Inhalt

VG Ansbach, Beschluss v. 02.06.2023 – AN 4 E 23.1083
Titel:

Arrestgericht iSd § 123 VwGO

Normenketten:
VwGO § 121, § 123 Abs. 1
ZPO § 919, § 926
GVG § 17 Abs. 1 S. 2
Leitsätze:
1. Im verwaltungsgerichtlichen Verfahren ist "Arrestgericht" das Gericht der Hauptsache, das nach § 123 Abs. 1 VwGO zugleich für den Erlass der einstweiligen Anordnung zuständig ist. (Rn. 13) (redaktioneller Leitsatz)
2. Eine Sperrwirkung von Rechtskraft und fehlender Möglichkeit erneuter Rechtshängigkeit kommt nur bei Identität des Streitgegenstandes in Betracht. Der Streitgegenstand des Verfahrens nach § 123 VwGO ist jedoch der prozessuale Anspruch auf Sicherung des Hauptsacheanspruchs und damit nicht deckungsgleich mit dem Streitgegenstand des Hauptsacheverfahrens, das auf Durchsetzung des Hauptsacheanspruchs gerichtet ist. (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Klageerzwingung, Sperrwirkung, Arrestgericht, Streitgegenstand, Klageerhebung, einstweiliger Rechtsschutz, Zuständigkeit, Verwirkung, Klageerzwingungsverfahren
Fundstelle:
BeckRS 2023, 13433

Tenor

In Ergänzung des Beschlusses vom 12. Mai 2023 (Az. AN 4 E 23.697) hat die Antragstellerin innerhalb einer Frist von drei Wochen ab Rechtskraft dieses Beschlusses Klage beim Verwaltungsgericht Ansbach als Gericht der Hauptsache zu erheben.

Gründe

I.
1
Der Antragsgegner begehrt die Anordnung der Klageerhebung in der Hauptsache.
2
Auf der Internetseite des Antragsgegners wurde aufgrund der Vorschrift des § 57 Abs. 1 Geldwäschegesetz (GwG) eine gegenüber der Antragstellerin ergangene bestandskräftige Einziehungsmaßnahme bekanntgemacht. Gegen diese Bekanntmachung wendete sich die Antragstellerin im Wege des Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.
3
Mit Beschluss vom 12. Mai 2023 untersagte das Bayerische Verwaltungsgericht Ansbach (Az. AN 4 E 23.697) im Wege der einstweiligen Anordnung die fortlaufende Bekanntmachung der Einziehungsmaßnahme in nichtanonymisierter Form. Die Antragstellerin habe einen Anspruch auf einstweilige Anordnung glaubhaft gemacht. Darüber hinaus bestehen grundlegende Bedenken gegen die Vereinbarkeit der Rechtsgrundlagen der Veröffentlichung mit Vorschriften der europäischen Grundrechtscharta.
4
Mit Schreiben vom 22. Mai 2023 beantragte der Antragsgegner sinngemäß:
5
Der Antragstellerin wird eine Frist von drei Wochen zur Erhebung der Klage in der Hauptsache gesetzt.
6
Die Antragstellerin habe bisher keine Klage zur Hauptsache erhoben. Ihr sei deshalb eine Frist hierfür zu setzen (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 926 Abs. 1 ZPO), die mit drei Wochen angemessen erscheine.
7
Mit Schreiben vom 26. Mai 2023 erwidert die Antragstellerin und beantragt,
Der Antrag wird abgelehnt.
8
Dem Antrag sei nicht stattzugeben, da es an einem Rechtsschutzbedürfnis fehle. Es habe sich bei dem Beschluss vom 12. Mai 2023 (Az. AN 4 E 23.697) um eine Vorwegnahme der Hauptsache gehandelt, weshalb eine Entscheidung in der Hauptsache obsolet sei, da die Antragstellerin endgültig erhalten habe, was sie mit einer erfolgreichen Klage habe verlangen können. Über denselben Streitgegenstand dürfe kein zweites Mal entschieden werden und er könne auch nicht ein weiteres Mal rechtshängig gemacht werden. Nach Kenntnis sei die Rechtskraft des Beschlusses vom 12. Mai 2023 zwischenzeitlich eingetreten.
9
Das Antragsrecht nach § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 926 Abs. 1 ZPO sei im Übrigen verwirkt. Das Gericht habe auf die Notwendigkeit eines Antrags für die Klageerzwingung vor seiner Entscheidung vom 12. Mai 2023 hingewiesen, worauf der Antragsgegner in seiner erschöpfenden Klageerwiderung nicht eingegangen sei. Hierdurch habe der Antragsgegner eine Vertrauensposition geschaffen. Veränderte Umstände nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO analog liegen weiter nicht vor.
10
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und die beigezogene Behördenakte Bezug genommen.
II.
11
Die Klageerhebung war im tenorierten Umfang anzuordnen. Die Entscheidung basiert auf § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 926 Abs. 1 ZPO.
12
1. Im Verfahren der einstweiligen Anordnung ist nach § 123 Abs. 3 VwGO der § 926 Abs. 1 ZPO entsprechend anwendbar. Demnach hat das Arrestgericht auf Antrag ohne mündliche Verhandlung anzuordnen, dass der Antragsteller der erwirkten einstweiligen Anordnung, binnen einer zu bestimmenden Frist Klage zu erheben hat, wenn die Hauptsache nicht anhängig ist.
13
Da § 123 VwGO nicht auf § 919 ZPO verweist, gilt die zivilprozessuale Zuständigkeitsregelung über das Arrestgericht im verwaltungsprozessualen Verfahren nicht. Im verwaltungsgerichtlichen Verfahren ist „Arrestgericht“ entsprechend der allgemeinen Regelung das Gericht der Hauptsache, das nach § 123 Abs. 1 VwGO zugleich für den Erlass der einstweiligen Anordnung zuständig ist (vgl. Schoch in Schoch/Schneider Verwaltungsrecht, 42. EL Februar 2022, § 123 VwGO Rn. 189; Puttler in Sodan/Ziekow VwGO, 5. Aufl. 2018, § 123 Rn. 140). Dieselbe Überlegung ergibt sich, wenn man die Anordnung der Klageerhebung als vorgelagerte Anordnung zur Aufhebung des Beschlusses nach § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 926 Abs. 2 ZPO versteht und die Zuständigkeit insoweit dem Gericht der Hauptsache über die actus-contrarius-Theorie zuordnet (vgl. OVG NRW, B.v. 18.6.2021 – 13 B 331/21 – juris Rn. 2 f.).
14
2. Die Verpflichtung der Antragstellerin war im tenorierten Umfang auszusprechen. Die Voraussetzungen des § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 926 Abs. 1 ZPO liegen vor. Der Antragsgegner hat den erforderlichen Antrag für die Klageerzwingungsanordnung nunmehr gestellt und auch das erforderliche Rechtsschutzinteresse (lit. a). Auch die weiteren Argumente der Antragstellerin gehen ins Leere (lit. b).
15
a) Die Antragstellerin hat die einstweilige Anordnung erwirkt und noch keine Klage in der Hauptsache erhoben. Der nach § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 926 Abs. 1 ZPO ausdrücklich erforderliche Antrag des Antragsgegners wurde durch diesen zwischenzeitlich gestellt. Es besteht auch weiterhin ein Rechtsschutzinteresse an der Durchführung des Hauptsacheverfahrens (vgl. OVG NRW, B.v. 31.3.2020 – 15 B 66/20 – juris Rn. 10).
16
In der Entscheidung vom 12. Mai 2023 (Az. AN 4 E 23.697) hat das Gericht bereits ausgeführt, dass die Streitsache eine grundlegende Rechtsfrage aufwirft, die im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nicht abschließend geprüft werden kann. Eine solche Prüfung ist auch durch den vom anwaltlichen Vertreter der Antragstellerin erfolgten Hinweis auf die „Vorwegnahme der Hauptsache“ im Eilverfahren nicht entfallen. Der im Raum stehende Realakt der öffentlichen Bekanntmachung kann jederzeit erneut erfolgen, woran der Antragsgegner rechtlich lediglich durch die, ihrer Natur nach vorläufige, Eilentscheidung gehindert ist. Auf die inhaltlichen Erfolgsaussichten der Hauptsache kommt es dabei nicht an (vgl. OVG NRW a.a.O.).
17
Aus der nicht erfolgten Beschwerde ergibt sich ferner keine Form der Verwirkung oder des widersprüchlichen Verhaltens. Das Klageerzwingungsverfahren ist grundsätzlich an keine Frist gebunden (Schoch in Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, 43. EL Stand: August 2022, § 123 Rn. 182). Das für eine Verwirkung erforderliche Umstandselement ist nicht schon dadurch erfüllt, dass der Antragsgegner nach richterlichen Hinweis zum Zeitpunkt des Eilbeschlusses noch keinen Antrag nach § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 926 Abs. 1 ZPO gestellt hatte, da die Antragstellerin hieraus kein Vertrauen ableiten kann, dass ein solcher Antrag nicht doch noch gestellt wird. Auch in zeitlicher Hinsicht steht der Antrag im unmittelbaren Zusammenhang zu der ausgesprochenen Eilentscheidung, weshalb das für eine Verwirkung erforderliche Zeitelement offensichtlich nicht erfüllt ist.
18
b) An der Sache vorbei geht die Argumentation des anwaltlichen Vertreters der Antragstellerin insoweit, als er sich auf Rechtskraft (analog § 121 VwGO) bzw. auf die fehlende Möglichkeit der erneuten Rechtshängigkeit (§ 173 VwGO i.V.m. § 17 Abs. 1 Satz 2 GVG) berufen will. Eine solche Sperrwirkung käme nur bei Identität des Streitgegenstandes in Betracht. Der einstweilige Rechtsschutz ist, anders als das Hauptsacheverfahren, seiner Natur nach auf eine vorläufige Regelung gerichtet. Dementsprechend ist der Streitgegenstand des Verfahrens nach § 123 VwGO der prozessuale Anspruch auf Sicherung des Hauptsacheanspruchs (Happ in Eyermann, Verwaltungsgerichtsordnung, 16. A. 2022, § 123 Rn. 2) und damit nicht deckungsgleich mit dem Streitgegenstand des Hauptsacheverfahrens, das auf Durchsetzung des Hauptsacheanspruchs gerichtet ist.
19
§ 123 Abs. 1 VwGO sieht ferner ausdrücklich vor, dass eine einstweilige Anordnung schon „vor Klageerhebung“ möglich ist, was im Umkehrschluss bedeutet, dass die Durchführung eines etwaigen einstweiligen Rechtsschutzverfahrens neben dem Hauptsacheverfahren der Normalfall ist. Im Übrigen sieht das Gesetz ein Klageerzwingungsverfahren ausdrücklich vor.
20
c) Das Gericht hat die Frist für die Klageerhebung nach pflichtgemäßen Ermessen auf drei Wochen ab Rechtskraft dieses Beschlusses festgesetzt. In Zusammenschau mit der Rechtsmittelfrist gegen diesen Beschluss hat die Antragstellerin effektiv fünf Wochen Zeit für die Klageerhebung. Das ist ein längerer Zeitraum als die gesetzlich für Anfechtungsklagen vorgesehene Monatsfrist nach § 74 VwGO, was dem Gericht sachlich angemessen erscheint.
21
3. Eine weitergehende Anordnung auf Aufhebung des Beschlusses vom 12. Mai 2023 (AN 4 E 23.967) für den Fall des fruchtlosen Ablaufs der Frist nach § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 926 Abs. 2 ZPO war nicht zu treffen. Das Gesetz fordert insoweit ebenfalls einen Antrag und der Antragsgegner hat in seinem Schreiben vom 22. Mai 2023 explizit nur auf § 926 Abs. 1 ZPO Bezug genommen.
22
Das Gericht weißt jetzt darauf hin, dass im Falle eines solchen Antrages die Aufhebung aufgrund der Regelung in § 123 Abs. 4 VwGO entgegen § 926 Abs. 2 ZPO im Beschlussverfahren und nicht durch Endurteil ausgesprochen wird. § 123 Abs. 3 VwGO ordnet lediglich die entsprechende Anwendung des § 926 ZPO an, der vorrangig für das Arrestverfahren normiert wurde. § 123 Abs. 4 VwGO enthält daneben eine sachnähere Regelung (vgl. auch Schoch in Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, 43. EL Stand: August 2022, § 123 Rn. 191).
23
4. Eine selbständige Kostenentscheidung war nicht auszusprechen. Bei dem Klageerzwingungsverfahren handelt es sich um ein unselbständiges Anschlussverfahren zum einstweiligen Anordnungsverfahren (so auch OVG NRW, B.v. 18.6.2021 – 13 B 331/21 – juris Rn. 15 mit Bezug auf BayVGH, B.v. 27.6.1997 – 1 CE 97.392 – juris).