Titel:
Anspruch auf vorläufige Weiterführung eines freiwillig durchgeführten gemeindlichen Winterdienstes
Normenketten:
BayGO Art. 21 Abs. 1 S. 1
GG Art. 3
Leitsatz:
Bei einem freiwillig durchgeführten gemeindlichen Winterdienst handelt es sich um eine öffentliche Einrichtung im Sinne des Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GO. (Rn. 21 – 22)
Schlagworte:
Beschwerde (einstweiliger Rechtsschutz), freiwillig durchgeführter Winterdienst als öffentliche Einrichtung der Gemeinde, Antrag auf vorläufige Durchführung eines Winterdienstes auf einem nicht gewidmeten Weg, Notwegerecht, öffentliche Einrichtung, freiwillig durchgeführter Winterdienst, gemeindlicher Widmungsakt, konkludentes Handeln, Verkehrssicherungspflicht
Vorinstanz:
VG Regensburg, Beschluss vom 30.01.2023 – RO 3 E 22.2926
Fundstelle:
BeckRS 2023, 13704
Tenor
I. Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 30. Januar 2023 (Az.: RO 3 E 22.2926) wird in Ziff. I und II. geändert. Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, die Wegfläche auf dem Grundstück FlNr. … Gemarkung U… vorläufig bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache unentgeltlich in dem Umfang von Schnee zu räumen und zu streuen, wie sie es bis zur Wintersaison 2020/2021 getan hat.
II. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 2.500 EUR festgesetzt.
Gründe
1
Die Antragsteller begehren im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes, die Antragsgegnerin vorläufig zur Durchführung des Winterdienstes auf der Wegfläche des Grundstücks FlNr. … Gemarkung U. … zu verpflichten.
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Die Antragsteller sind Eheleute und bewohnen ein Anwesen auf dem benachbarten Grundstück FlNr. … Das Grundstück steht im Alleineigentum des Antragstellers zu 2. Es grenzt zudem unmittelbar auf einer Länge von rund 145 m an die Gemeindeverbindungsstraße, die die Ortsteile U. …, H. …, L. …, P. … und U. … verbindet. Das Grundstück wird durch die nicht asphaltierte Wegfläche FlNr. … mit der Gemeindeverbindungsstraße verbunden.
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Mit Schreiben vom 20. Oktober 2020 teilte die Antragsgegnerin dem Antragsteller zu 2 mit, dass sie das Grundstück FlNr. … erworben habe, sodass die Zuwegung nunmehr auf einem städtischen Grundstück verlaufe. Eine straßenrechtliche Widmung sei nicht vorgesehen. Es handle sich um ein reines Privatgrundstück der Antragsgegnerin, auf dem die Antragsteller und andere Personen das Wohnanwesen erreichen könnten. Es dürfe im Rahmen der üblichen Verkehrszwecke genutzt werden. Eine anderweitige Nutzung bedürfe der Zustimmung. Den bisher durchgeführten Winterdienst werde die Antragsgegnerin „bis auf weiteres auch künftig (was auf solchen Wegen durchaus unüblich sei) ohne Entgelt, aus Kulanzgründen, ohne Anerkennung einer Rechtspflicht, durchführen.“ Die Antragsgegnerin benötige jedoch eine schriftliche Erlaubnis, dass die Winterdienstfahrzeuge auf dem Grundstück des Antragstellers zu 2 wenden dürfen. Weiterhin sei die Antragsgegnerin von Haftungsansprüchen freizustellen.
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Mit Telefax vom 15. Januar 2021 übersandte der Antragsteller zu 2 der Antragsgegnerin eine Haftungsfreistellung, die sich auf die Grundstücke FlNr. … und … bezog und die er bis zum 28. Februar 2021 befristete. Zudem erklärte er, dass er die Verkehrssicherungspflicht auf dem Grundstück FlNr. … nicht übernehme.
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Am 23. März 2021 teilte die Antragsgegnerin den Antragstellern mit, dass nach Ablauf der Haftungsfreistellung, ab dem 1. März 2021 und auch künftig der Winterdienst auf der FlNr. … nicht mehr durchgeführt werde.
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Nachdem weitere Verhandlungen zur gütlichen Beilegung gescheitert waren, stellten die Antragsteller mit Schreiben vom 21. Dezember 2022 beim Verwaltungsgericht Regensburg einen Antrag nach § 123 VwGO mit dem Ziel, die Antragsgegnerin vorläufig bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache zur Durchführung des Winterdienstes auf der FlNr. … zu verpflichten. Den Eilantrag begründeten die Antragsteller u.a. damit, dass ihnen die Durchführung des Winterdienstes mit Schreiben vom 20. Oktober 2020 zugesagt worden sei. Die Forderung nach einer Haftungsfreistellung sei rechtlich nicht haltbar, weil eine solche die Antragsgegnerin in vergleichbaren Fällen nicht fordere. Insofern ergebe sich eine Selbstbindung nach Art. 3 GG, Art. 118 BV. Die Selbstbindung der Verwaltung ohne Haftungsfreistellung zu räumen und zu streuen, was einer Kommune erlaubt sei, führe hier zu einer Ermessensreduzierung auf Null. Inhalt und Umfang der winterlichen Räumpflicht auf öffentlichen Straßen richte sich unter dem Gesichtspunkt der Verkehrssicherung nach den Umständen des Einzelfalls. Die vorliegende Zuwegung weise eine besondere Gefährlichkeit wegen der Hängigkeit der Wegfläche, ihrer Lage neben dem Wasser und der Brücke auf. Eine Absturzsicherung bestehe nicht. Der Sohn der Antragsteller sei bereits gestürzt. Aus diesem Grund seien die Grundrechte der Antragsteller aus Art. 1, 2, 3, 11 und 14 GG derart augenscheinlich verletzt, dass die Durchführung des Winterdienstes anzuordnen sei.
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Den Eilantrag hat das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 30. Januar 2023 abgelehnt. Die Antragsteller hätten keinen Anordnungsanspruch auf Durchführung des Winterdienstes. Ein Anspruch aus Art. 51 Abs. 1 Satz 1 BayStrWG bestehe nicht, weil die Wegfläche nicht innerhalb der geschlossen Ortslage liege. Auch könnten die Antragsteller keine Verpflichtung zur Durchführung des Winterdienstes aus der Straßenbaulast ableiten, weil diese nur eine der Allgemeinheit gegenüber bestehende Pflicht sei. Die allgemeine Verkehrssicherungspflicht begründe ebenso wenig einen Anspruch, weil sie keinen klageweisen Anspruch auf Wahrnehmung derselben vermittle. Auch aus dem Anliegergebrauch ergebe sich kein Anspruch, da weder Zufahrten noch Zugänge durch Änderung oder Einziehung von Straßen auf Dauer unterbrochen oder ihre Benutzung erheblich erschwert würden. Zudem könnten die Antragsteller die Wegfläche im Rahmen der Selbsthilfe räumen. Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GO gewähre zwar das Recht, öffentliche Einrichtungen der Gemeinde zu benutzen. Hierfür müssten aber gemeindeeigene Betriebsmittel zur Durchführung eines freiwilligen Winterdienstes gewidmet sein, wofür sich vorliegend keine Anhaltspunkte ergäben. Auch aus Art. 3 GG ergebe sich kein Anspruch, weil die Praxis der Antragsgegnerin nicht willkürlich sei. Denn es sei nicht hinreichend geklärt, inwieweit die von den Antragstellern vorgebrachten Bezugsfälle tatsächlich mit der Situation der Antragsteller vergleichbar seien, da es vielfältige Differenzierungskriterien gebe.
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Gegen diesen Beschluss haben die Antragsteller am 6. Februar 2023 Beschwerde erhoben. Sie beantragen,
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den Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 30. Januar 2023 abzuändern und die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, hilfsweise festzustellen, dass die Antragsgegnerin verpflichtet ist, die Wegfläche FlNr. … der Gemarkung U. … vorläufig, bis zu einer bestandskräftigen Entscheidung in der Hauptsache im Zuge ihres allgemeinen Winterdienstes von Schnee zu räumen und zu streuen.
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Hilfsweise, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, hilfsweise festzustellen, die Wegfläche FlNr. … der Gemarkung U. … vorläufig, bis zum 30. April 2023 im Zuge ihres allgemeinen Winterdienstes von Schnee zu räumen und zu streuen.
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Hilfsweise, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, hilfsweise festzustellen, die Wegfläche FlNr. … der Gemarkung U. … vorläufig bis zu einer bestandskräftigen Entscheidung in der Hauptsache, hilfsweise bis zum 30. April 2023, jedenfalls dann im Zuge ihres allgemeinen Winterdiensts von Schnee zu räumen und zu streuen, wenn eine Schneehöhe von 15 cm erreicht ist oder eine besondere Glättesituation vorliegt.
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Die Antragsgegnerin beantragt,
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die Beschwerde zurückzuweisen.
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Sie verteidigt die angegriffene Entscheidung des Verwaltungsgerichts.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und Behördenakten Bezug genommen.
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I. Die nach § 146 Abs. 1 und 4, § 147 VwGO zulässige Beschwerde hat Erfolg.
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Die Entscheidung des Verwaltungsgerichts erweist sich aus den von den Antragstellern dargelegten Gründen, auf deren Prüfung der Verwaltungsgerichtshof nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, als unrichtig. Nach im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nach § 123 VwGO gebotener summarischen Prüfung hat das Verwaltungsgericht zu Unrecht einen Anspruch der Antragsteller auf Durchführung eines Winterdienstes aus Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GO i.V.m. Art. 3 GG verneint. Der Antrag auf Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung ist zulässig und begründet.
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Gemäß § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung des Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen zur Abwendung wesentlicher Nachteile, Verhinderung drohender Gewalt oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Derartige Anordnungen, die – wie hier – durch vorläufige Befriedigung des erhobenen Anspruchs die Entscheidung im Hauptsacheverfahren zumindest in zeitlicher Hinsicht vorwegnehmen, setzen voraus, dass die Vorwegnahme der Hauptsache zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes schlechterdings notwendig ist, um andernfalls zu erwartende schwere und unzumutbare Nachteile oder Schäden vom Antragsteller abzuwenden (Anordnungsgrund); weiterhin muss ein hoher Grad an Wahrscheinlichkeit für den Erfolg in der Hauptsache sprechen (Anordnungsanspruch) (vgl. BVerwG, B.v. 26.11.2013 – 6 VR 3.13 – NVwZ-RR 2014, 558 = juris Rn. 5 m.w.N.; BayVGH, B.v. 22.2.2022 – 6 CE 21.2766 – PersV 2022, 273 = juris Rn. 13; Kopp/Schenke, VwGO, 28. Aufl. 2022, § 123 Rn. 14 m.w.N.). Beides ist vom Antragsteller glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO).
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1. Den Antragstellern steht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit ein Anordnungsanspruch zur Seite.
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Ein solcher ergibt sich aller Voraussicht nach aus Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GO i.V.m. Art. 3 GG. Nach Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GO sind alle Gemeindemitglieder nach den bestehenden allgemeinen Vorschriften berechtigt, die öffentlichen Einrichtungen zu benutzen.
21
a. Nach Aktenlage hat die Antragstellerin mit ihrem Winterdienst eine gemeindliche öffentliche Einrichtung i.S.d. Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GO geschaffen. Öffentliche Einrichtungen der Gemeinde i.S.d. Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GO ist jede Einrichtung, die von der Gemeinde im öffentlichen Interesse unterhalten und durch einen gemeindlichen Widmungsakt der allgemeinen Benutzung durch Gemeindeangehörige und ortsansässige Vereinigungen zugänglich gemacht wird (vgl. BayVGH, U.v. 11.12.1968 – Nr. 52 IV 66 – BayVBl. 1969, 102; B.v. 3.7.2018 – 4 CE 18.1224 – BayVBl 2019, 50 = juris Rn. 13; B.v. 15.6.2020 – 4 ZB 20.159 – juris Rn. 14; Widtmann/Grasser/Glaser, Bayerische Gemeindeordnung, Stand Febr. 2022, Art. 21 Rn. 4). Dabei sind an den gemeindlichen Widmungsakt keine förmlichen Voraussetzungen zu stellen; es genügt auch konkludentes Handeln, aus dem der Wille der Gemeinde hervorgeht, die Einrichtung der Allgemeinheit zur Benutzung zur Verfügung zu stellen (vgl. BayVGH, U.v. 11.12.1968 – Nr. 52 IV 66 – BayVBl. 1969, 102; B.v. 21.1.1988 – 4 CE 87.03883 – BayVBl 1988, 497/498; B.v. 6.4.2004 – 8 CE 04.464 – BayVBl 2005, 23 = juris Rn. 9; B.v. 3.7.2018 – 4 CE 18.1224 – BayVBl 2019, 50 = juris Rn. 13).
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Vorliegend spricht viel dafür, dass die Antragsgegnerin ihre sächlichen Mittel zum Räumen und Streuen von Straßen und Wegen im Gemeindegebiet nicht nur zur Erfüllung ihrer Reinigungs-, Räum- und Streupflicht gem. Art. 51 Abs. 1 und 2 BayStrWG einsetzt, sondern darüber hinaus überobligatorisch auf weiteren Flächen und Wegen einen Winterdienst durchführt. Denn sie räumt und streut nach dem Vortrag der Antragsgegnerin verschiedene Flächen, Straßen und Wege außerhalb geschlossener Ortslage, darunter wohl auch nicht gewidmete Wegflächen, Zufahrten und Privatwege. Indem die Antragsgegnerin über ihre gesetzliche Verpflichtung hinaus Personal- und Sachmittel einsetzt, um einem bestimmten Kreis von Einwohnern die Zufahrt zu ihrem Anwesen auch unter winterlichen Verhältnissen zu ermöglichen, hat sie diese Mittel insoweit dem Recht der öffentlichen Einrichtungen gem. Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GO unterstellt (vgl. BayVGH, U.v. 14.11.1991 – 8 B 88.2835 – FStBay 1992, Nr. 143; B.v. 6.4.2004 – 8 CE 04.464 – BayVBl 2005, 23 = juris Rn. 9; für die gemeindliche Straßenreinigung bereits Königl.BayVGH, U.v. 18.10.1899 – VGH a.F. 21, 5/15; U.v. 27.2.1920 – VGH a.F. 41, 21/22; BayVGH, U.v. 4.8.2005 – 4 BV 03.1907 – juris Rn. 19). Dafür spricht auch, dass die Antragsgegnerin nunmehr eine (Benutzungs-) Gebühr (vgl. Art. 8 Abs. 1 KAG) für den überobligatorischen Winterdienst verlangt (vgl. GA Bl. 45). Dass vorliegend wohl kein formaler Widmungsakt in Form eines Verwaltungsaktes nach Art. 35 BayVwVfG vorliegt, ist hingegen ohne Belang, da eine konkludente Widmung genügt.
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b. Ein Nutzungsanspruch besteht im Rahmen der bestehenden allgemeinen gesetzlichen Regelungen und der Widmung (vgl. BayVGH, U.v. 1.2.2022 – 4 N 21.757 -BayVBl 2022, 380 = juris Rn. 22). Die Widmung legt den Umfang der zulässigen Benutzung und auch den Benutzerkreis fest (BayVGH, B.v. 2.2.2004 – 22 B 03.2451 – juris Rn. 10; B.v. 3.7.2018 – 4 CE 18.1224 – BayVBl 2019, 50 = juris Rn. 13); die Widmung setzt hinsichtlich der Zweckbestimmung einen grundlegenden Rahmen (vgl. BayVGH, U.v. 31.3.2003 – 4 B 00.2823 – BayVBl 2003, 501 = juris Rn. 24). Aufgrund des aus der Selbstverwaltungsgarantie (Art. 28 Abs. 2 GG, Art. 11 Abs. 2 BV) folgenden Rechts auf eigenverantwortliche Aufgabenwahrnehmung verfügen die Gemeinden bei der Festlegung des Zwecks und des Benutzerkreises ihrer freiwillig geschaffenen öffentlichen Einrichtungen (Art. 57 Abs. 1 Satz 1 GO) über ein weites, gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbares Gestaltungsermessen (BayVGH, B.v. 27.3.2001 – 4 ZE 01.628 – juris Rn. 3; U.v. 1.2.2022 – 4 N 21.757 – BayVBl 2022, 380 = juris Rn. 25; BayVerfGH, E.v. 7.10.2011 – Vf. 32-VI-10 – VerfGHE 64, 177 = juris Rn. 20). Die Einschränkung einer früheren großzügigeren Verwaltungsübung, ist möglich, wenn sachliche Gründe unter Berücksichtigung der Grundrechte und des Willkürverbots (Art. 3 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3 GG) eine Änderung der Vergabepraxis rechtfertigen und ab einem gewissen Zeitpunkt nach der „neuen“ Vergabepraxis verfahren, d.h. nicht nur in Einzelfällen willkürlich von der bisherigen Praxis abgewichen wird (BayVGH, B.v. 21.10.2013 – 4 CE 13.2125 – NVwZ-RR 2014, 110 = beckonline Rn. 11; BayVGH, U.v. 1.2.2022 – 4 N 21.757 – BayVBl 2022, 380 = juris Rn. 25). Eine Einzelfallentscheidung kann allenfalls dann Ausdruck einer geänderten Vergabepraxis sein, wenn sie unmissverständlich in ein neues, zukünftig bindendes System einzuordnen ist (vgl. BayVGH, B.v. 21.1.1988 – 4 CE 87.03883 – NJW 1989, 2491; U.v. 17.11.2020 – 4 B 19.1358 – BayVBl 2021, 159 = juris Rn. 38).
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Die Antragsgegnerin hat bis zur Wintersaison 2020/2021 den in ihrem Eigentum stehenden Weg auf dem Grundstück FlNr. …, der als Zufahrt zum Wohnanwesen der Antragsteller dient, im Rahmen ihres Winterdienstes geräumt und gestreut. Für die Zeit danach hat sie die künftige Durchführung des Winterdienstes offenbar von einer Haftungsfreistellung und der Bezahlung einer Gebühr abhängig gemacht.
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Für den Senat lässt sich aus den vorliegenden Unterlagen und den Angaben in den Schriftsätzen der Antragsgegnerin nicht feststellen, dass eine allgemeine, willkürfreie Beschränkung des Winterdienstes zur Wintersaison 2020/2021 stattgefunden hat. Lässt sich aber eine den rechtlichen Anforderungen genügende Beschränkung des Winterdienstes nicht feststellen, geht dies zu Lasten der Antragsgegnerin. Da es sich insoweit um einen anspruchsvernichtenden Umstand handelt, trifft sie die materielle Beweislast (vgl. BayVGH, B.v. 30.6.2010 – 12 CE 10.767 – juris Rn. 32; Schübel-Pfister in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 86 Rn. 5; Breunig in Posser/Wolff/Decker, BeckOK VwGO, Stand 1.1.2023, § 108 Rn. 17).
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Eine den Anforderungen des Willkürverbots genügende Änderung der Durchführungspraxis für den gemeindlichen Winterdienst hat die Antragsgegnerin nicht dargelegt, auch nicht in ihrem Schriftsatz vom 12. Mai 2023. Die Antragsgegnerin hat weder den vor der Änderung ihrer Räumpraxis geltenden Räum- und Streuplan, noch ihren aktuellen Räum- und Streuplan erläutert oder vorgelegt. Sie hat auch nicht für den Senat plausibel und nachvollziehbar aufgezeigt, worin die Änderung ihrer Räumpraxis zur Wintersaison 2020/2021 konkret besteht. Ihr Vortrag lässt allenfalls Rückschlüsse darauf zu, wie sie ihren Winterdienst auf einzelnen Straßen, Wegen und Zufahrten außerhalb geschlossener Ortschaften durchführt (vgl. GA Bl. 44 f., 88 f.). Ein schlüssiges allgemeines Räum- und Streukonzept lässt sich aus den von der Antragsgegnerin erläuterten Einzelfällen indes nicht ableiten, zumal sie nicht erklärt, wie sich in den erwähnten Fällen die Eigentumsverhältnisse an den Wegflächen gestalten. Da vorliegend die streitige Wegfläche auf dem Grundstück FlNr. … im Eigentum der Antragsgegnerin steht, käme es auf die Räumpraxis gerade solcher Wegflächen an. Hierzu hat sie nichts vorgetragen. Ob die Räumpraxis auf diesen Wegen daran anknüpft, wem die Verkehrssicherungspflicht obliegt, ist ebenfalls unklar. Ebenfalls offen ist, nach welchen Kriterien die Antragsgegnerin von den Anliegern Haftungsfreistellungen und eine (Benutzungs-)Gebühr verlangt, zumal letztere laut Behördenakte von den Antragstellern bislang überhaupt nicht verlangt wurde, vielmehr ein Winterdienst „ohne Entgelt“ angeboten wurde (vgl. Schreiben vom 20. Oktober 2020, BA Bl. 170).
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c. Mithin verbleibt es vorläufig bei einem Anspruch der Antragsteller auf Durchführung des Winterdienstes. Auf die straßen- und wegerechtliche Einordnung der Wegfläche auf dem Grundstück FlNr. …, die ebenfalls im Streit steht, kommt es damit nicht mehr an.
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Der Senat weist aber darauf hin, dass es sich dabei um eine nicht gewidmete, aber faktisch-öffentliche Verkehrsfläche handeln dürfte (vgl. dazu BayVGH, U.v. 15.2.2021 – 8 B 20.2352 – BayVBl 2021, 747 = juris Rn. 37; OVG Münster, U.v. 22.11.1971 – IX A 242/71 – DVBl. 1972, 508; Herber in Kodal, Straßenverkehrsrecht, 8. Aufl. 2021, S. 300f.). Eine stillschweigende Widmung oder eine Widmung „von alters her“ kennt das Bayerische Straßen- und Wegerecht nicht (BayVGH, B.v. 17.5.1991 – 8 B 90.55 – BayVBl 1991, 595 = juris Rn. 8; B.v. 23.1.1998 – 8 B 93.4007 – BayVBl 1998, 563 = juris Rn. 27; B.v. 7.7.2010 – 8 ZB 09.3196 – Rn. 8; Häußler in Zeitler, Bayerisches Straßen- und Wegegesetz, Stand Sept. 2021, Art. 67 Rn 45). Für die Wegfläche trägt die Antragsgegnerin die Verkehrssicherungspflicht, weil eine Notwegesituation im Sinn des § 917 BGB, wie sie die Antragsgegnerin annimmt, nicht vorliegen dürfte. Nach § 917 Abs. 1 BGB ist Voraussetzung für das Bestehen einen Notwegerechts, dass einem Grundstück die zur ordnungsmäßigen Benutzung notwendige Verbindung mit einem öffentlichen Weg fehlt. Ein öffentlicher Weg liegt regelmäßig vor, wenn er gem. Art. 6 Abs. 1 BayStrWG gewidmet ist (vgl. Brückner in Münchner Kommentar, BGB, 9. Aufl. 2023, § 917 Rn. 7). Danach hat das Grundstück FlNr. … der Antragsteller die zur Benutzung notwendige Verbindung mit einem öffentlichen Weg, weil es an eine Gemeindeverbindungstraße angrenzt. Der Umstand, dass von der Gemeindeverbindungsstraße zum Wohnhaus der Antragsteller bislang keine Zufahrt besteht, diese also erst gebaut werden müsste und länger wäre als die Zufahrt über das Grundstück FlNr. …, dürfte keine Notwegesituation begründen. Dies gilt auch dann, wenn das für den Grundstückseigentümer umständlicher, weniger bequem oder kostspieliger ist als die Inanspruchnahme des Nachbargrundstücks (vgl. BGH, U.v. 9.11.1979 – V ZR 85/78 – BGHZ 75, 315 = juris Rn. 15; U.v. 7.7.2006 – V ZR 159/05 – NJW 2006, 3426 = beckonline Rn. 12; U.v. 13.5.2022 – V ZR 4.21 – ZfBR 2022, 773 = juris Rn. 23). Dass eine Zufahrt wegen der Lage des Grundstücks FlNr. … in einem Landschaftsschutzgebiet nicht möglich sein soll, ist für den Senat nicht erkennbar, da schon nicht dargelegt ist, welche Landschaftsschutzgebietsverordnung einschlägig sein könnte. Vielmehr hält laut Aktenlage die Antragsgegnerin den Bau einer Zuwegung auf dem Grundstück FlNr. … jederzeit für möglich (Bl. 299 BA).
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2. Ein die einstweilige Anordnung nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO rechtfertigender Anordnungsgrund liegt ebenfalls vor.
30
Der erforderliche Anordnungsgrund entfällt entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts nicht bereits deswegen, weil die Antragsteller bislang keine Klage erhoben haben. Dies ist aufgrund der Regelung in § 123 Abs. 3 i.V.m. § 926 ZPO keine Frage des Anordnungsgrundes.
31
Ein Anordnungsgrund ist auch nicht wegen des einsetzenden Frühlings entfallen. Denn die Antragsteller haben ihren (Haupt-)Antrag nicht auf den Winter 2022/23 beschränkt, sondern machen einen Anspruch auf Durchführung des Winterdienstes für die Zukunft geltend, d.h. bis zur rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache. Mit diesem Begehren liegt auch die erforderliche Eilbedürftigkeit vor, da mit einem rechtskräftigen Abschluss des noch nicht eingeleiteten Hauptsacheverfahrens, das sich ggf. über mehrere Gerichtsinstanzen ziehen kann, vor dem nächsten Schneefall im kommenden Winter nicht zu rechnen ist (vgl. BayVGH, B.v. 5.8.2020 – 8 CE 20.1374 – juris Rn. 15). Zugleich steht zu befürchten, dass die Antragsgegnerin ihre (fehlerhafte) Praxis bei Durchführung des Winterdienstes auch im kommenden Winter beibehalten wird. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung ist daher zur Abwendung wesentlicher Nachteile erforderlich.
32
3. Nach § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 938 Abs. 1 ZPO bestimmt das Gericht nach freiem Ermessen, welche Anordnungen zur Erreichung des Zwecks erforderlich sind. Das Gericht kann daher nicht nur Maßnahmen erlassen, die gegenüber dem Antrag ein Minus darstellen (vgl. BayVGH B.v. 6.8.2003 – 12 CE 03.840 u.a – juris Rn. 18), sondern auch solche, die in gleicher Richtung wie der Antrag liegen, selbst wenn es sich streng genommen um ein aliud gegenüber der beantragten Maßnahme handelt (vgl. Drescher in Münchner Kommentar zur ZPO, 6. Aufl. 2020, § 938 Rn. 6). Es darf dem Antragsteller aber keine Rechtsposition verschaffen, die über das von ihm festgelegte Rechtsschutzziel hinausgeht (vgl. NdsOVG, B.v. 14.9.2009 – 5 ME 130/09 – juris Rn. 20; Happ in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 123 Rn. 64). Unter dieser Prämisse hält es der Senat zur Sicherung des Anordnungsanspruchs für erforderlich, aber auch ausreichend, die Durchführung des Winterdienstes nur bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache und nicht bis zur Rechtskraft derselben zu befristen. Es erscheint nicht gerechtfertigt, die einstweilige Anordnung noch während des Rechtsmittelverfahrens fortdauern zu lassen, wenn eine Klage auf Durchführung des Winterdienstes im ersten Rechtszug nach eingehender Prüfung des Rechtsschutzbegehrens keinen Erfolg hat (Rechtsgedanke des § 80b Abs. 1 Satz 2 VwGO, vgl. BT-Drs. 13/3993 S. 11).
33
II. Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO. Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus § 47 Abs. 1 Satz 1, § 53 Abs. 2 Nr. 1 § 52 Abs. 1 GKG unter Anlehnung an Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013.
34
Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).