Titel:
Kein Deckungsanspruch gegen den Rechtsschutzversicherer in einem sog. Dieselfall
Normenketten:
BGB § 823 Abs. 2, § 826
ARB § 3a Abs. 1 lit. a
ZPO § 522 Abs. 2, § 524 Abs. 4
Fahrzeugemissionen-VO Art. 5 Abs. 2
Typgenehmigungsverfahrens-RL Art. 18 Abs. 1, Art. 26 Abs. 1, Art. 46
Leitsätze:
1. Sind im Zeitpunkt der Deckungsablehnung der Rechtsschutzversicherung sowohl die Voraussetzungen einer möglichen Haftung des Fahrzeugherstellers aus § 826 BGB als auch die Reichweite einer möglichen Haftung aus § 823 Abs. 2 BGB durch gefestigte höchstrichterliche Rechtsprechung geklärt, bleibt eine spätere - durch Rechtsprechung des EuGH veranlasste – Änderung dieser Rechtsprechung für die Beurteilung der Ablehnungsentscheidung unbeachtlich. (Rn. 5) (redaktioneller Leitsatz)
2. Durch die jüngste Entscheidung des EuGH vom 21.03.2023 in der Rechtssache C-100/21 ist nicht die gesamte höchstrichterliche Rechtsprechung zur deliktischen Haftung des Fahrzeugstellers im Zusammenhang mit einem „Thermofenster“ überholt. (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Diesel-Abgasskandal, BMW, unzulässige Abschalteinrichtung, sittenwidrige Schädigung, Thermofenster, "großer" Schadensersatz, Rechtsschutzversicherung, Deckungsanspruch, Stichentscheid, spätere Rechtsprechungsänderung
Vorinstanzen:
OLG Nürnberg, Hinweisbeschluss vom 16.03.2023 – 8 U 3296/22
LG Regensburg, Urteil vom 26.10.2022 – 32 O 133/22
Fundstelle:
BeckRS 2023, 12749
Tenor
1. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Landgerichts Regensburg vom 26.10.2022, Aktenzeichen 32 O 133/22, wird zurückgewiesen.
2. Der Kläger hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
3. Das in Ziffer 1. genannte Urteil des Landgerichts Regensburg ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.
4. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 6.897,00 € festgesetzt.
Gründe
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1. Die Berufung gegen das Urteil des Landgerichts Regensburg vom 26.10.2022, Aktenzeichen 32 O 133/22, ist gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen, weil nach einstimmiger Auffassung des Senats das Rechtsmittel offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat, der Rechtssache auch keine grundsätzliche Bedeutung zukommt, weder die Fortbildung des Rechts noch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts erfordert und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung über die Berufung nicht geboten ist.
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Zur Begründung wird gemäß § 522 Abs. 2 Satz 3 ZPO auf den Hinweisbeschluss des Senats vom 16.03.2023 (BeckRS 2023, 4288) Bezug genommen. Die Ausführungen in der Gegenerklärung des Klägers vom 02.05.2023 wurden zur Kenntnis genommen und geprüft. Sie geben zu einer Änderung in der Beurteilung der Erfolgsaussichten der Berufung jedoch keinen Anlass.
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Ergänzend ist auszuführen:
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a) Der Senat hat im Rahmen des genannten Hinweisbeschlusses auch den klägerischen Schriftsatz vom 28.02.2023 berücksichtigt. Es war jedoch nicht geboten, die Entscheidung des EuGH vom 21.03.2023 in der Rechtssache C-100/21 (NJW 2023, 1111) abzuwarten.
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aa) Wie der Senat in seinem Hinweisbeschluss im Einzelnen ausgeführt und mit zahlreichen Fundstellen belegt hat, waren im Zeitpunkt der Deckungsablehnung der Beklagten (hier: Mai 2021) sowohl die Voraussetzungen einer möglichen Haftung des Fahrzeugherstellers aus § 826 BGB als auch die Reichweite einer möglichen Haftung aus § 823 Abs. 2 BGB durch gefestigte höchstrichterliche Rechtsprechung geklärt. Darin liegt im Übrigen ein Unterschied zu dem Sachverhalt, der dem Urteil des OLG Hamm vom 13.04.2023 (Az. 6 U 8/22; Anlage KM 1) zugrunde lag.
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Die Gegenerklärung (Seite 3) räumt selbst ein, dass später ergangene Entscheidungen bei der Beurteilung der Erfolgsaussichten der beabsichtigten Rechtsverfolgung nicht zu berücksichtigen sind. Dies würde auch den Grundsätzen der gerichtlichen Überprüfung einer Prognoseentscheidung des Rechtsschutzversicherers (vgl. hierzu OLG Schleswig, Beschluss vom 12.05.2022 – 16 U 53/22, juris Rn. 34; Prölss/Martin/Piontek, VVG, 31. Aufl., ARB 2020, § 1 Rn. 8 m.w.N.) widersprechen.
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bb) Aber auch wenn man entgegen diesen Grundsätzen die genannte Entscheidung des EuGH vom 21.03.2023 in der Rechtssache C-100/21 (NJW 2023, 1111) berücksichtigt, hat die Beklagte zu Recht gemäß § 3a Abs. 1 lit. a) ARB eine Deckungspflicht mangels hinreichender Erfolgsaussicht abgelehnt.
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Anders als der Kläger meint, ist durch die jüngste Entscheidung des EuGH nicht die gesamte höchstrichterliche Rechtsprechung zur deliktischen Haftung des Fahrzeugstellers im Zusammenhang mit einem „Thermofenster“ überholt.
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Zwar dienen Art. 18 Abs. 1, Art. 26 Abs. 1 und Art. 46 der RL 2007/46/EG i.V.m. Art. 5 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 auch dem Schutz der Einzelinteressen des individuellen Käufers eines Kraftfahrzeugs gegenüber dessen Hersteller, wenn dieses Fahrzeug mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestattet ist. Bei Verstoß gegen die genannten unionsrechtlichen Vorschriften kommt daher im Ausgangspunkt ein Anspruch des Käufers gegen den Hersteller aus § 823 Abs. 2 BGB in Betracht. Allerdings hat der EuGH dem Typgenehmigungsrecht ersichtlich keinen Schutzzweck in Bezug auf die wirtschaftliche Dispositionsfreiheit individueller Käufer zugewiesen (vgl. Lutz-Bachmann/André, EuZW 2023, 378, 385; Müller, BB 2023, 851, 852). Die in diesem Kontext ergangene Rechtsprechung des BGH hat daher grundsätzlich weiterhin Gültigkeit (so bspw. auch OLG Hamm, NZV 2023, 174 Rn. 25 f.; OLG Nürnberg, BeckRS 2023, 8575 Rn. 19 ff.; OLG München, BeckRS 2023, 6956 Rn. 25; OLG Brandenburg, BeckRS 2023, 7826 Rn. 12 f.).
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Die Absicht des Klägers ist im Streitfall ausdrücklich und ausschließlich darauf gerichtet, die B AG auf Erstattung des gesamten Kaufpreises, Zug um Zug gegen Rückgabe des Fahrzeugs, in Anspruch zu nehmen. Er möchte – den Wirkungen eines Rücktritts gleich – so gestellt werden, als hätte er das Fahrzeug nicht erworben (Klageschrift, Seite 19). Dies kann jedoch, wie ausgeführt, nach § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. mit den EU-Typengenehmigungsvorschriften nicht verlangt werden. Es ist daher im vorliegenden Zusammenhang unmaßgeblich, ob über die Berechnung eines solchen Schadens nach Ansicht der Klägervertreter „ganz neu nachzudenken sein“ wird.
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Dass ihm ein sonstiger, nach § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. mit den EU-Typengenehmigungsvorschriften erstattungsfähiger Schaden konkret entstanden ist (vgl. hierzu OLG München, BeckRS 2023, 7263 Rn. 11; OLG Dresden, BeckRS 2023, 7824 Rn. 49 f.) und gegenüber der BMW AG geltend gemacht werden soll, hat der Kläger nicht ansatzweise dargelegt. Dies gilt namentlich für die vom Bundesgerichtshof im Rahmen der mündlichen Verhandlung zu den dortigen Verfahren VIa ZR 1031/22 u.a. erwogene „mittlere Lösung“ in Gestalt von Schadensersatz in Höhe der Wertdifferenz gegenüber einem Fahrzeug ohne unzulässige Abschalteinrichtung. Hierzu hat der Kläger nach Grund und Höhe keinerlei Anhaltspunkte vorgetragen. Es ist auch nicht ersichtlich, dass der vom Kläger im Juli 2018 privatautonom vereinbarte und entrichtete Kaufpreis nicht dem objektiven Marktwert des PKW entsprochen hat. Im Übrigen ist das Fahrzeug auf den Namen des Klägers zugelassen. Zu etwaigen Schwierigkeiten bei der Anmeldung, der Inbetriebnahme oder dem Weiterverkauf ist ebenfalls nichts vorgebracht worden. Auch eine Nutzungsbeschränkung oder gar Betriebsuntersagung durch die nationale Typgenehmigungsbehörde, das KBA, ist weder dargelegt worden noch sonst ersichtlich.
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b) Die neuerliche Deckungsanfrage des Klägers vom 24.03.2023 (Anlage KN 1) und die anschließende ablehnende Entscheidung der Beklagten vom 20.04.2023 (Anlage KN 2) sind nicht Gegenstand des Rechtsstreits. Sollte der Kläger dieses Vorbringen als Klageerweiterung verstanden haben wollen, wird diese mit der Zurückweisung der Berufung entsprechend § 524 Abs. 4 ZPO wirkungslos (vgl. BGH, Beschluss vom 06.11.2014 – IX ZR 204/13, NJW 2015, 251 Rn. c) Mit seiner in einem konkreten Einzelfall vorgenommenen Würdigung hat der Senat keinen abstrakten Obersatz aufgestellt, der von obergerichtlichen Entscheidungen zu vergleichbaren Sachverhalten abweicht. Dies gilt sowohl für den maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt als auch für die aus dem Urteil des EuGH vom 21.03.2023 in der Rechtssache C-100/21 zu ziehenden Konsequenzen. Soweit sich das OLG Hamm in seinem Urteil vom 13.04.2023 (Az. 6 U 8/22; Anlage KM 1) auch mit der genannten EuGH-Entscheidung befasst, bleibt unklar, ob es sich hierbei um tragende Entscheidungsgründe handelt und welche „entsprechende Anspruchsbegründung“ (Anlage KM 1, Seite 11 unten) in dem dortigen Verfahren vorlag.
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Der Senat schließt es aus, dass eine mündliche Verhandlung in dieser Sache neue entscheidungserhebliche rechtliche Gesichtspunkte zu Tage fördert, die bislang unberücksichtigt geblieben sind. Er sieht daher keine Veranlassung, von dem Beschlussverfahren nach § 522 Abs. 2 ZPO Abstand zu nehmen.
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2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO. Die Feststellung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit des angefochtenen Urteils erfolgte gemäß §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO.
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3. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wurde in Anwendung der §§ 47 Abs. 1 und 2, 48 Abs. 1, 43 Abs. 1 GKG bestimmt.