Inhalt

OLG München, Beschluss v. 17.05.2023 – 38 W 533/23 e
Titel:

Schutz von Geheimhaltungsinteressen im Zivilrechtsstreit

Normenketten:
ZPO § 78, § 83, § 138 Abs. 4, § 299, § 379, § 402, § 567
GVG § 169, § 174 Abs. 3
Leitsätze:
1. Im Erkenntnisverfahren ist gegen die Anforderung eines Vorschusses nach §§ 402, 379 ZPO grundsätzlich kein Rechtsmittel gegeben. (Rn. 9) (redaktioneller Leitsatz)
2. Werden Unterlagen mit dem Vorbehalt eingereicht, dass sie der Gegenseite nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zugänglich gemacht werden dürfen, werden sie nicht zum Bestandteil der Prozessakten und dürfen nicht berücksichtigt werden, wenn das Gericht mit Rücksicht auf diesen Vorbehalt von einer Weitergabe an den Gegner absieht. (Rn. 10) (redaktioneller Leitsatz)
3. Das Recht auf Akteneinsicht umfasst die gesamten Akten und darf den Parteien nicht im Hinblick auf zu wahrende Geschäfts- oder Betriebsgeheimnisse verwehrt werden. (Rn. 13) (redaktioneller Leitsatz)
4. Berechtigten Geheimhaltungsinteressen einer Partei kann durch den Abschluss einer außerprozessualen Geheimhaltungsvereinbarung entsprochen werden, deren Verweigerung beweisrechtliche Folge haben kann. (Rn. 14 – 16) (redaktioneller Leitsatz)
5. Auch ein detaillierter oder plausibler Vortrag, der sich etwa auf ein Privatgutachten oder andere Unterlagen stützt, kann, wenn die Voraussetzungen vorliegen, mit bloßem Nichtwissen bestritten werden. (Rn. 19) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Krankenversicherung, Auslagenvorschuss, Rechtsmittel, Verfahrensentscheidungen, Geheimhaltungsinteressen, Öffentlichkeit, Ausschluss, Geheimhaltungsvereinbarung, Beweislast, Bestreiten mit Nichtwissen
Vorinstanzen:
LG München I, Beschluss vom 21.04.2023 – 12 O 12077/21
LG München I vom 10.03.2023 – 12 O 12077/21
Fundstelle:
BeckRS 2023, 13101

Tenor

1. Die sofortige Beschwerde des Klägers gegen den Beschluss des Landgerichts München I vom 10.03.2023, Az. 12 O 12077/21, wird verworfen.
2. Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Gründe

I.
1
Der Kläger nimmt die Beklagte auf Rückzahlung geleisteter Versicherungsprämien, Feststellung der Unwirksamkeit der Prämienerhöhungen, Feststellung der Pflicht zur Herausgabe gezogener Nutzungen und Ersatz von Anwaltskosten in Anspruch. Er macht geltend, dass mehrere Erhöhungen formell und materiell unwirksam seien.
2
Im Termin vom 07.02.2023 hat die Beklagte unter Ausschluss der Öffentlichkeit (§ 172 Nr. 2 GVG) einen USB-Stick mit vertraulichen Unterlagen zur Rechtfertigung der Prämienerhöhungen vorgelegt, um einer Anordnung des Gerichts gem. § 142 ZPO nachzukommen. Mit Verfügung vom 09.02.2023 hat das Landgericht diese Anordnung insoweit zurückgenommen als es verfügt hat, dass der Kläger vor Kenntnisnahme dieser Unterlagen seiner Pflicht nachzukommen habe, sein Bestreiten der materiellen Rechtsmäßigkeit der Beitragsanpassungen zu konkretisieren. Der Kläger hat hierzu mit Schriftsatz vom 07.03.2023 Stellung genommen.
3
Am 10.03.2023, an den Klägervertreter zugestellt am 21.03.2023, verkündete das Landgericht einen Beweisbeschluss. Zur Überprüfung der Behauptung der Klagepartei, dass mehrere Prämienanpassungen nicht richtig nach den anerkannten Regeln der Versicherungsmathematik berechnet worden seien, ordnete es die Einholung eines schriftlichen Sachverständigengutachtens an und verfügte, dass der Kläger hierfür einen Auslagenvorschuss in Höhe von 4.000,00 € einzuzahlen habe.
4
Unter dem 24.03.2023 zahlte der Kläger den geforderten Auslagenvorschuss ein.
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Mit seiner sofortigen Beschwerde vom 30.03.2023 wendet sich der Kläger dennoch gegen die Anordnung der Vorschusspflicht zu seinen Lasten.
6
Das Landgericht hat der sofortigen Beschwerde mit Beschluss vom 21.04.2023 nicht abgeholfen.
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Mit Schriftsatz vom 27.04.2023 stellte der Kläger klar, dass die Einzahlung des Auslagenvorschusses nur zur Fristwahrung erfolgt sei und dass die Akten dem Beschwerdegericht vorzulegen seien. Die geschah mit weiterem Beschluss des Landgerichts vom 04.05.2023.
II.
8
Die sofortige Beschwerde gegen die Vorschussanforderung ist unstatthaft und ist daher kostenpflichtig zu verwerfen.
9
Die sofortige Beschwerde findet statt gegen die im ersten Rechtszug ergangenen Entscheidungen der Amtsgerichte und Landgerichte, wenn dies im Gesetz ausdrücklich bestimmt ist oder es sich um solche eine mündliche Verhandlung nicht erfordernde Entscheidungen handelt, durch die ein das Verfahren betreffendes Gesuch zurückgewiesen worden ist (§ 567 Abs. 1 ZPO). Im Erkenntnisverfahren ist gegen die Anforderung eines Vorschusses nach §§ 402, 379 ZPO grundsätzlich kein Rechtsmittel gegeben (BGH, Beschluss vom 3.3.2009 – VIII ZB 56/08, NJW-RR 2009, 1433 Rn. 8 mwN). Auch bei greifbarer Gesetzeswidrigkeit (dazu sogleich unter III.) ist der Beschwerdeweg nicht eröffnet (vgl. BeckOK ZPO/Wulf, 48. Ed. 1.3.2023, ZPO § 567 Rn. 13, 14 mwN).
III.
Für das weitere Verfahren weist der Senat auf Folgendes hin (vgl. OLG München, Beschluss vom 08.05.2023 – 38 U 6499/22, zur Veröffentlichung vorgesehen):
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1. Einer Beweisaufnahme hat grundsätzlich ein substantiierter schriftsätzlicher Sachvortrag des Beweisführers gefolgt von einem wirksamen schriftsätzlichen Bestreiten der Gegenpartei voranzugehen. Der schriftsätzliche Vortrag und die begleitenden Anlagen sowie das schriftsätzliche Bestreiten sind zur Akte zu nehmen. Sie werden, soweit sie vorbehaltslos eingereicht worden sind, zum Aktenbestandteil und unterliegen der Akteneinsicht nach § 299 Abs. 1 ZPO (BGH, Beschluss von 14.1.2020 – X ZR 33/19 – Akteneinsicht XXIV, GRUR 2020, 327 Rn. 15, 16). Soweit sie mit dem Vorbehalt eingereicht worden sind, dass sie der Gegenseite nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zugänglich gemacht werden dürfen, werden sie jedenfalls dann nicht zum Bestandteil der Prozessakten, wenn das Gericht mit Rücksicht auf diesen Vorbehalt von einer Weitergabe an den Gegner absieht. Sie dürfen dann bei der Entscheidung nicht berücksichtigt werden (BGH, Beschluss von 14.1.2020 – X ZR 33/19 – Akteneinsicht XXIV, GRUR 2020, 327 Rn. 18, 23). Vorbehaltlos eingereichte Schriftsätze sind samt Anlagen der Gegenseite in Abschrift zugänglich zu machen (Greger in Zöller, ZPO, 33. Aufl. § 270 Rn. 1 mwN).
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2. Der Versicherer ist für die tatsächlichen Umstände, aus denen er die Berechtigung zur Beitragserhöhung ableitet, darlegungs- und beweispflichtig und zwar unabhängig von der Einkleidung der Klage des Versicherungsnehmers als Antrag auf Rückzahlung zu Unrecht – mit oder ohne Vorbehalt – bezahlter Erhöhungsbeträge oder auf Feststellung bzw. Zwischenfeststellung der Unwirksamkeit der Erhöhung (vgl. BGH, Urteil vom 22.6.2022 – IV ZR 193/20, r+s 2022, 462 Rn. 51, beck-online; Urteil vom 09.12.2015 – IV ZR 272/15, NJW-RR 2016, 606 Rn. 21, 26 mwN, Urteil vom 16.06.2003 – IV ZR 117/02, NJW 2004, 2679, 2681).
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3. Seiner Darlegungslast kommt der Versicherer dadurch nach, dass er alle tatsächlichen Umstände, aus denen er die Berechtigung der Beitragsanpassung ableitet, schriftsätzlich vorträgt. Der genaue Umfang ergibt sich aus den Urteilen des Bundesgerichtshofs vom 16. Juni 2004 (IV ZR 117/02, NJW 2004, 2679) und vom 9. Dezember 2015 (IV ZR 272/15, NJW-RR 2016, 606 Rn. 23). Zur notwendigen Detailtiefe des Vortrags des Versicherers im Hinblick auf etwaige Geheimhaltungsinteressen und ein Bestreiten durch die Gegenseite sind die nachstehenden Erwägungen zu berücksichtigen.
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a. Etwaigen Geheimhaltungsinteressen kann durch Anordnungen nach § 169 GVG i.V.m. § 174 Abs. 3 GVG (vgl. BGH, Urteil vom 09.12.2015 – IV ZR 272/15, NJW-RR 2016, 606 Rn. 19) nur unvollkommen nachgekommen werden, denn diese zielen allein auf einen Ausschluss der Öffentlichkeit im Rahmen der grundsätzlich öffentlichen mündlichen Verhandlung sowie auf die Verpflichtung zur Geheimhaltung in Bezug auf bei der Verhandlung anwesende Personen ab. Das Recht auf Akteneinsicht der Klagepartei und ihres anwaltlichen Vertreters nach § 299 ZPO bleibt davon unberührt (BGH, Urteil vom 09.12.2015 – IV ZR 272/15, NJW-RR 2016, 606 Rn. 18 mE) und lässt sich damit auch dann nicht beschneiden, wenn diese nicht, sondern „nur“ ein Unterbevollmächtigter, an der maßgeblichen mündlichen Verhandlung teilgenommen haben und diese deswegen nicht gem. § 174 Abs. 3 GVG zur Verschwiegenheit verpflichtet werden konnten. Eine Art Geheimverfahren, um Betriebsgeheimnisse zu wahren, ist mit dem geltenden Zivilprozessrecht unvereinbar. Dies folgt nicht nur aus Art. 103 Abs. 1 GG und Art. 6 EMRK, sondern zugleich aus dem Recht der Parteien auf Akteneinsicht gem. § 299 Abs. 1 ZPO. Dieses Recht umfasst die gesamten Akten und darf den Parteien nicht im Hinblick auf zu wahrende Geschäfts- oder Betriebsgeheimnisse verwehrt werden (BGH NJW-RR 2016, 606 Rn. 18 mwN). Zwar kann z.B. gem. § 273 Abs. 2 Nr. 3 ZPO das persönliche Erscheinen der Parteien angeordnet werden, um sodann in der mündlichen Verhandlung eine Geheimhaltungsanordnung zu treffen. Alleinige Sanktionsmöglichkeit im Falle des Nichterscheinens ist aber allenfalls die Festsetzung eines Ordnungsgeldes gem. § 141 Abs. 3 ZPO, nicht jedoch der Verlust des Prozesses allein aufgrund des Nichterscheinens oder aufgrund einer dadurch vermeintlich begangenen Handlung der Beweisvereitelung zum Nachteil der anderen Partei. Auch kann jedenfalls das persönliche Erscheinen eines bestimmten Rechtsanwalts nicht angeordnet werden. § 78 ZPO schreibt vor den Landgerichten lediglich die Vertretung durch Rechtsanwälte vor. Eine Unterscheidung zwischen Hauptbevollmächtigten und Unterbevollmächtigten sieht das Gesetz nicht vor. Etwaige Beschränkungen der Vollmacht entfalten gegenüber dem Gegner nur in den in § 83 ZPO aufgezählten hier nicht einschlägigen Fällen Wirkung. Ein Anspruch der anderen Partei darauf, dass sich der Gegner ununterbrochen von einem bestimmten Rechtsanwalt vertreten lässt, ist dem Gesetz fremd. Vielmehr gilt der Grundsatz der freien Anwaltswahl. Eine Partei kann sich auch durch mehrere Prozessbevollmächtigte vertreten lassen (§ 84 ZPO). Daher könnte es für den Beweisführer grundsätzlich nicht folgenlos bleiben, wenn er die Übergabe geheimhaltungsbedürftiger Unterlagen im Termin vom Erscheinen einer bestimmten Person als anwaltlichen Vertreter des Beweisgegners abhängig macht und die Unterlagen einem erschienen Unterbevollmächtigten nicht übergibt, soweit nicht in Bezug auf den erschienenen Unterbevollmächtigten konkrete tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen, die auf eine mangelnde Zuverlässigkeit in Bezug auf die Wahrung der berechtigten Geheimhaltungsinteressen des Beweisführers hindeuten. D.h. eine unberechtigte Weigerung zur Übergabe der geheimhaltungsbedürftigen Unterlagen durch den Beweisführer ginge grundsätzlich zu seinen Lasten im Sinne einer nicht hinreichenden Subtantiierung seines Vortrags.
14
b. Berechtigten Geheimhaltungsinteressen könnte aber bis zum Inkrafttreten einer Reform des allgemeinen Zivilprozessrechts (vgl. § 273 a ZPO nF gem. Entwurf des Justizstandort-Stärkungsgesetzes) dadurch Rechnung getragen werden, dass die Parteien sowie die jeweils beteiligten anwaltlichen Vertreter auf Anregung der beklagten Partei vor der Einreichung eines Schriftsatzes, der geheimhaltungsbedürftige Details erstmals enthält, eine außergerichtliche strafbewehrte Geheimhaltungsvereinbarung abschließen. Dieses Prozedere wurde vor Inkrafttreten des § 145a PatG, der vorliegend weder direkt noch mangels Regelungslücke analog Anwendung findet, für Patentverletzungsprozesse entwickelt und erfolgreich angewandt (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 25.04.2018 – 2 W 8/18, BeckRS 2018, 7036 Rn. 8-9 mwN; Beschluss vom 18.07.2017 – 2 U 23/17, BeckRS 2017, 118314 Rn. 18 mwN). Auch im Kartellrecht können derzeit Geheimnisse auf diese Art und Weise geschützt werden (LG München I, Beschluss vom 01.04.2021, 37 O 19200/17 BeckRS 2021, 12925). Auch in Verfahren betreffend Beitragsanpassungen in der privaten Krankenversicherung sind die Parteien aufgrund des auch im Prozessrecht anzuwendenden Grundsatzes von Treu und Glauben (§ 242 BGB) und darüber hinaus aufgrund der jahrelangen vertraglichen Verbundenheit (§ 241 Abs. 2 BGB) verpflichtet, auf berechtigte Geheimhaltungsinteressen der anderen Partei Rücksicht zu nehmen.
15
Soweit sich der Beweisgegner, d.h. hier der Versicherungsnehmer, unberechtigt weigert, eine angemessene Vereinbarung abzuschließen, braucht der Beweisführer, d.h. hier der Versicherungsgeber, daher die geheimhaltungsbedürftigen Details in seinem Schriftsatz nicht zu offenbaren. Ein dadurch eintretendes Defizit an Substantiierung geht in diesem Fall zu Lasten des Beweisgegners (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 25.04.2018 – 2 W 8/18, BeckRS 2018, 7036 Rn. 9 mwN).
16
Soweit sich der Beweisführer selbst weigert, eine derartige Geheimhaltungsvereinbarung abzuschließen, muss er wählen, ob er die ungeschützte bzw. unvollkommen geschützte Offenbarung der Geheimnisse gegenüber dem Beweisgegner in Kauf nimmt oder lieber die Geheimnisse nicht offenbart und als Preis hierfür einen möglichen Prozessverlust wegen mangelnder Subtantiierung seines Vortrags in Kauf nimmt.
17
c. Im Anschluss an den substantiierten Sachvortrag durch den Beweisführer ist es Sache des Beweisgegners, diesen Sachvortrag zur Kenntnis zu nehmen und im Anschluss daran diesen entweder unstreitig zu stellen oder zu bestreiten (§ 138 Abs. 2 ZPO). Die Kenntnisnahme ist dabei nicht gleichbedeutend mit einer Pflicht zum Lesen der zur Akte übergebenen Unterlagen. Im Rahmen der hierzu anzustellenden Überlegungen wird der Beweisgegner mit seinem anwaltlichen Vertreter allerdings auch die Regelungen zum Tragen der Prozesskosten bei teilweisem oder vollständigem Unterliegen (§§ 91, 92 ZPO) bzw. zum Tragen der Kosten von erfolglos gebliebenen Angriffs- und Verteidigungsmitteln (§ 96 ZPO) in Erwägung ziehen.
18
Entschließt sich der Versicherungsnehmer als Beweisgegner dazu, Sachvortrag zur Berechtigung der Beitragserhöhung ganz oder in einzelnen Punkten zu bestreiten, darf er das aber regelmäßig mit Nichtwissen tun, d.h. ohne Substantiierung des Bestreitens Zwar hat sich gemäß § 138 Abs. 2 ZPO eine Partei grundsätzlich über die von dem Gegner behaupteten Tatsachen zu erklären; sie darf sich also, wenn der Gegner seiner Erklärungslast nachgekommen ist, nicht mit einem bloßen Bestreiten begnügen, sondern muss erläutern, von welchem Sachverhalt sie ausgeht. Der Umfang der erforderlichen Substantiierung richtet sich dabei nach dem Vortrag der darlegungsbelasteten Partei. Je detaillierter dieser ist, desto höher ist die Erklärungslast gem. § 138 Abs. 2 ZPO. Ob ein einfaches Bestreiten als Erklärung gem. § 138 Abs. 2 ZPO ausreicht oder ob ein substantiiertes Bestreiten erforderlich ist, hängt somit von dem Vortrag der Gegenseite ab.
19
Etwas anderes gilt allerdings dann, wenn eine Partei einen Vortrag – wie vorliegend – mit Nichtwissen gem. § 138 Abs. 4 ZPO bestreiten kann. Nach dieser Vorschrift ist die Erklärung einer Partei mit Nichtwissen über Tatsachen zulässig, die weder eigene Handlungen noch Gegenstand ihrer eigenen Wahrnehmung gewesen sind. Weitere Voraussetzung ist, dass die Partei für die jeweiligen Tatsachen nicht darlegungs- und beweisbelastet ist. Die Zulässigkeit einer solchen Erklärung schließt die Verpflichtung der Partei zu substantiiertem Bestreiten aus. Dies gilt unabhängig von der Substantiierung des gegnerischen Vortrags. Auch ein detaillierter Vortrag, der sich etwa auf ein Privatgutachten oder andere Unterlagen stützt, kann – wenn die Voraussetzungen des § 138 Abs. 4 ZPO vorliegen – mit bloßem Nichtwissen bestritten werden. Eine Pflicht, eigene Ermittlungen anzustellen, um im Einzelnen auf den gegnerischen Vortrag eingehen zu können, besteht nicht. Ebenso darf ein Vortrag, welcher plausibel und naheliegend erscheint, mit Nichtwissen bestritten werden, ohne dass die bestreitende Partei Anhaltspunkte dafür aufzeigen muss, dass der Vortrag falsch sein könnte (BGH, Urteil vom 04.04.2014 – V ZR 275/21, NJW 2015, 468 Rn. 11-12 mwN; Urteil vom26.01.2023 – I ZR 15/22, GRUR-RS 2023, 6756 Rn. 18 mwN – KERRYGOLD). Der Wesenskern eines Rechts auf Bestreiten mit Nichtwissen nach § 138 Abs. 4 ZPO ist demnach, dass keine konkreten Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit des bestrittenen Sachvortrags aufgezeigt werden müssen. Es darf also „ins Blaue hinein“ bestritten werden, d.h. auch bei offensichtlichem Nichtlesen ggfls. zur Akte übergebener Unterlagen. Unternimmt der Beweisgegner gleichwohl den Versuch, sein Bestreiten näher zu begründen, führt das auch dann nicht zur Unbeachtlichkeit seiner Erklärung mit Nichtwissen, wenn er dabei eine Behauptung ins Blaue hinein aufstellt (BGH, Beschluss vom 29.11.2018 – I ZR 5/18, BeckR 2018,34954 Rn. 10). In der Ausübung dieses Rechts kann regelmäßig auch kein Verstoß gegen den auch im Prozessrecht zu beachtenden Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) gesehen werden (BGH, Urteil vom 04.04.2014 – V ZR 275/21, NJW 2015, 468 Rn. 12 mwN; Urteil vom 09.12.2015 – IV ZR 272/15, NJW-RR 2016, 606 Rn. 24 mwN).
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Eine Grenze besteht nur insoweit, als für das Gericht und den Gegner der Umfang des Bestreitens erkennbar sein muss (BGH, Urteil vom 04.04.2014 – V ZR 275/21, NJW 2015, 468 Rn. 12 mwN). Bei unklarem Umfang des Bestreitens ist das Gericht im Rahmen des § 139 Abs. 1 Satz 2 ZPO gehalten, auf ein klares und eindeutiges Bestreiten oder Nichtbestreiten hinzuwirken. Bleibt der Umfang des Bestreitens trotzdem im Vagen, ist nicht wirksam bestritten. Der betroffene Tatsachenvortrag ist dann nach § 138 Abs. 3 ZPO als zugestanden anzusehen.
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4. Art und Umfang der im Falle eines wirksamen Bestreitens durchzuführenden Beweisaufnahme hängt vom Umfang des Bestreitens sowie den vom Beweisführer angebotenen Beweismitteln ab. Soweit angeboten kommt hierbei grundsätzlich auch eine Vernehmung des Treuhänders bzw. eines Mitarbeiters der Versicherung als sachverständiger Zeuge gem. § 414 ZPO in Betracht. Ob im Anschluss hieran noch weiteren Beweisangeboten nachzugehen ist und insbesondere ob, soweit angeboten, noch ein Gutachten durch einen gerichtlichen Sachverständigen zu erholen ist, hängt maßgeblich davon ab, ob sich der Tatrichter eine Überzeugung davon, dass die bestrittene Tatsache erwiesen ist oder nicht, bereits bilden konnte.
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Dies kann wiederum davon abhängen, ob und inwieweit der Beweisgegner substantiierte Einwände gegen die Richtigkeit des bisherigen Beweisergebnisses vorgetragen (vgl. BGH, Urteil vom 09.12.2015 – IV ZR 272/15, NJW-RR 2016, 606 Rn. 24 mwN) oder Gegenbeweis angeboten hat. Dies bedeutet, dass der Beweisgegner, der den Sachvortrag des Beweisführers noch mit Nichtwissen bestreiten durfte, im Falle eines vorläufigen Beweisergebnisses gehalten ist, Einwände gegen die Richtigkeit des bisherigen Beweisergebnisses zu substantiieren und/oder Gegenbeweise anzubieten.