Inhalt

VG München, Beschluss v. 22.05.2023 – M 10 E 23.2433
Titel:

Aufhebung der einstweiligen Anordnung wegen veränderter Umstände (verneint), Ablauf der Vollziehungsfrist gemäß § 929 Abs. 2 Satz 1 ZPO (verneint)

Normenketten:
VwGO § 123
VwGO analog § 80 Abs. 7
ZPO § 929 Abs. 2 S. 1
Leitsätze:
1. Es erscheint zweifelhaft, ob sich der Beigel. auf den Ablauf der Vollziehungsfrist nach § 929 Abs. 2 S. 1 ZPO, der gem. § 123 Abs. 3 VwGO anwendbar ist, berufen kann und damit antragsbefugt ist. Denn der Beigel. ist nicht Vollstreckungsschuldner. (redaktioneller Leitsatz)
2. Wird in einer einstweiligen Anordnung der Tenor dahingehend gefasst, eine begehrte Unterlage sei eine Woche nach Rechtskraft des Beschlusses herauszugeben, beginnt die Vollziehungsfrist erst eine Woche nach Rechtskraft des Beschlusses zu laufen. (redaktioneller Leitsatz)
3. Hat alleine der Beigel. durch die Beschwerdeeinlegung den Eintritt der Rechtskraft des Beschlusses hinausgeschoben und beruft er sich nun auf den Ablauf der Vollziehungsfrist des § 929 Abs. 2 S. 1 ZPO, dürfte eine Sondersituation vorliegen, in der die Vollziehungsfrist aufgrund der Beschwerdeeinlegung mit der Zustellung der Beschwerdeentscheidung erneut zu laufen beginnt. (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Aufhebung der einstweiligen Anordnung wegen veränderter Umstände (verneint), Ablauf der Vollziehungsfrist gemäß § 929 Abs. 2 Satz 1 ZPO (verneint), Einstweilige Verfügung
Fundstellen:
LSK 2023, 12311
ZGI 2023, 197
BeckRS 2023, 12311

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Beigeladene hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert wird auf 5.000 EUR festgesetzt.

Gründe

I.
1
Der Beigeladene begehrt die Aufhebung des verwaltungsgerichtlichen Beschlusses vom 14. März 2023 wegen veränderter Umstände.
2
Mit Beschluss vom 14. März 2023 (M 10 E 22.6192) verpflichtete die Kammer den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 Satz 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO), dem Antragsteller eine Woche nach Rechtskraft des Beschlusses Auskunft über den gegen den Beigeladenen gerichteten Strafbefehl des Amtsgerichts Erding vom 4. November 2022 durch Übersendung einer anonymisierten und im Hinblick auf etwaige persönliche Angaben geschwärzten Kopie des Strafbefehls zu erteilen. Die dagegen eingelegte Beschwerde des Beigeladenen wurde mit Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (VGH) vom 15. Mai 2023 zurückgewiesen (7 CE 23.666). Auf die Beschlüsse wird Bezug genommen.
3
Der Beigeladene hat mit Schriftsatz seiner Bevollmächtigten vom 17. Mai 2023, eingegangen bei dem Verwaltungsgericht München am gleichen Tag, gemäß § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. §§ 929 Abs. 2 Satz 1, 927 Zivilprozessordnung (ZPO) beantragt,
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die mit Beschluss vom 14. März 2023 erlassene einstweilige Anordnung zum Aktenzeichen M 10 E 22.6192 aufzuheben und die Vollstreckung der einstweiligen Anordnung bis zur rechtskräftigen Entscheidung im Aufhebungsverfahren einstweilen einzustellen.
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Zur Begründung wird vorgetragen, die einstweilige Verfügung vom 14. März 2023 sei gemäß § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 929 Abs. 2 Satz 1 ZPO zu vollziehen. Die Vollziehungsfrist von einem Monat beginne mit Zustellung des Titels an den Vollstreckungsgläubiger. Nach Informationen des Beigeladenen sei gegenüber dem Antragsgegner keine Vollziehungs-Zustellung erfolgt. Mangels ordnungsgemäßer Vollziehung der einstweiligen Anordnung sei die einstweilige Anordnung daher aufzuheben. Aus diesem Grund sei auch die Vollstreckung der einstweiligen Anordnung einstweilen einzustellen. Die (aufgrund der im Beschluss vom 14.3.2023 gesetzten einwöchigen Frist) am 22. Mai 2023 drohende Herausgabe des anonymisierten Strafbefehls würde für den Beigeladenen nicht mehr rückgängig zu machende nachteilige Folgen haben.
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Die Bevollmächtigten des Antragstellers und der Antragsgegner haben mit Schriftsätzen vom 22. Mai 2023 zum Verfahren Stellung genommen, ohne einen Antrag zu stellen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte, auch im Verfahren M 10 E 22.6192, Bezug genommen.
II.
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Der Antrag bleibt ohne Erfolg.
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1. Der gestellte Antrag nach § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. §§ 929 Abs. 2 Satz 1, 927 ZPO ist nach dem erkennbaren Rechtsschutzbegehren des Beigeladenen (§ 122 Abs. 1, § 88 VwGO) zu verstehen als Antrag auf Aufhebung des gerichtlichen Beschlusses vom 14. März 2023 (M 10 E 22.6192) wegen veränderter Umstände nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO analog. Nach dem eindeutigen Wortlaut des § 123 Abs. 3 VwGO ist § 927 ZPO nicht anwendbar, ohne dass darin ein genereller Ausschluss des Änderungsverfahrens zu sehen ist. Vielmehr bezieht sich der Ausschluss der Anwendbarkeit des § 927 ZPO (lediglich) auf die dort geregelten verfahrensrechtlichen Fragen, so dass § 80 Abs. 7 VwGO analog zur Anwendung kommt (vgl. hierzu: Happ in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 123 Rn. 77).
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2. Es ist bereits fraglich, ob der so verstandene Antrag zulässig ist. Es erscheint jedenfalls zweifelhaft, ob sich der Beigeladene auf den Ablauf der Vollziehungsfrist nach § 929 Abs. 2 Satz 1 ZPO, der gemäß § 123 Abs. 3 VwGO anwendbar ist, berufen kann und damit antragsbefugt ist. Denn der Beigeladene ist nicht Vollstreckungsschuldner; Vollstreckungsschuldner ist vielmehr der Antragsgegner. § 929 Abs. 2 Satz 1 ZPO dient jedoch dem Schutz des Vollstreckungsschuldners. Gemäß § 929 Abs. 2 Satz 1 ZPO ist die Vollziehung des Arrestbefehls unstatthaft, wenn seit dem Tag, an dem der Befehl verkündet oder der Partei, auf deren Gesuch er erging, zugestellt ist, ein Monat verstrichen ist. Die Vorschrift soll sicherstellen, dass die Vollziehung nicht erst zu einem späteren Zeitpunkt unter dann gegebenenfalls veränderten Umständen erfolgt. Zudem soll der Vollstreckungsschuldner nicht über Gebühr darüber im Unklaren gelassen werden, ob der Vollstreckungsgläubiger von dem Titel noch Gebrauch machen will. Diese Schutzziele greifen auch im Verwaltungsprozess (vgl. OVG NW, B.v. 29.6.2017 – 15 B 200/17 – juris Rn. 8; s. auch: Drescher in Münchener Kommentar zur ZPO, 6. Aufl. 2020, § 929 ZPO Rn. 1).
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3. Jedenfalls ist der Antrag unbegründet, da veränderte Umstände im Sinne des § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO analog weder vorgetragen noch erkennbar sind. Derartige Umstände ergeben sich insbesondere nicht aufgrund des geltend gemachten Ablaufs der Vollziehungsfrist nach § 929 Abs. 2 Satz 1 ZPO, der zur Unstatthaftigkeit der Vollziehung der einstweiligen Anordnung vom 14. März 2023 und damit zu einem Aufhebungsanspruch führen würde.
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Die Vollziehungsfrist gemäß § 929 Abs. 2 Satz 1 ZPO ist im vorliegenden Fall nicht abgelaufen. Aufgrund der Tenorierung in der einstweiligen Anordnung vom 14. März 2023, der anonymisierte Strafbefehl sei eine Woche nach Rechtskraft des Beschlusses herauszugeben, beginnt die Vollziehungsfrist erst eine Woche nach Rechtskraft des Beschlusses zu laufen. Insoweit ist der Anlauf der Vollziehungsfrist gehemmt. Aufgrund dieser Tenorierung ist eindeutig klar, dass eine Herausgabe des anonymisierten Strafbefehls und damit die Vollziehung des Beschlusses vor Ablauf von einer Woche nach Rechtskraft des Beschlusses nicht zulässig ist. Insoweit passt auch zum gegenwärtigen Zeitpunkt die oben beschriebene Ratio des § 929 Abs. 2 Satz 1 ZPO auf den vorliegenden Fall nicht. Der Vollstreckungsschuldner, hier der Antragsgegner, kann sich derzeit noch nicht im Unklaren darüber befinden, ob der Vollstreckungsgläubiger von der einstweiligen Anordnung (noch) Gebrauch machen will.
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Vor diesem Hintergrund ist die einmonatige Vollziehungsfrist nach § 929 Abs. 2 Satz 1 ZPO noch nicht abgelaufen, selbst wenn man für den Anlauf der Frist bereits auf die Rechtskraft des Beschlusses abstellen würde. Denn die Rechtskraft des Beschlusses trat erst mit der Zustellung des die Beschwerde zurückweisenden Beschlusses des VGH vom 15. Mai 2023 an die Beteiligten ein.
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Im Übrigen dürfte in der vorliegenden Konstellation, in der (alleine) der Beigeladene durch die Beschwerdeeinlegung den Eintritt der Rechtskraft des Beschlusses vom 14. März 2023 hinausgeschoben hat, sich nun aber auf den Ablauf der Vollziehungsfrist des § 929 Abs. 2 Satz 1 ZPO beruft, eine Sondersituation vorliegen, in der die Vollziehungsfrist gemäß § 929 Abs. 2 Satz 1 ZPO aufgrund der Beschwerdeeinlegung mit der Zustellung der Beschwerdeentscheidung erneut zu laufen beginnt (vgl. zu dieser Möglichkeit: Happ in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 123 Rn. 83; Kuhla in Posser/Wolff/Decker, BeckOK VwGO, 65. Ed. 1.7.2022, § 123 VwGO Rn. 180.1 jeweils unter Verweis auf OVG RhPf, B.v. 21.11.2013 – 6 B 11027/13 – juris zur unionsrechtlich gebotenen Vollstreckung gegen die öffentliche Hand; zurückhaltender: Schoch in ders./Schneider, Verwaltungsrecht, 43. EL August 2022, § 123 VwGO Rn. 172b; OVG NW, B.v. 29.6.2017 – 15 B 200/17 – juris Rn. 16; OVG NW, B.v. 23.7.2020 – 5 B 1391/19 – juris).
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4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Dem Beigeladenen werden die Kosten auferlegt, da er den Antrag gestellt hat, § 154 Abs. 3 VwGO. Die Streitwertfestsetzung folgt aus §§ 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 2 GKG i.V.m. Nr. 1.5 Satz 2 des Streitwertkatalogs 2013.