Titel:
Innenausgleich bei Gespannunfall: Keine Erhöhung der Betriebsgefahr des Anhängers bei "schlichtem" Entladevorgang
Normenketten:
VVG § 78 Abs. 3
StVG § 19 Abs. 4
Leitsätze:
Ein nicht mit besonderen Risiken verbundener Entladevorgang des Anhängers führt nicht zu einer Erhöhung des Betriebsgefahr des Zugfahrzeugs. Es bleibt bei der gesetzlichen Regelung des § 19 Abs. 4 S. 2 StVG , nach der im Innenverhältnis der Halter des Zugfahrzeugs verpflichtet ist. (Rn. 11 und 18)
Aus der Entstehungsgeschichte der § 78 Abs. 3 VVG, § 19 Abs. 4 StVG ergibt sich, dass im Regelfall eine Inanspruchnahme des Halters und damit des Versicherers des Anhängers im Innenverhältnis zwischen Halter von Zugmaschine und Anhänger ausscheidet. Ein Ausnahmefall der Erhöhung der Betriebsgefahr des Anhängers, wie ein technischer Defekt des Anhängers oder dessen außergewöhnliche Beschaffenheit (Überlänge, Überbreite, Schwertransport etc.) liegt auch dann nicht vor, wenn sich der Unfall beim Entladen des Anhängers ereignet, selbst wenn der den Unfall verursachende Führer der Zugmaschine zugleich Führer des Anhängers war. (Rn. 17 und 18) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Mehrfachversicherung, Zugfahrzeug, Anhänger, Entladevorgang, Betriebsgefahr, Innenausgleich
Vorinstanz:
LG Augsburg, Endurteil vom 20.01.2023 – 124 O 2481/22
Fundstellen:
VersR 2023, 1027
MDR 2023, 1112
LSK 2023, 12443
BeckRS 2023, 12443
Tenor
Der Senat beabsichtigt, die Berufung gegen das Urteil des Landgerichts Augsburg vom 20.01.2023, Az. 124 O 2481/22, gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen.
Hierzu besteht Gelegenheit zur Stellungnahme binnen drei Wochen nach Zustellung dieses Hinweises.
Entscheidungsgründe
1
Die Parteien sind Haftpflichtversicherer, die um Regressansprüche streiten.
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Die Klägerin hat als Haftpflichtversicherer des Anhängers mit dem Kennzeichen … einen Schaden in Höhe von 6.517,71 € reguliert, der entstanden ist, als am 15.10.2021 in A. bei Entladen des Anhängers Hartplastik-Styproporplatten auf die Fahrbahn fielen und einen auf der Straße im Stau stehenden PKW beschädigten. Sie fordert von der Beklagten als Haftpflichtversicherer des Zugfahrzeugs mit dem Kennzeichen …19 den Ersatz ihrer Aufwendungen.
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Das Landgericht Augsburg hat der Klage mit Endurteil vom 20.01.2023 stattgegeben, da gemäß § 19 Abs. 4 S. 2 StVG die Beklagte im Innenverhältnis allein hafte.
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Dagegen wendet sich die Beklagte mit der Berufung, mit der sie die Abänderung des Urteils und die Abweisung der Klage beantragt. Sie ist der Ansicht, dass eine Haftung des Zugfahrzeughalters über die Ausnahmevorschrift des § 19 Abs. 4 S. 3 StVG ausgeschlossen sei, da allein die zuvor im Anhänger befindliche Ladung unfallursächlich gewesen sei.
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Die Klägerin verteidigt das angefochtene Urteil und beantragt die Zurückweisung der Berufung.
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Der Senat ist einstimmig der Auffassung, dass die Berufung offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat, der Rechtssache auch keine grundsätzliche Bedeutung zukommt und weder die Fortbildung des Rechts noch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts erfordert. Auch die Durchführung einer mündlichen Verhandlung über die Berufung ist nicht geboten.
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1. Die Parteien stimmen darin überein, dass die landgerichtliche Entscheidung dem gesetzlichen Regelfall entspricht. Wenn eine Mehrfachversicherung dadurch entsteht, dass Zugfahrzeug und Anhänger bei verschiedenen Versicherungen haftpflichtversichert sind, ist im Innenverhältnis nach § 78 Abs. 3 VVG i. V. m. § 19 Abs. 4 S. 2 StVG in der Fassung des Gesetzes vom 10.07.2020 (BGBl. I S. 1653) der Halter – und damit auch der Haftpflichtversicherer – des Zugfahrzeugs allein zur Zahlung verpflichtet.
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2. Das Landgericht Augsburg hat zutreffend entschieden, dass im vorliegenden Fall die Ausnahme nach § 19 IV S. 3 StVG nicht eingreift.
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a) Die Ausnahme setzt voraus, dass sich durch den Anhänger eine höhere Gefahr verwirklicht hat als durch das Zugfahrzeug allein, wobei nach S. 4 das Ziehen des Anhängers allein im Regelfall keine höhere Gefahr verwirklicht.
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Bereits nach dem Wortlaut liegen die Voraussetzungen für diese Ausnahmeregelung nicht vor.
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Sowohl das Zugfahrzeug als auch der Anhänger waren ordnungsgemäß am Rand der Straße in A. abgestellt. Beim Entladen hat sich keine besondere Betriebsgefahr des Anhängers verwirklicht. Dieser war – ebenso wie das Zugfahrzeug – in technisch einwandfreiem Zustand. Das Entladen eines Anhängers stellt keine gefahrerhöhende Tätigkeit dar. Es ist auch nicht ersichtlich, dass das Entladen des Anhängers gefährlicher wäre als das Entladen des Zugfahrzeugs. Der Fahrer des LKWs hat im Fragebogen der Klägerin die Frage „Wer hat den Schaden verursacht?“ beantwortet mit: „Ich selber bzw. die Styroporplatten“ (vgl. Anlage K2).
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b) Die Entstehungsgeschichte der §§ 78 Abs. 3 VVG, 19 Abs. 4 StVG zeigt, dass eine weite Auslegung der Ausnahmevorschrift in § 19 Abs. 4 S. 3 StVG nicht dem Willen des Gesetzgebers entspräche.
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Eine Halterhaftung für Anhänger wurde erstmals durch das Zweite Gesetz zur Änderung schadensrechtlicher Vorschriften vom 19.07.2002 in § 7 StVG eingefügt. Sie wurde nicht nur mit einer Erhöhung der von einem Kraftfahrzeug ausgehenden Betriebsgefahr durch die Verwendung von Anhängern begründet, sondern auch damit, dass in zunehmendem Maße Verkehrsunfälle zu beobachten seien, bei denen den Geschädigten zur Identifizierung des Schädigers nur das Kennzeichen des Anhängers, nicht aber das des Zugfahrzeugs bekannt sei. In der Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung (BT-Drucksache 14/7752, S. 30) wurde ausgeführt, die Regelung belaste den Halter des Anhängers auch nicht unverhältnismäßig. „Ist der Schaden ausschließlich durch das Zugfahrzeug oder dessen Führer verursacht worden, sichern ihm die insoweit ergänzten §§ 17 Abs. 2 und 18 Abs. 3 StVG (vgl. dazu unten Begründung zu Artikel 4 Nr. 8 und 9) ein Rückgriffsrecht im Innenverhältnis. Letztendlich soll in solchen Fällen der Halter des Anhängers nicht den Schaden tragen, der durch das Zugfahrzeug oder dessen Führer verursacht wurde und in denen sich die Betriebsgefahr des Anhängers nicht realisiert hat.“
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Entgegen dieser Erwartung hat der BGH jedoch 2010 entschieden, dass bei der Doppelversicherung eines Gespanns aus einem Kraftfahrzeug und einem versicherungspflichtigen Anhänger im Regelfalle nach einem durch das Gespann verursachten Schaden der Haftpflichtversicherer des Kraftfahrzeugs und der des Anhängers den Schaden im Innenverhältnis je zur Hälfte zu tragen haben (BGH, Urteil vom 27. 10. 2010 – IV ZR 279/08 –, BGHZ 187, 211-220).
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In der Folgezeit legte die Bundesregierung den Entwurf eines Gesetzes zur Haftung bei Unfällen mit Anhängern und Gespannen im Straßenverkehr vor, da die Rechtsprechung des BGH in der Praxis zu einer (unerwünschten) Steigerung der Versicherungsprämien für die Anhängerhaftpflichtversicherung führe und erhebliche Probleme bei der Abrechnung mit Anhängerhaltern und ihren Versicherern aus Staaten aufweise, deren Rechtsordnungen eine Pflichtversicherung für Anhänger nicht vorsähen (BT-Drucksache 19/17964, vgl. auch Müller, SVR 2021, 81). Aufgrund dieses Entwurfes wurden die heutigen §§ 78 Abs. 3 VVG, 19 Abs. 4 StVG eingeführt. In der Begründung führte die Bundesregierung aus, dass sich der mit dem Zugfahrzeug verbundene Anhänger im Regelfall nicht auf die Schadensentstehung auswirke. Weiter heißt es:
„Seine Grenze findet dieser Regelfall, wenn ausnahmsweise der verbundene Anhänger einmal zu einer Erhöhung der Betriebsgefahr des Zugfahrzeugs geführt hat. Dies gilt insbesondere in den Fällen, in denen sich ein technischer Defekt des Anhängers unfallursächlich ausgewirkt hat.“(a. a.O., S. 17).
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Der ebenfalls Gesetz gewordene S. 4 des § 19 Abs. 4 StVG bekräftigt noch, dass allein das Ziehen des Anhängers im Regelfall nicht die Gefahr in der Weise erhöht, dass sie höher ist als die des Zugfahrzeugs allein.
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Die Entstehungsgeschichte der §§ 78 Abs. 3 VVG, 19 Abs. 4 StVG zeigt, dass es dem Gesetzgeber darauf ankam, im Regelfall eine Inanspruchnahme des Halters und damit des Versicherers des Anhängers im Innenverhältnis auszuschließen. Einer der genannten Ausnahmefälle der Erhöhung der Betriebsgefahr, wie ein technischer Defekt des Anhängers oder dessen außergewöhnliche Beschaffenheit (Überlänge, Überbreite, Schwertransport etc.; vgl. BT-Drucksache a.a.O. S. 17, B.weg/Wächter, NZV 2020, 545) liegt nicht vor.
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Dass der Unfall sich beim Entladen des Anhängers ereignete, genügt ebenso wenig wie der Umstand, dass der Führer der Zugmaschine, dem das Missgeschick unterlief, zugleich der Führer des Anhängers war, um eine Verwirklichung einer höheren Gefahr als durch das Zugfahrzeug allein anzunehmen. Daher muss es auch in Anbetracht des Gesetzeszwecks der Neuregelung im Gesetz vom 10.07.2020 beim Regelfall der Alleinhaftung des Halters (und damit des Versicherers) der Zugmaschine im Innenverhältnis bleiben, wie es das Landgericht richtig erkannt hat.
19
Da die Berufung keine Aussicht auf Erfolg hat, legt das Gericht aus Kostengründen die Rücknahme der Berufung nahe. Im Falle der Berufungsrücknahme ermäßigen sich die Gerichtsgebühren von 4,0 auf 2,0 Gebühren (vgl. Nr. 1222 des Kostenverzeichnisses zum GKG).