer internen Stellungnahmen im Rahmen der Ausgangsgenehmigung hingewiesen haben – der Antragsteller im Bereich der freiberuflichen Nutzung „üppige Verkehrsflächen“ aufgeplant hat, so beispielsweise im Erdgeschoss einen „Empfang/Flur“ (wenn dieser nicht gar als Aufenthaltsraum anzusetzen wäre) in der Ausgangsgenehmigung mit 19,76 m² und in der Änderungsgenehmigung sogar mit 21,26 m² sowie im Obergeschoss einen „Flur“ mit 13,33 m².
50
Schließlich spricht vorliegend für die prägende Bedeutung der freiberuflichen Nutzung und das Zurücktreten der Wohnnutzung auch die personelle Frequentierung der einzelnen Nutzungen. So wurde nun eine Wohnnutzung vorgesehen, die auf maximal fünf Personen ausgelegt sein soll, wobei insbesondere angesichts der Größenordnung der Kinderzimmer (vgl. v.a. „Kind 1“ mit 7,60 m²) realistischer Weise nicht von einem Aufenthalt von drei Kindern ausgegangen werden kann. Demgegenüber weisen die Planunterlagen im Änderungsverfahren und die „Beschreibung der freiberuflichen Nutzung“ vom 28. Juli 2022 (Bl. 101 der Änderungs-Bauakte) weiterhin zehn Büroarbeitsplätze aus. Letztere spricht von zwei Führungskräften und acht Vollzeitbeschäftigten. Der Grundrissplan Erdgeschoss enthält – wie bisher – die Eintragung „Büro I – 8 Arbeitsplätze“. Was es mit der handschriftlichen Eintragung vom 7. Dezember 2022 in blauer Farbe „7“ statt „8“ Arbeitsplätze auf sich hat, die offensichtlich durch die Bauaufsichtsbehörde und nicht durch den Bauherrn getätigt wurde, ist für die Kammer nicht erkennbar und steht mit den eindeutigen Angaben in den Antragsunterlagen in klarem Widerspruch, so dass hier von 10 Büroarbeitsplätzen ausgegangen werden muss. Dass von den acht Vollzeitbeschäftigten zwei Personen (derzeit) im Home-Office arbeiten und dass die Führungskräfte ca. 70% ihrer Arbeitszeit außer Haus verbringen sollen – wie in der Beschreibung vom 28. Juli 2022 ausgeführt wird – ändert an der Zahl der zu berücksichtigenden Mitarbeiter nichts und kann auch nicht maßgeblich sein, da sich dies jederzeit ändern kann. Die Zahl der Arbeitsplätze, die vor Ort eingerichtet sind, bleibt gleich. Die Zahl der freiberuflich Tätigen stellt aber neben der Art der Tätigkeit das wichtigste Kriterium für den Störgrad dar (vgl. Stock in König/Roeser/Stock, Baunutzungsverordnung, 5. Aufl. 2022, § 13 Rn. 30). Dieses Übergewicht der freiberuflichen Nutzung über die Wohnnutzung manifestiert sich vorliegend auch bei der Zahl der erforderlichen bzw. in der Praxis herzustellenden Pkw-Stellplätze: Dies sind für die freiberufliche Nutzung (je nach Berechnung) drei oder vier Pkw-Stellplätze und für die Wohnnutzung lediglich zwei Pkw-Stellplätze (vgl. Bl. 93 der Änderungs-Bauakte). Dies wird auch nicht dadurch kompensiert, dass durch die immissionsschutzfachliche Auflage Nr. 6 der Betrieb des Büros sowie zugehörige Parkbewegungen auf den Stellplätzen antragsgemäß in der Ruhezeit (werktags 6:00 Uhr bis 7:00 Uhr und 20:00 Uhr bis 22:00 Uhr) sowie in der Nachtzeit (22:00 Uhr bis 6:00 Uhr) nicht zulässig sind. Denn jedenfalls in den übrigen Zeiten ist von einer Nutzung auszugehen, die für ein reines Wohngebiet untypisch ist. Unter dem rechtlichen Aspekt der Schutzwürdigkeit und Störempfindlichkeit des Wohnens ist durch die zu erwartende Frequentierung des reinen Wohngebiets durch zehn (oder neun) Mitarbeiter und den zu erwartenden Besucherverkehr eine Überschreitung dessen anzunehmen, was § 13 BauNVO 1962 als Ausnahmevorschrift gestatten möchte. Schließlich ist auch noch zu berücksichtigen, dass im reinen Wohngebiet die Hauptnutzungsart dominanter ist als im allgemeinen Wohngebiet bzw. im Kleinsiedlungsgebiet, so dass jedenfalls im reinen Wohngebiet weniger Raum für eine Nutzung nach § 13 BauNVO ist als in den anderen beiden Wohngebieten (vgl. Stock in König/Roeser/Stock, Baunutzungsverordnung, 5. Aufl. 2022, § 13 Rn. 30).
2.2.4.
51
Nach allem kam es vorliegend auf die weiteren, zwischen den Beteiligten ausführlich erörterten Fragen, insbesondere ob vorliegend ein Verstoß gegen § 15 Abs. 1 Satz 1 oder Satz 2 BauNVO 1962 gegeben ist, ob ein Verstoß gegen den Gebietsprägungserhaltungsanspruch zu bejahen ist oder ein Verstoß gegen das nachbarliche Rücksichtnahmegebot wegen der erteilten Befreiungen oder schließlich ein Verstoß gegen abstandsflächenrechtliche Vorschriften, nicht mehr an.
52
3. Die Klage der Antragsgegnerin gegen die streitgegenständliche Baugenehmigung in der Fassung der Änderungsgenehmigung hat daher voraussichtlich Erfolg, so dass das Interesse an der aufschiebenden Wirkung der Klage das Interesse an einem alsbaldigen Vollzug der Baugenehmigung überwiegt.
53
Der Kostenausspruch folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Unterlegene Partei ist der Antragsteller, da er mit seinem Begehren auf Aufhebung des Beschlusses vom 8. März 2022 und auf Abweisung des Antrags auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung gescheitert ist. Die Beigeladene trägt billigerweise ihre außergerichtlichen Kosten selbst, weil sie keinen Antrag gestellt und sich damit auch keinem Prozesskostenrisiko ausgesetzt hat (vgl. § 154 Abs. 3, § 162 Abs. 3 VwGO).
54
4. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 52 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2 und § 63 Abs. 2 GKG. Nachbarklagen werden nach Nr. 9.7.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 mit 7.500,00 EUR bis 15.000,00 EUR im Hauptsacheverfahren bewertet. Die Kammer hält im vorliegenden Fall in der Hauptsache für jedes Nachbargrundstück, für das Abwehrrechte geltend gemacht werden, einen Streitwert von jeweils 10.000,00 EUR als angemessen, der für das vorliegende Sofortverfahren zu halbieren ist (Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs).