Titel:
Berücksichtigung familiärer Bindungen und des Gesundheitszustands bereits beim Erlass einer Abschiebungsandrohung
Normenketten:
Rückführungs-RL Art. 5 lit. a, lit. b, lit. c
AsylG § 34, § 78 Abs. 3 Nr. 1
Leitsätze:
1. Auch bei Erwachsenen sind familiäre Belange bereits beim Erlass einer Abschiebungsandrohung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge nach § 34 AsylG zu berücksichtigen; der Ausländer muss sich insoweit nicht auf ein nachgelagertes Verfahren der Ausländerbehörde verweisen lassen. (Rn. 7) (redaktioneller Leitsatz)
2. Es spricht Vieles dafür, dass dies entsprechend auch für die Berücksichtigung des Gesundheitszustands des Ausländers gelten muss. (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Pflicht zur Berücksichtigung familiärer Bindungen und des Gesundheitszustands beim Erlass einer Abschiebungsandrohung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Vorabentscheidung des Europäischen, Gerichtshofs vom 15. Februar 2023 (C-484/22), Grundsätzliche Bedeutung (verneint), Erlass einer Abschiebungsandrohung durch das Bundesamt, Berücksichtigung familiärer Bindungen, Berücksichtigung des Gesundheitszustandes, Vorabentscheidung des EuGH v. 15.2.2023 (C-484/22), Rückkehrentscheidung, Vollzug, keine grundsätzliche Bedeutung, RL 2008/115/EG
Vorinstanz:
VG Ansbach, Urteil vom 16.01.2023 – AN 17 K 22.30423
Fundstelle:
BeckRS 2023, 13683
Tenor
I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Gründe
1
Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. Die Berufung ist nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) zuzulassen.
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Wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache ist die Berufung zuzulassen, wenn der Rechtsmittelführer innerhalb der Monatsfrist nach Zustellung des Urteils in der Antragsbegründung darlegt (§ 78 Abs. 4 AsylG), dass für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts eine konkrete, fallübergreifende Tatsachen- oder Rechtsfrage von Bedeutung war, deren noch ausstehende obergerichtliche Klärung im Berufungsverfahren zu erwarten ist und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zu einer bedeutsamen Weiterentwicklung des Rechts geboten erscheint (vgl. Happ in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 124 Rn. 36; Seibert in Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 124 Rn. 127). Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt, wenn sich die aufgeworfene Frage im Berufungsverfahren nicht stellen würde, wenn sie bereits geklärt ist oder aufgrund des Gesetzeswortlauts mit Hilfe der üblichen Regeln sachgerechter Auslegung und auf der Grundlage der einschlägigen Rechtsprechung ohne Durchführung eines Berufungsverfahrens beantwortet werden kann oder wenn sie einer abstrakten Klärung nicht zugänglich ist (vgl. BVerwG, B.v. 20.3.2018 – 1 B 5.18 – juris Rn. 2; BayVGH, B.v. 22.1.2020 – 11 ZB 20.30210 – juris Rn. 3 m.w.N.).
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1. Hinsichtlich der Abweisung der Klage bezüglich der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, des subsidiären Schutzstatus und der Feststellung von Abschiebungsverboten enthält die Antragsbegründung des Klägerbevollmächtigten vom 23. März 2023 keine Ausführungen. Insoweit sind schon die Darlegungsanforderungen des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG nicht erfüllt.
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2. Soweit der Klägerbevollmächtigte eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache hinsichtlich der Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung (Nr. 5 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 14.6.2022) und des Einreise- und Aufenthaltsverbots (Nr. 6 des Bescheids) geltend macht, liegen die Voraussetzungen für die Zulassung der Berufung ebenfalls nicht vor.
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a) Der Kläger hält die Frage für klärungsbedürftig, ob Art. 5 Buchst. b und c der RL 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (RL 2008/115/EG – ABl L 348 S. 98) dahingehend auszulegen ist, dass er verlangt, die familiären Bindungen und den Gesundheitszustand im Rahmen eines zum Erlass einer gegen einen Verheirateten bzw. Erkrankten ausgesprochenen Rückkehrentscheidung führenden Verfahrens zu schützen und es nicht genügt, wenn der Verheiratete bzw. Erkrankte dieses geschützte Interesse im Rahmen eines nachfolgenden Verfahrens betreffend den Vollzug dieser Rückkehrentscheidung geltend machen kann, um gegebenenfalls eine Aussetzung deren Vollzugs zu erwirken. Der Kläger, peruanischer Staatsangehöriger, sei seit dem 12. Januar 2023 mit einem deutschen Staatsangehörigen verheiratet und leide an einer HIV-Infektion mit fortgeschrittenem Immundefekt. Das Verwaltungsgericht habe sich in seinem Urteil zwar mit dem Vorliegen zielstaatsbezogener Abschiebungshindernisse auseinandergesetzt und diese verneint, habe aber die gemäß Art. 5 Buchst. b und c RL 2008/115/EG geschützten Interessen (familiäre Bindungen und Gesundheitszustand) des Klägers nicht berücksichtigt, sondern – der bisherigen Rechtsanwendung entsprechend – angenommen, hierfür seien die Ausländerbehörden zuständig. Der Europäische Gerichtshof habe jedoch mit Beschluss vom 15. Februar 2023 (C-484/22) entschieden, Art. 5 Buchst. a und b RL 2008/115/EG sei dahin auszulegen, dass er verlange, das Wohl des Kindes und seine familiären Bindungen im Rahmen eines zum Erlass einer gegen einen Minderjährigen ausgesprochenen Rückkehrentscheidung führenden Verfahrens zu schützen, und es nicht genüge, wenn der Minderjährige diese beiden geschützten Interessen im Rahmen eines nachfolgenden Verfahrens betreffend den Vollzug dieser Rückkehrentscheidung geltend machen könne, um gegebenenfalls eine Aussetzung deren Vollzugs zu erwirken. Nichts Anderes könne gelten, wenn das geschützte Interesse des Gesundheitszustands betroffen sei.
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b) Hinsichtlich der Berücksichtigung familiärer Bindungen beim Erlass einer Rückkehrentscheidung kann die zur Antragsbegründung formulierte Frage durch die vom Klägerbevollmächtigten zitierte Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 15. Februar 2023 (C-484/22 – NVwZ 2023, 743) als geklärt angesehen werden. In dieser aufgrund eines Vorlagebeschlusses des Bundesverwaltungsgerichts vom 8. Juni 2022 (1 C 24.21 – NVwZ-RR 2022, 835) zu einer Abschiebungsandrohung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge ergangenen Vorabentscheidung, die – soweit ersichtlich – von der nachfolgenden verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung durchgängig beachtet wird (vgl. VG Freiburg, B.v. 27.2.2023 – A 10 K 2798/22; VG Aachen, U.v. 30.3.2023 – 4 K 1843/21.A; VG Düsseldorf, U.v. 3.4.2023 – 23 K 8471/21.A; VG München, U.v. 3.4.2023 – M 27 K 22.30441, U.v. 26.4.2023 – M 27 K 22.31189; VG Berlin, U.v. 2.5.2023 – 31 K 226/20 A; VG Darmstadt, B.v. 3.5.2023 – 5 L 705/23.DA – alle in juris), hat der Europäische Gerichtshof ausgeführt, Art. 5 RL 2008/115/EG dürfe im Hinblick auf seinen Zweck nicht eng ausgelegt werden und verwehre es somit einem Mitgliedstaat, eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, ohne die relevanten Aspekte des Familienlebens des betreffenden Drittstaatsangehörigen zu berücksichtigen, die er geltend mache, um den Erlass einer solchen Entscheidung zu verhindern. Folglich stehe Art. 5 Buchst. a und b RL 2008/115/EG einer nationalen Rechtsprechung entgegen, nach der die Verpflichtung, beim Erlass einer Abschiebungsandrohung das Wohl des Kindes und dessen familiäre Bindungen zu berücksichtigen, als erfüllt gelte, solange die Abschiebung nicht vollzogen werde. Art. 5 Buchst. a und b RL 2008/115/EG sei nach alledem dahin auszulegen, dass er verlange, das Wohl des Kindes und seine familiären Bindungen im Rahmen eines zum Erlass einer gegen einen Minderjährigen ausgesprochenen Rückkehrentscheidung führenden Verfahrens zu schützen, und es nicht genüge, wenn der Minderjährige diese beiden geschützten Interessen im Rahmen eines nachfolgenden Verfahrens betreffend den Vollzug dieser Rückkehrentscheidung geltend machen könne, um gegebenenfalls eine Aussetzung deren Vollzugs zu erwirken.
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Auch wenn im vorliegenden Verfahren nicht die familiären Belange eines Kindes, sondern eines verheirateten Erwachsenen im Raum stehen, besteht (und bestand bereits bei Einreichung des Zulassungsantrags) für ein Berufungsverfahren kein grundsätzlicher Klärungsbedarf. Art. 5 Buchst. b RL 2008/115/EG schützt familiäre Belange allgemein und unterscheidet nicht zwischen solchen von Kindern und Erwachsenen. Damit liegt auf der Hand, dass auch bei Erwachsenen – wie dem Kläger – familiäre Belange bereits beim Erlass der Abschiebungsandrohung durch das Bundesamt nach § 34 AsylG, die eine Rückkehrentscheidung im Sinne von Art. 3 Nr. 4, Art. 6 und Art. 7 Abs. 1 UAbs. 1 RL 2008/115/EG darstellt (vgl. BVerwG, B.v. 8.6.2022 a.a.O. Rn. 18 m.w.N.), zu berücksichtigen sind und sich der Ausländer insoweit nicht auf ein nachgelagertes Verfahren der Ausländerbehörde verweisen lassen muss. Darauf, ob das Verwaltungsgericht dem im Einzelfall ausreichend und zutreffend Rechnung getragen hat, kommt es bei der Prüfung, ob die Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung zuzulassen ist, nicht an. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) sind als Zulassungsgründe in der abschließenden und gegenüber § 124 VwGO vorrangigen Regelung des § 78 Abs. 3 AsylG, auf die das Verwaltungsgericht in seiner Rechtsmittelbelehrungzutreffend hingewiesen hat, ausdrücklich nicht vorgesehen.
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c) Soweit der Kläger eine grundsätzliche Bedeutung hinsichtlich des Gesundheitsschutzes geltend macht, ist die Berufung ebenfalls nicht zuzulassen. Abgesehen davon, dass auch insoweit angesichts des ausdrücklichen Schutzes durch Art. 5 Buchst. c RL 2008/115/EG vieles für eine Pflicht zur Berücksichtigung bereits beim Erlass der Abschiebungsandrohung durch das Bundesamt spricht, ist diese Frage hier nicht entscheidungserheblich und daher nicht klärungsfähig, weil das Verwaltungsgericht insbesondere aufgrund der Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung am 11. Januar 2023 zu dem Ergebnis gekommen ist (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) und in den Urteilsgründen (UA S. 11) ausgeführt hat (§§ 108 Abs. 1 Satz 2, 117 Abs. 2 Nr. 5 VwGO), der Kläger habe derzeit keine akuten Krankheitsanzeichen und sei nicht bereits an Aids erkrankt, sondern „nur“ seit langer Zeit mit HIV infiziert. Durch die Medikamentenumstellung in Deutschland sei sein Gesundheitszustand derzeit stabil und es gehe ihm aktuell verhältnismäßig gut. Die Virenlast sei nach seiner eigenen Aussage in der mündlichen Verhandlung aktuell niedrig und die bisherigen Nebenwirkungen der Infektion und der bisherigen Medikamente seien weitgehend verschwunden. Ausgehend von diesen erstinstanzlichen Feststellungen, denen der Kläger nicht entgegengetreten ist, ist nicht ersichtlich, dass inlandsbezogene Abschiebungshindernisse aus gesundheitlichen Gründen vorliegen könnten, die beim Erlass der Abschiebungsandrohung hätten berücksichtigt werden müssen. Die Frage der Pflicht zur Berücksichtigung des Gesundheitszustands bereits im Rahmen der Abschiebungsandrohung durch das Bundesamt würde sich daher im Berufungsverfahren nicht stellen.
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3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
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4. Dieser Beschluss, mit dem das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig wird (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG), ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).