Inhalt

LG Memmingen, Endurteil v. 10.01.2023 – 36 O 956/22
Titel:

Keine Haftung von Audi für den entwickelten, hergestellten und gelieferten 3,0-Liter-Motor bei Klageerhebung in 2022 (hier: VW Touareg BMT V6TDI)

Normenketten:
BGB § 195, § 199, § 212 Abs. 1 Nr. 1, § 214, § 823 Abs. 2, § 826, § 852 S. 1
Fahrzeugemissionen-VO Art. 5 Abs. 2
EG-FGV § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1
Leitsätze:
1. Vgl. zu 3,0 Liter-Motoren von Audi mit unterschiedlichen Ergebnissen auch: BGH BeckRS 2021, 37683; BeckRS 2022, 21374; BeckRS 2023, 15119 ("Differenzschaden"); KG BeckRS 2023, 2608; OLG Bamberg BeckRS 2023, 10858; BeckRS 2023, 10853; BeckRS 2023, 11790; OLG Brandenburg BeckRS 2022, 32170; OLG Braunschweig BeckRS 2022, 28824; BeckRS 2022, 27100; OLG Celle BeckRS 2023, 12752; OLG Nürnberg BeckRS 2023, 5896; BeckRS 2023, 5895; BeckRS 2023, 8575; BeckRS 2023, 9333; OLG Zweibrücken BeckRS 2022, 39887; BeckRS 2022, 39888; BeckRS 2022, 18797; BeckRS 2022, 34107; BeckRS 2022, 36850; BeckRS 2022, 41600; OLG München BeckRS 2022, 43580; BeckRS 2023, 7833; BeckRS 2023, 12847; BeckRS 2023, 13677; BeckRS 2023, 12797; BeckRS 2023, 13675; BeckRS 2022, 36080 (mit weiteren Nachweisen in Ls. 1); OLG Bamberg BeckRS 2022, 28703 (mit weiteren Nachweisen in Ls. 1) sowie OLG Brandenburg BeckRS 2021, 52227 (mit weiteren Nachweisen in Ls. 1). (redaktioneller Leitsatz)
2. Spätestens mit Erhalt eines Informationsschreibens der (Motor-)Herstellerin und Durchführung eines Software-Updates gegen Quittung (hier: jeweils im Jahr 2018) hat ein Fahrzeugkäufer zumindest grob fahrlässige Unkenntnis von etwaigen Schadensersatzansprüchen gegen die (Motor-)Herstellerin, was die Verjährungsfrist in Gang setzt. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)
3. Spielt die Herstellerin auf Grund eines verpflichtenden Rückrufs des Kraftfahrtbundesamtes ein Software-Update auf, liegt hierin kein die Verjährungsfrist erneut in Gang setzendes Anerkenntnis. (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)
4. Eine Pflicht zur Offenlegung eines Thermofensters im Genehmigungsverfahren besteht erst seit der VO (EU) 2017/646 vom 20.04.2016, sodass allein eine davor unterlassene Offenlegung des Thermofensters im Typgenehmigungsverfahren keine Falschangabe oder vorsätzliche Täuschung darstellt. (Rn. 30) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Diesel-Abgasskandal, Audi AG, 3.0 l V6 Dieselmotor, unzulässige Abschalteinrichtung, Thermofenster, Informationsschreiben, Rückrufaktion, Software-Update, Verjährung, Typgenehmigungsverfahren
Rechtsmittelinstanzen:
OLG München, Hinweisbeschluss vom 14.04.2023 – 24 U 671/23 e
OLG München, Beschluss vom 12.06.2023 – 24 U 671/23 e
Fundstelle:
BeckRS 2023, 13676

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
3. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.
4. Der Streitwert wird auf 31.645,01 € festgesetzt.

Tatbestand

1
Die Parteien streiten über die Rückabwicklung eines Kaufvertrags über einen Pkw wegen vom Kläger behaupteter unzulässiger Abschalteinrichtungen des Fahrzeugmotors.
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Der Kläger erwarb am 06.10.2016 den gebrauchten Pkw … BMT V6TDI, Fahrzeug-ID-Nummer …, zu einem Kaufpreis von 44.748,84 € zzgl. Finanzierungskosten. Das Fahrzeug hatte bei Erwerb einen Kilometerstand von 18.565 km, am 06.12.2022 von 151.837 km. Der Pkw ist mit einem von der Beklagten hergestellten Motor 3.0 V6 TDI, Euro 6, ausgestattet.
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Für den Pkw liegt ein Rückruf des Kraftfahrbundesamts (KBA) mit der Referenznummer … vom 07.12.2017 wegen einer illegalen Motorsteuerungssoftware vor, die den Ausstoß von Stickoxid (NOx) im Prüfstandbetrieb optimiert. Hierüber wurde in den Jahren 2017 und 2018 in den Medien ausführlich berichtet. Der Kläger wurde, wie alle anderen betroffenen Halter, ab Februar 2018 über den Rückruf informiert. In dem Kundenanschreiben heißt es: „[…] an … EU6 Fahrzeugen mit 3.0 TDI Motorisierung ist aufgrund einer angeordneten Rückrufaktion ein Software-Update notwendig. In einem begrenzten Fertigungszeitraum sind Dieselmotoren mit einer Motorsteuergeräte-Software verbaut worden, durch welche die Stickoxidwerte (NOx) im Vergleich zwischen Prüfstandlauf (NEFZ) und realem Fahrbetrieb verschlechtert werden. Aus diesem Grund ist eine Umprogrammierung des Motorsteuergerätes erforderlich. Das benötigte Software-Update, dessen Eignung und Wirksamkeit umfassend überprüft wurde, steht nunmehr auch für Ihr Fahrzeug zur Verfügung. […] Wir möchten Sie bitten, sich umgehend mit einem autorisierten Partner für … in Verbindung zu setzen, damit ein Termin vereinbart werden kann. […] Sollten Sie nicht mehr im Besitz dieses Fahrzeuges sein, so geben Sie uns bitte den Namen und die Anschrift des neuen Halters beziehungsweise den Verbleib des Fahrzeuges an. Nutzen Sie dazu unser Angebot im Internet (https://www.rueckruf-aktion.de/).“
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Am 02.05.2018 ließ der Kläger im Autohaus … in … das erforderliche Update durchführen. Im Anschluss hieran unterzeichnete der Kläger eine Bescheinigung als Nachweis über die Durchführung der Rückrufaktion. Diese lautete: „Die … hat durch Bescheid des Kraftfahrt-Bundesamtes vom 07. Dezember 2017 Nebenbestimmungen zur EG-Typgenehmigung Ihres Fahrzeuges auferlegt erhalten, die im Rahmen eines Rückrufes umzusetzen sind. Mit der soeben bei Ihrem Fahrzeug durchgeführten Maßnahme gelten diese Nebenbestimmungeh als erfüllt.“
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Darüber hinaus ist im streitgegenständlichen Fahrzeug ein „Thermofenster“ vorhanden, welches die Abgasrückführung bei kühleren Temperaturen zurückfährt.
6
Der Kläger behauptet, er habe anlässlich des Termins im Autohaus … nach dem Hintergrund des Software-Updates gefragt. Ihm sei mitgeteilt worden, dies habe nichts mit der Abgasproblematik zu tun, es müsse lediglich die Motorsteuerung geändert werden. Es hätten alle ein Schreiben erhalten, auch wenn sie nicht betroffen seien. Auch anlässlich eines TÜV-Servicetermins am 03.09.2018 im Autohaus … in … sei ihm mitgeteilt worden, der Motor seines Fahrzeugs sei nicht betroffen. Er habe erst im Laufe des Jahres 2021 von der Betroffenheit seines Fahrzeugs aus den Medien erfahren.
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Darüber hinaus ist der Kläger der Auffassung, dass das Thermofenster als unzulässige Abschalteinrichtung zu bewerten sei und ihm auch deshalb ein Anspruch auf Rückabwicklung des Kaufvertrags zustehe.
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Der Kläger beantragt zuletzt:
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klagepartei EUR 29.634,98 abzgl. einer Nutzungsentschädigung in Höhe von 17.993,78 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu bezahlen sowie die Klagepartei von sämtlichen Verpflichtungen gegenüber der… aus dem als Anlage K1b beigefügten Darlehensvertrag mit der Finanzierungsnummer „…“ freizustellen Zug um Zug gegen Herausgabe des Fahrzeugs der Marke … BMT V6TDI mit der Fahrgestellnummer … sowie Übertragung der Anwartschaftsrechte an dem Fahrzeug, Abtretung etwaiger Herausgabeansprüche an dem Fahrzeug und dem Fahrzeugbrief gegenüber der … aus dem Darlehensvertrag mit der Finanzierungsnummer „…“.
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Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
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Die Beklagte erhebt die Einrede der Verjährung. Sie ist der Auffassung, dem Kläger sei Kenntnis der anspruchsbegründenden Tatsachen, jedenfalls aber grob fahrlässige Unkenntnis ab dem Jahr 2018 vorzuwerfen, sodass seine Ansprüche bei Klageerhebung im Jahr 2022 verjährt gewesen seien.
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Wegen des weiteren Sach- und Streitstands wird auf die bei der Akte befindlichen Schriftsätze samt Anlagen sowie das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 06.12.2022 Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Klage ist unbegründet.
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Das Landgericht Memmingen ist jedenfalls gem. § 39 ZPO örtlich und gem. § 1 ZPO i.V.m. §§ 23 Nr. 1, 71 Abs. 1 GVG sachlich zuständig.
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Die Klage hat jedoch in der Sache keinen Erfolg.
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Dem Kläger stehen die geltend gemachten Schadensersatzansprüche nicht zu. Der Kläger hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Rückabwicklung des Kaufvertrages.
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I. Dem Kläger steht gegen die Beklagte wegen der vom KBA festgestellten unzulässigen Abschalteinrichtungen kein durchsetzbarer Anspruch auf Schadensersatzanspruch zu. Der geltend gemachte Anspruch war bei Klageerhebung bereits verjährt. Die Beklagte hat die Einrede der Verjährung im Rahmen der Klageerwiderung wirksam erhoben, § 214 Abs. 1 BGB. Dem Beklagten steht auch bereits dem Grunde nach kein Anspruch aus § 852 BGB zu.
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1. Spätestens mit Erhalt des Informationsschreibens der Beklagten im Jahr 2018 und Durchführung des Software-Updates gegen Quittung hatte der Kläger zumindest grob fahrlässige Unkenntnis von etwaigen Ansprüchen.
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Dafür ist es nicht erforderlich, dass der Geschädigte alle Einzelheiten grob fahrlässig verkennt, die für die Beurteilung von Bedeutung sind. Auch muss er keine zutreffende rechtliche Würdigung vornehmen. Vielmehr genügt aus Gründen der Rechtssicherheit und Billigkeit im Grundsatz grob fahrlässige Unkenntnis der den Ersatzanspruch begründenden tatsächlichen Umstände (BGH, Urteile vom 11.01.20017 – III ZR 302/05 und vom 03.03.2005 – III ZR 353/04).
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Grobe Fahrlässigkeit setzt einen objektiv schwerwiegenden und subjektiv nicht entschuldbaren Verstoß gegen die Anforderungen der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt voraus, insbes. wenn dem Gläubiger die Kenntnis deshalb fehlt, weil er ganz nahe liegende Überlegungen nicht angestellt und nicht beachtet hat, ihm persönlich ein schwerer Obliegenheitsverstoß in seiner eigenen Angelegenheit der Anspruchsverfolgung („Verschulden gegen sich selbst“) vorgeworfen werden kann, weil sich ihm die den Anspruch begründenden Umstände förmlich aufgedrängt haben, er davor aber letztlich die Augen verschlossen hat (BeckOK BGB/Spindler, 63. Ed. 1.8.2022, BGB § 199 Rn. 23); das Unterlassen von Ermittlungen muss als geradezu unverständlich erscheinen.
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So liegt es jedoch hier. Dabei kann zugunsten des Klägers sogar als wahr unterstellt werden, dass ihm von den benannten Autohäusern wahrheitswidrig die Auskunft gegeben war, sein Fahrzeug sei von dem „Dieselskandal“ nicht betroffen. Nichtsdestotrotz mussten sich dem Kläger, der ein Informationsschreiben über einen angeordneten Rückruf erhalten und die Durchführung der Rückrufaktion quittiert hatte, aufdrängen, dass diese Auskünfte unzutreffend waren. Hinzu tritt die breite mediale Berichterstattung, die dem Kläger ebenfalls die Betroffenheit seines Fahrzeuges bekanntmachen musste (vgl. BGH, Urteil vom 17.12.2020 – VI ZR 739/20). Indem der Kläger vor diesen Widersprüchen zwischen den Auskünften von Autohäusern und ihm vom Hersteller selber erteilten Informationen und der medialen Berichterstattung die Augen verschloss und keine weiteren Nachforschungen – die ihm recht einfach über eine Nachfrage beim Hersteller möglich gewesen wären – mehr anstellte, was jedem anderen angesichts solcher Widersprüche eingeleuchtet hätte, hat er die im Verkehr erforderliche Sorgfalt in ungewöhnlich großem Maße verletzt.
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Demnach wäre dem Kläger die Erhebung einer Schadensersatzklage Erfolg versprechend, wenn auch nicht risikolos möglich gewesen (vgl. BGH, Urteil vom 17.12.2020 – VI ZR 739/20).
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2. Die klägerischen Ansprüche sind daher nach Ablauf der Regelverjährungsfrist von drei Jahren (§ 195 BGB) spätestens zum 31.12.2021 verjährt, sodass die gegenständliche – erst im Jahr 2022 erhobene – Individualklage die Verjährung nicht mehr hemmen konnte.
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3. Hemmungstatbestände sind durch die Klägerseite weder vorgetragen noch ersichtlich.
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4. Mit dem Aufspielen des Software-Updates hat auch nicht die Verjährung gemäß § 212 Abs. 1 Nr. 1 BGB neu zu laufen begonnen. So knüpft § 212 Abs. 1 Nr. 1 BGB an das Anerkenntnis des Anspruchs an. Ein solches Anerkenntnis des in Frage kommenden Anspruches nach § 826 BGB ist ausgeschlossen, nachdem die Beklagte bzw. deren Konzernmarken das Software-Update nicht etwa freiwillig, sondern nur auf Grund eines verpflichtenden Rückrufs des Kraftfahrtbundesamtes vorgenommen hat (OLG München, Hinweisbeschluss vom 22.02.2021 und Zurückweisungsbeschluss vom 22.03.2021 – 27 U 6812/20).
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5. Auch ein Anspruch aus § 852 BGB steht dem Kläger nicht zu.
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a) Nach Sinn und Zweck der Vorschrift sollen demjenigen, der einen anderen durch unerlaubte Handlung schädigt und dadurch sein Vermögen mehrt, auch bei Verjährung des Schadensersatzanspruchs nicht die auf diese Weise erlangten Vorteile verbleiben. Die dem Anspruch zugrundeliegende Vermögensverschiebung kann auch durch einen oder mehrere Dritte vermittelt werden, solange sie in einem ursächlichen Zusammenhang mit der unerlaubten Handlung steht. Wenn ein Vermögensverlust beim Geschädigten einen entsprechenden Vermögenszuwachs beim Schädiger zur Folge gehabt hat, ist er daher nach § 852 Satz 1 BGB auch dann herauszugeben, wenn diese Vermögensverschiebung dem Schädiger durch Dritte vermittelt worden ist. Unberührt bleibt davon die Notwendigkeit, dass der Vermögenszuwachs auf dem Vermögensverlust des Geschädigten beruhen muss. Daher setzt ein Anspruch aus § 852 Satz 1 BGB jedenfalls voraus, dass die Herstellerin im Verhältnis zum Geschädigten etwas aus dem Fahrzeugverkauf an diesen erlangt hat.
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b) Jedenfalls in mehraktigen Fällen wie bei dem Kauf eines von der Herstellerin mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung in den Verkehr gebrachten und von dem Geschädigten erst später von einem Dritten erworbenen Gebrauchtwagens führt der letztgenannte Erwerbsvorgang indes zu keiner Vermögensverschiebung im Verhältnis zwischen dem Geschädigten und der Herstellerin. Denn der Herstellerin, die einen etwaigen Vorteil bereits mit dem Inverkehrbringen des Fahrzeugs als Neuwagen realisiert hat, fließt im Zusammenhang mit dem im Abschluss des ungewollten Vertrags liegenden Vermögensschaden des Geschädigten durch ihre unerlaubte Handlung nichts – mehr – zu. Bei einem Gebrauchtwagenverkauf, der – wie hier – zwischen dem klagenden Geschädigten und einem Dritten abgeschlossen wird, partizipiert die Herstellerin weder unmittelbar noch mittelbar an einem etwaigen Verkäufergewinn aus diesem Kaufvertrag, sei es, dass der Gebrauchtwagen von einer Privatperson oder von einem Händler an den Geschädigten verkauft wurde. Deshalb scheidet in diesen Fällen ein Anspruch nach § 852 Satz 1 BGB aus (BGH, Urteile vom 10. Februar 2022 – VII ZR 365/21, VII ZR 396/21, VII ZR 679/21, VII ZR 692/21 und VII ZR 717/21).
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II. Auch auf das installierte „Thermofenster“ kann der Kläger keinen Schadensersatzanspruch auf Rückabwicklung des Kaufvertrags stützen.
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1. Im Rahmen des § 826 BGB kann es dahingestellt bleiben, ob ein Thermofenster eine objektiv unzulässige Abschalteinrichtung darstellt oder nicht. Bei einer sogenannten „Schummelsoftware“, wie sie in dem …-Motor EA 189 verwendet worden ist, ergibt sich die Sittenwidrigkeit des Handelns per se aus der Verwendung einer Umschaltlogik, die – auf den Betriebszustand des Fahrzeugs abstellend – allein danach unterscheidet, ob sich dieses auf dem Prüfstand oder im normalen Fahrbetrieb befindet. Eine solche Abschalteinrichtung ist eindeutig unzulässig; an dieser rechtlichen Wertung kann auch aus Sicht der Handelnden bzw. hierfür Verantwortlichen kein Zweifel bestehen. Bei einer anderen die Abgasreinigung beeinflussenden Motorsteuerungsssoftware, wie dem hier in Rede stehenden Thermofenster, die vom Grundsatz her im normalen Fahrbetrieb in gleicher Weise arbeitet wie auf dem Prüfstand und bei der Gesichtspunkte des Motor-, respektive des Bauteilschutzes als Rechtfertigung ernsthaft erwogen werden können, kann bei Fehlen von konkreten Anhaltspunkten nicht ohne weiteres unterstellt werden, dass die Handelnden bzw. Verantwortlichen bei der Beklagten in dem Bewusstsein agiert haben, möglicherweise eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden. Vielmehr muss in dieser Situation, selbst wenn hinsichtlich des Thermofensters von einer objektiv unzulässigen Abschalteinrichtung auszugehen sein sollte, eine möglicherweise falsche, aber dennoch vertretbare Gesetzesauslegung und -anwendung durch die Organe der Beklagten in Betracht gezogen werden (vgl. OLG Koblenz, Urteil vom 18.05.2020, 12 U 2149/19; OLG Koblenz Urteil vom 21.10.2019, Az.: 12 U 246/19, Beck RS 2019, 25135; so auch OLG Stuttgart MdR 2019, 1248-1249; OLG Köln, Beschluss vom 04.07.2019 – 3 U 148/18, juris, Rn. 6). Eine Sittenwidrigkeit kommt daher hier nur in Betracht, wenn über die bloße Kenntnis von der Verwendung einer Software mit der in Rede stehenden Funktionsweise in dem streitgegenständlichen Motor hinaus zugleich auch Anhaltspunkte dafür erkennbar wären, dass dies von Seiten der Beklagten in dem Bewusstsein geschah, hiermit möglicherweise gegen die gesetzlichen Vorschriften zu verstoßen, und dieser Gesetzesverstoß billigend in Kauf genommen wurde (OLG Stuttgart und OLG Köln a.a.O.). Solche Anhaltspunkte sind vorliegend hinsichtlich des Thermofensters nicht ersichtlich. Dies gilt auch und gerade unter Berücksichtigung des besonderen Zielkonfliktes zwischen Bauteilschutz und Emissionsreduzierung. Solange daher in Betracht zu ziehen ist, dass die Beklagte die Rechtslage fahrlässig verkannt hat, fehlt es in subjektiver Hinsicht an dem für die Sittenwidrigkeit erforderlichen Bewusstsein der Rechtswidrigkeit (vgl. Palandt/Sprau, BGB, 78. Auflage 2019, § 826 Rn. 8). Die europarechtliche Gesetzeslage ist an dieser Stelle nicht unzweifelhaft und nicht eindeutig. Dies zeigt bereits die kontrovers geführte Diskussion über Inhalt und Reichweite der Ausnahmevorschrift des Art. 5 Abs. 2 S. 2 a) VO (EG) 715/2007. Nach Einschätzung der vom Bundesverkehrsministerium (BMVI) eingesetzten Untersuchungskommission „Volkswagen“ liegt ein Gesetzesverstoß durch die von allen Autoherstellern eingesetzten Thermofenster jedenfalls nicht eindeutig vor. So heißt es im Bericht der Kommission zur Auslegung der Ausnahmevorschrift des Art. 5 Abs. 2 S. 2 a) VO (EG) 715/2007 ausdrücklich (BMVI, Bericht der Untersuchungskommission Volkswagen, Stand April 2016, S. 123): „Zudem verstößt eine weite Interpretation durch die Fahrzeughersteller und die Verwendung von Abschalteinrichtungen mit der Begründung, dass eine Abschaltung erforderlich ist, um den Motor vor Beschädigungen zu schützen und um den sicheren Betrieb des Fahrzeugs zu gewährleisten, angesichts der Unschärfe der Bestimmungen, die auch weite Interpretationen zulässt, möglicherweise nicht gegen die Verordnung (EG) Nr. 715/2007. Konsequenz dieser Unschärfe der europäischen Regelung könnte sein, dass unter Berufung auf den Motorschutz die Verwendung von Abschalteinrichtungen letztlich stets dann gerechtfertigt werden könnte, wenn von Seiten des Fahrzeugherstellers nachvollziehbar dargestellt wird, dass ohne die Verwendung einer solchen Einrichtung dem Motor Schaden droht, sei dieser auch noch so klein.“ Eine Auslegung, wonach ein Thermofenster eine zulässige Abschalteinrichtung darstellt, ist daher jedenfalls zu dem hier in Rede stehenden Zeitpunkt nicht unvertretbar gewesen. Ein Handeln unter vertretbarer Auslegung des Gesetzes kann aber nicht als besonders verwerfliches Verhalten angesehen werden (vgl. OLG Koblenz, Urteil vom 18.05.2020, 12 U 2149/19). Da Bezugspunkt der Zeitpunkt der der Beklagten vorgeworfenen Handlung ist, vermögen auch zwischenzeitlich ergangene Entscheidungen hieran (auf Vorsatzebene) nichts zu ändern.
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Eine Pflicht zur Offenlegung des Thermofensters im Genehmigungsverfahren besteht erst seit der VO (EU) 2017/646 vom 20.04.2016, sodass allein die unterlassene Offenlegung des Thermofensters im Typgenehmigungsverfahren keine Falschangabe oder vorsätzliche Täuschung darstellt.
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Auf eine vorsätzliche Täuschung hinsichtlich des Thermofensters kann auch nicht aus den – isoliert hiervon zu betrachtenden – weiteren unzulässigen Abschalteinrichtungen im Prüfzyklus geschlossen werden, zumal das KBA bei seiner Überprüfung des streitgegenständlichen Motors das Thermofenster offensichtlich nicht beanstandet hat.
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2. Eine Haftung der Beklagten aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 263 StGB ist ebenfalls nicht gegeben. So fehlt es bereits an einer Vermögensverfügung des Klägers zugunsten der Beklagten und an ihrer stoffgleichen Bereicherung.
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3. Aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. §§ 6, 27 EG-FGV lässt sich der geltend gemachte Schadensersatzanspruch ebenfalls nicht herleiten. Bei den §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV handelt es sich entgegen der Ansicht der Klagepartei nicht um Schutzgesetze, weil sie den Schutz individueller Interessen nicht berücksichtigen. Dass der Individualschutz (hier der Schutz des Vermögens des Erwerbers eines Kraftfahrzeugs) im Aufgabenbereich der genannten Vorschrift liegt oder aber aus deren Auslegung unter Berücksichtigung der zugrunde liegenden Richtlinie 2017/46/EG folgt, ist nicht ersichtlich (vgl. OLG München, Beschluss vom 29.08.2019, – 8 U 1449/19 –, juris).
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Hieran hat sich auch nach dem Schlussanträgem des Generalanwalts Rantos vom 02.06.2022 nichts geändert. Das OLG München hat in seinem Hinweisbeschluss v. 25.7.2022 – 24 U 2890/22, BeckRS 2022, 18805 hierzu ausgeführt:
„Selbst wenn entsprechend der in den Schlussanträgen (dort Rn. 50 und Rn. 78 Ziff.1) vertretenen Auffassung davon ausgegangen würde, die RL 2007/46/EG solle (auch) das Interesse des individuellen Erwerber seines Kraftfahrzeugs schützen, kein Fahrzeug zu erwerben, das mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestattet ist, handelt es sich bei den zur Umsetzung der Richtlinie erlassenen §§ 6 und 27 EG-FGV nicht um Schutzgesetze im Sinne von § 823 Abs. 2 BGB.
Der VO (EG) Nummer 715/2007, die unmittelbar anwendbar ist, misst selbst der Generalanwalt keine Schutzwirkung zugunsten von Vermögensinteressen von Fahrzeugerwerbern zu.
Bereits das bestehende deutsche Vertrags- und Deliktsrecht hält zahlreiche – abgestufte – Instrumente bereit, die hinreichend wirksam das Interesse eines Erwerbers schützen, nicht ein mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestattetes Fahrzeug zu erwerben und zugleich auch einen erheblichen Anreiz für die Hersteller von Motoren bedingen, unionsrechtliche Vorschriften einzuhalten. Vor diesem Hintergrund bedarf es in der deutschen Rechtsordnung über die bestehenden Institute des Vertrags- und Deliktsrechts hinaus nicht der Einordnung der Vorschriften der EG-FGV als Schutzgesetze im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB, um das Interesse der Käufer von Fahrzeugen, die mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestattet sind, angemessen zu schützen (im gleichen Sinne OLG Stuttgart, Urteil vom 28.06.2022, 24 U 115/22, Seite 27 ff; dort auch eingehend zu entstehenden nicht hinnehmbaren Wertungswidersprüchen, wollte man den Bestimmungen der §§ 6 und 27 EG-FGV Schutzgesetzcharakter im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB beimessen).
Soweit das im Verfahren C-100/21 vorlegende Landgericht Ravensburg hierzu eine abweichende Auffassung (insbes. hinsichtlich des Erfordernisses einer Herstellerhaftung bereits für fahrlässiges Verhalten) vertritt, ist als Beleg für den gegenteiligen Befund darauf zu verweisen, dass in den vergangenen Jahren hunderttausende Käufer von Dieselfahrzeugen erfolgreiche, auf unzulässige Abschalteinrichtungen gestützte Klagen gegen unterschiedliche Hersteller von Pkw und darin eingesetzten Dieselmotoren geführt haben.“
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Dem schließt sich das Gericht in eigener Würdigung an.
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4. Es besteht ebenfalls kein Anspruch gemäß § 831 Abs. 1 BGB. Obwohl § 831 BGB an eine Sorgfaltspflichtverletzung des Geschäftsherrn selbst anknüpft und insofern die Beweislast umkehrt, bedarf es zusätzlich eines Delikts, um die Haftung auszulösen (vgl. Wagner, in: Münchener Kommentar BGB, 7. Aufl. 2017, § 831 Rn. 29). Hierfür fehlt es jedoch an einem deliktischen Handeln der jeweiligen Verrichtungsgehilfen. Die Klagepartei hat nicht substantiiert dargetan, dass auf Seiten der Verrichtungsgehilfen die objektive und subjektive Tatseite konkret vorliegen würden. Insofern fehlen jegliche Ausführungen der Klagepartei dazu, inwiefern welche Verrichtungsgehilfen die objektive oder subjektive Tatseite der in Betracht kommenden deliktischen Normen verwirklicht haben sollten. Die Ausführungen der Klagepartei sind damit nicht geeignet, ein deliktisches Handeln der jeweiligen Verrichtungsgehilfen nachzuvollziehen.
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5. Die geltend gemachten Schadensersatzansprüche ergeben sich weiterhin nicht aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. Art. 5 Abs. 1, Art. 4 Abs. 1 UAbs. 2, Art. 4 Abs. 2 UAbs. 2 und Art. 3 Nr. 10 VO (EG) 715/2007. Denn auch insoweit ist kein Schutzgesetz im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB gegeben (vgl. OLG München, Beschluss vom 29.08.2019 – 8 U 1449/19; OLG Braunschweig, Urteil vom 19.02.2019 – 7 U 134/17).
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III. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 91 Abs. 1 ZPO.
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Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus § 709 S. 1 und S. 2 ZPO.
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Der Streitwert wurde nach §§ 63, 39 ff. GKG, §§ 3 ff. ZPO festgesetzt.