Inhalt

VG München, Urteil v. 16.02.2023 – M 11 K 19.1991
Titel:

Im Vorbescheidsverfahren erklärte Abstandsflächenübernahme

Normenkette:
BayBauO Art. 6
Leitsätze:
1. Im Rahmen der Nachbarklage kommt eine Aufhebung der Baugenehmigung nicht allein wegen objektiver Rechtswidrigkeit in Betracht, sondern nur, wenn dritt- oder nachbarschützende Normen verletzt sind, sodass im gerichtlichen Verfahren keine umfassende Rechtmäßigkeitskontrolle stattfindet; die Prüfung hat sich vielmehr darauf zu beschränken, ob durch die angefochtene Baugenehmigung drittschützende Vorschriften, die dem Nachbarn einen Abwehranspruch gegen das Vorhaben vermitteln, verletzt sind. (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)
2. Zwar kann eine im Rahmen eines Vorbescheidsverfahrens erklärte Abstandsflächenübernahme dem Grunde nach auch dann im Rahmen eines späteren, an den erteilten Vorbescheid anknüpfenden Baugenehmigungsverfahrens beachtlich sein, wenn das Abstandsflächenrecht zum Zeitpunkt der Vorbescheidserteilung nicht Prüfungsgegenstand des vereinfachten Baugenehmigungsverfahrens war; zugleich ist aber zu beachten, dass das Bestehen einer isolierten Abstandsflächenübernahme nicht möglich ist und eine im Rahmen des Vorbescheidsverfahrens abgegebene Übernahmeerklärung daher erlischt, wenn von dem Vorbescheid kein Gebrauch gemacht oder aber die Erteilung des Vorbescheids abgelehnt wird. (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)
3. Bei der Erklärung einer Abstandsflächenübernahme im Rahmen eines Vorbescheidsverfahrens ist besonderes Augenmerk darauf zu legen, dass die Übernahmeerklärung auf ein konkretes Bauvorhaben beschränkt ist. (Rn. 19) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Nachbarklage, Baugenehmigung, Abstandsflächenübernahme im Rahmen eines vorangegangenen Vorbescheids, wesentliche Änderung des Vorhabens (bejaht), Drittschutz, Abstandsflächen, Abstandsflächenübernahme, Vorbescheid, wesentliche Änderung
Fundstelle:
BeckRS 2023, 12309

Tatbestand

1
Der Kläger wendet sich als – vormaliger – Eigentümer des Grundstücks Fl.Nr. … der Gemarkung … im Wege der Nachbarklage gegen eine der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung für den Neubau eines Wohnhauses auf dem nördlich angrenzenden Vorhabengrundstück Fl.Nr. … Die auf beiden Grundstücken vormals befindlichen Wohngebäude wurden zwischenzeitlich abgerissen.
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Im Rahmen eines der streitgegenständlichen Baugenehmigung vorangegangenen Vorbescheidsverfahrens des Rechtsvorgängers der Beigeladenen legte dieser zunächst eine seitens des Rechtsvorgängers des Klägers unterschriebene, im Rahmen des Fragenkatalogs als „Absichtserklärung“ bezeichnete Erklärung vom 30. Januar 2015 betreffend eine Abstandsflächenübernahme vor und reichte in der Folge eine von dem Rechtsvorgänger des Klägers unter dem 24. Juli 2015 unterschriebene Abstandsflächenübernahme nach, welche am 4. August 2015 beim Landratsamt … (Landratsamt) einging.
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Mit Schreiben vom 24. Februar 2016 wandte sich der Kläger als eingetragener Erbe des früheren Eigentümers des Grundstücks Fl.Nr. … an das Landratsamt und teilte mit, dass das Vorhaben von den bei der Abstandsflächenübernahme unterzeichneten Plänen abweiche und dem nicht zugestimmt werde. Mit Schreiben vom 2. März 2016 zeigte der Bevollmächtigte die anwaltliche Vertretung des Rechtsvorgängers des Klägers an und teilte mit Schreiben vom 4. März 2016 mit, er gehe davon aus, dass das Abstandsflächenrecht nicht Gegenstand des Vorbescheidsverfahrens sei. Mit zwei Schreiben vom 15. März 2016 widerrief der Klägerbevollmächtigte gegenüber dem Landratsamt die Zustimmungen zur Abstandsflächenübernahme vom 30. Januar 2015 und 24. Juli 2015.
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Gegen den dem vormaligen Bauwerber auf Grundlage des Art. 59 BayBO (i.d.F. vom 1. August 2009 bis zum 31. August 2018) erteilten Vorbescheid vom 16. Juni 2016 erhob der Rechtsvorgänger des Klägers Klage (Az. M 11 K 16.3185), welche nach dessen Tod von dem Kläger fortgesetzt wurde. Mit rechtkräftigem Urteil vom 17. Mai 2018 hob die Kammer den Vorbescheid vom 16. Juni 2016 auf, soweit darin Feststellungen zur abstandsflächenrechtlichen Zulässigkeit des Vorhabens getroffen wurden. Wegen der Einzelheiten wird auf die Urteilsgründe Bezug genommen.
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Unter dem 22. Februar 2018 beantragte die Beigeladene die Erteilung einer Baugenehmigung für den Neubau eines Wohnhauses mit Garagen und Stellplätzen auf Basis des Vorbescheids vom 16. Juni 2016, wobei den Antragsunterlagen die Übernahmeerklärungen vom 30. Januar 2015 und vom 24. Juli 2015 in Kopie beigefügt wurden. Ausweislich der vorgelegten Eingabeplanung ist im Bereich der südwestlichen und südöstlichen Gebäudeecke des geplanten Wohngebäudes im 1. OG jeweils ein Balkon mit einer Tiefe von jeweils 3 m und einer Breite von jeweils 3,25 m vorgesehen.
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Mit Bescheid vom 2. April 2019 erteilte das Landratsamt dem Beigeladenen die begehrte Baugenehmigung. In den Gründen des Bescheids wurde u.a. auf die Einwände der Klagepartei im Rahmen des behördlichen Verfahrens eingegangen und im Wesentlichen ausgeführt, dass eine wirksame Abstandsflächenübernahme mit den Erklärungen des vormaligen Eigentümers des Grundstücks Fl.Nr. … vom 30. Januar 2015 und 24. Juli 2015 vorliege, die durch das Schreiben vom 15. März 2016 auch nicht wirksam widerrufen worden seien. Ein Widerruf könne nur bis zum Eingang der Erklärung bei der Bauaufsichtsbehörde erfolgen, nicht jedoch bis zur Erteilung der Baugenehmigung. Ein Hinweis auf einen Irrtum, eine arglistige Täuschung oder eine Drohung als Widerrufsgrund sei nicht gegeben. Dahinstehen könne, ob die ursprüngliche Abstandsflächenübernahmeerklärung vom 30. Januar 2015 den erforderlichen Formvorschriften genügt habe; mit Vorlage der zweiten Erklärung vom 24. Juli 2015 seien die Formerfordernisse (Verwendung des einschlägigen Formulars und Vorlage eines Plans mit den erforderlichen Abstandsdarstellungen, einschließlich Unterschrift) erfüllt. Die Abstandsflächenübernahmeerklärung habe bereits wirksam während des Vorbescheidsverfahrens abgegeben werden können. Im Urteil vom 17. Mai 2018 habe das Gericht zwar für Recht erkannt, dass im Vorbescheid keine Feststellungen zur positiven abstandsflächenrechtlichen Zulässigkeit hätten getroffen werden dürfen; nichtsdestotrotz sei eine Prüfung und ggf. Ablehnung des Vorbescheidsantrags wegen Verstoßes gegen Abstandsflächenrecht ausdrücklich bejaht worden. Es sei alltäglich, dass ein kundiger Bauherr eine Abstandsflächenübernahmeerklärung bereits im Vorbescheidsverfahren einreiche, um eine Ablehnung für ein Bauvorhaben zu verhindern, welches die Abstandsflächen auf dem eigenen Grundstück offensichtlich nicht einhalten könne. Insbesondere wenn die erforderlichen Abstandsflächen wie im vorliegenden Fall ohne die Übernahme augenscheinlich nicht eingehalten werden könnten, könne daher nicht von einer „auf Vorrat abgegebenen“ Erklärung die Rede sein. Wenn der Bauherr daher zur Erlangung eines positiven Vorbescheids in Anbetracht von Art. 68 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 BayBO eine Abstandsflächenübernahmeerklärung vorlegen müsse, sei seine Interessenlage nicht anders zu beurteilen, als bei einem Bauantrag. Die ständige Rechtsprechung zur Widerrufbarkeit von Abstandsflächenübernahmeerklärungen in Baugenehmigungsverfahren basiere auf dem Rechtsfrieden und dem Vertrauensschutz des Bauherrn, der sich auf die ihm gegebene Zusage ab Eingang bei der Behörde verlassen könne und müsse (§ 130 Abs. 1 Satz 2 BGB). Das gleiche gelte für den Vorbescheid, der einzelne Fragen abschließend klären solle. Er sei damit Teil der späteren Baugenehmigung und verdiene in diesen Teilen, die ohnehin oft alle Kernfragen beinhalten würden, als „Teil-Bescheid“ den gleichen Schutz wie die Baugenehmigung. Nach Art. 59 BayBO a.F. sei der Antragsteller auch im Baugenehmigungsverfahren dem Risiko ausgeliefert gewesen, dass die Behörde die Abstandsflächen nach Art. 68 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 BayBO prüfe. Der fehlende gesetzliche Pflichtprüfungsumfang schade daher nicht, da die Rechtsprechung diesbezüglich im Baugenehmigungsverfahren zu Recht nicht zwischen Art. 59 und Art. 60 BayBO beim Widerruf einer Abstandsflächenübernahmeerklärung differenziert habe. Für eine im Vorbescheidsverfahren abgegebene Abstandsflächenübernahmeerklärung ende die Widerrufsmöglichkeit mit Eingang bei der Behörde, sodass der Widerruf zu spät erfolgt sei. Zwar seien zwischen der Planung im Vorbescheidsverfahren und der tatsächlichen Eingabeplanung im Rahmen des Bauantrags Änderungen vorgenommen worden. Diese seien aber von der erteilten Abstandsflächenübernahmeerklärung nach wie vor abgedeckt. Die vorgenommenen Änderungen würden sich auf kleine, unbedeutende Änderungen der Garagen, die Errichtung von zwei Balkonen, die Errichtung abstandsflächenneutraler Gauben und die Verminderung der Wandhöhe des Gebäudes von 6,5 m auf 6,25 m beziehen. Da die vorgenommenen Änderungen die Abstandsflächenfrage nicht völlig neu aufwerfen würden, handele es sich nach natürlicher Betrachtungsweise immer noch um ein einheitliches Vorhaben, für das die vereinbarte Abstandsflächenübernahme weiter gelte. Entscheidend sei lediglich, dass die baulichen Änderungen die durch die Abstandsflächenübernahme gesetzten Grenzen nicht überschreiten würden. Der Bescheid wurde der Klagepartei am 3. April 2019 und der Beigeladenen am 5. April 2019 zugestellt.
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Der Kläger hat durch seinen Bevollmächtigten am 26. April 2019 Klage erhoben. Er beantragt,
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die mit Bescheid des Landratsamts … vom 2. April 2019 erteilte Baugenehmigung aufzuheben.
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Zur Begründung wurde mit Schriftsatz des Klägerbevollmächtigten vom 4. Februar 2020 ein Verstoß gegen Abstandsflächenrecht gerügt. Eine wirksame Zustimmung zur Abstandsflächenübernahme liege nicht vor, da die vom Rechtsvorgänger des Klägers abgegebenen Zustimmungen vom Kläger rechtzeitig widerrufen worden seien. Dies wurde näher ausgeführt. Davon abgesehen sei das gegenständliche Vorhaben nicht von den Abstandsflächenübernahmen gedeckt. Die Zustimmungserklärung vom 30. Januar 2015 könne schon deshalb keine rechtliche Wirkung entfalten, weil sie nicht auf dem zwingend zu verwendenden Vordruck erfolgt sei; zudem sei sie unbestimmt, da sich ihr nicht entnehmen lasse, welche Abstandsfläche hinsichtlich welches konkret bezeichneten Vorhabens übernommen werde. Ebenso entfalte die Zustimmungserklärung vom 20. Juli 2015 keine Wirkung, weil sich das in der Erklärung dargestellte Vorhaben und das streitgegenständliche Vorhaben nicht entsprechen würden. Es sei allgemein anerkannt, dass die Abstandsflächenübernahme auf ein konkretes Bauvorhaben, nämlich das in der Zustimmungserklärung dargestellte Bauvorhaben, beschränkt sei. Das streitgegenständliche Bauvorhaben sei im Vergleich zu dem in der Zustimmungserklärung dargestellten Vorhaben keinesfalls nur geringfügig geändert worden. Ausweislich der genehmigten Eingabeplänen werde die ca. 13,99 m lange Außenwand des Vorhabens durch den westlichen und östlichen Anbau der Balkone erheblich erweitert. Angesichts der Ausmaße der Balkone handle es sich nicht mehr nur um abstandsflächenrechtlich untergeordnete Vorbauten. Die südliche Außenwand des geplanten Gebäudes und die in einer Flucht hierzu verlaufenden Balkone würden eine „fiktive“ Außenwand mit einer Länge von 19,99 m bilden, die dem Grundstück des Klägers gegenüberliege. Im Vergleich dazu weise die in der Zustimmungserklärung dargestellte südliche Außenwand eine Länge von 16 m auf. Da sich die Abstandsflächenübernahme stets auf ein konkretes Vorhaben beziehe, sei diese Darstellung maßgeblich. Die Außenwand des Vorhabens sei durch den Anbau der Balkone damit erheblich verlängert worden; von einer unbedeutenden Änderung des Bauvorhabens könne deshalb keine Rede sein. Die durch die Zustimmung zur Abstandsflächenübernahme gesetzten Grenzen (Bauvorhaben mit einer abstandsflächenrechtlich relevanten südlichen Außenwand von maximal 16 m Länge) würden überschritten. Das veränderte Bauvorhaben sei daher nicht mehr von der Zustimmungserklärung vom 24. Juli 2015 erfasst, sodass Art. 6 Abs. 2 Satz 3 BayBO nicht einschlägig sei.
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Das Landratsamt und die Beigeladene haben sich im Verfahren schriftsätzlich nicht inhaltlich geäußert und beantragen jeweils,
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die Klage abzuweisen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und Behördenakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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I. Die Klage ist zulässig und begründet.
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Die angefochtene Baugenehmigung vom 2. April 2019 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Dabei ist zu berücksichtigen, dass im Rahmen der Nachbarklage eine Aufhebung der Baugenehmigung nicht allein wegen objektiver Rechtswidrigkeit in Betracht kommt, sondern nur, wenn dritt- oder nachbarschützende Normen verletzt sind. Dementsprechend findet im gerichtlichen Verfahren keine umfassende Rechtmäßigkeitskontrolle statt. Die Prüfung hat sich vielmehr darauf zu beschränken, ob durch die angefochtene Baugenehmigung drittschützende Vorschriften, die dem Nachbarn einen Abwehranspruch gegen das Vorhaben vermitteln, verletzt sind (zur sog. Schutznormtheorie vgl. etwa Happ in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 42, Rn. 89 ff.).
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Die Baugenehmigung vom 2. April 2019 verstößt gegen drittschützendes Abstandsflächenrecht. Das genehmigte Vorhaben hält unstrittig nicht die erforderlichen Abstandsflächen zum Grundstück Fl.Nr. … ein und wäre daher nur rechtmäßig, wenn die im Rahmen des vorangegangenen Vorbescheidsverfahrens seitens des Rechtsvorgängers des Klägers erklärte Abstandsflächenübernahme vom 24. Juli 2015 wirksam und das genehmigte Vorhaben von dieser umfasst wäre. Zumindest letzteres ist vorliegend nicht der Fall.
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1. Vorliegend kann offenbleiben, ob die Abstandsflächenübernahme ursprünglich überhaupt wirksam erklärt oder in der Folge wirksam widerrufen wurde. In Hinblick auf die Wirksamkeit der Abstandsflächenübernahmeerklärung vom 24. Juli 2015 – die Erklärung vom 30. Januar 2015 wurde vom damaligen Bauwerber selbst nur als bloße „Absichtserklärung“ bezeichnet und genügt zudem nicht der vorgeschriebenen Form (vgl. Hahn in Busse/Kraus, BayBO, Stand Sept. 22, Art. 6, Rn. 124) – merkt die Kammer an, dass der vorliegende Fall durchaus die Frage einer etwaigen Nichtigkeit der Zustimmungserklärung nach § 138 BGB aufwerfen könnte (zu den Anforderungen vgl. etwa: Armbrüster, MüKo, Stand 2021, BGB, § 138, Rn. 206 ff.). So haben sowohl die Klagepartei als auch der Beklagte in der mündlichen Verhandlung bestätigt, dass nach ihrer Kenntnis für die Übernahme der Abstandsflächen keinerlei Geldzahlungen geleistet wurden, was angesichts der von der Abstandsflächenübernahme betroffenen Fläche von immerhin knapp 53 qm zumindest ungewöhnlich erscheint. Hinzukommt, dass der Rechtsvorgänger des Klägers zum damaligen Zeitpunkt mit 86 Jahren bereits hochbetagt war und während des folgenden Klageverfahrens verstorben ist. Die tatsächlichen Umstände, unter denen die Erklärung abgegeben wurde (Stichwort „Haustürgeschäft“), sind gänzlich unklar. Vor diesem Hintergrund haben es sowohl der bereits damals anwaltlich vertretene Beigeladene als auch das Landratsamt versäumt, der Frage nachzugehen, ob der Rechtsvorgänger der Beigeladenen möglicherweise die Schwäche bzw. Hilflosigkeit eines alten Mannes ausgenutzt hat, um von diesem die Zustimmung der Abstandsflächenübernahme zu erhalten, welche in einem groben Missverhältnis zur Leistung des damaligen Bauwerbers stehen könnte. Eine Befragung der an dem Rechtsgeschäft unmittelbar Beteiligten war in der mündlichen Verhandlung nicht möglich, da der Rechtsvorgänger des Klägers bereits verstorben und der ursprüngliche Bauwerber nicht Beteiligter dieses Verfahrens ist.
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2. Die Frage der Wirksamkeit der Abstandsflächenübernahme vom 24. Juli 2015 kann jedoch dahinstehen, denn auch bei unterstellter Wirksamkeit ist das genehmigte Vorhaben jedenfalls nicht von dieser gedeckt.
18
Zwar kann eine im Rahmen eines Vorbescheidsverfahrens erklärte Abstandsflächenübernahme dem Grunde nach auch dann im Rahmen eines späteren, an den erteilten Vorbescheid anknüpfenden Baugenehmigungsverfahrens beachtlich sein, wenn das Abstandsflächenrecht zum Zeitpunkt der Vorbescheidserteilung – wie vorliegend gem. Art. 59 BayBO in der vom 1. August 2009 bis zum 31. August 2018 gültigen Fassung – nicht Prüfungsgegenstand des vereinfachten Baugenehmigungsverfahrens war (die Zulässigkeit einer Abstandsflächenübernahme im Rahmen eines Vorbescheidsverfahrens unproblematisch annehmend: Hahn, a.a.O., Art. 6, Rn. 122). Der Vorbescheid hat sich im öffentlichen Baurecht als Instrument eines gegliederten behördlichen Genehmigungsverfahrens entwickelt und bezweckt Planungs- und Investitionssicherheit für den Bauherrn durch die verbindliche Klärung einzelner Teilfragen seines Vorhabens (vgl. Decker in Busse/Kraus, Art. 71, Rn. 11 und 18). Das Landratsamt hat im streitgegenständlichen Bescheid zudem zutreffend ausgeführt, dass der Bauherr im Falle einer offenkundigen Abstandsflächenüberschreitung nur durch Vorlage der Abstandsflächenübernahme im Rahmen des Vorbescheidsverfahrens einer Ablehnung des Vorbescheids auf Grundlage des Art. 68 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 BayBO a.F. begegnen konnte. Zugleich ist zu beachten, dass das Bestehen einer isolierten Abstandsflächenübernahme nicht möglich ist und eine im Rahmen des Vorbescheidsverfahrens abgegebene Übernahmeerklärung daher erlischt, wenn von dem Vorbescheid kein Gebrauch gemacht oder aber die Erteilung des Vorbescheids abgelehnt wird (vgl. zum Baugenehmigungsverfahren: Hahn in Busse/ Kraus, Art. 6 BayBO, Rn. 130).
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Allerdings ist bei der Erklärung einer Abstandsflächenübernahme im Rahmen eines Vorbescheidsverfahrens besonderes Augenmerk darauf zu legen, dass die Übernahmeerklärung auf ein konkretes Bauvorhaben beschränkt ist (vgl. Hahn, a.a.O.). Es liegt dabei in der Hand des Bauherrn, wie konkret er das geplante Vorhaben bereits im Rahmen des Vorbescheidsverfahrens darstellt. Anders als im Falle eines Baugenehmigungsverfahrens, welchem eine vollständige und konkrete Eingabeplanung zugrunde liegt, beziehen sich die Fragen eines Vorbescheidsverfahrens häufig nur auf eine „Grobplanung“ und ggf. auch mehrere Planungsvarianten eines Vorhabens. Dies birgt das Risiko von Abstandsflächenübernahmeerklärungen „auf Vorrat“, durch welche die Beschränkung der Übernahmeerklärung auf ein konkretes Vorhaben letztlich umgangen oder zumindest aufgeweicht zu werden droht. Während für das Baugenehmigungsverfahren anerkannt ist, dass auch nach Abgabe einer Abstandsflächenübernahmeerklärung gewisse Änderungen des Vorhabens möglich sind, sofern diese die Abstandsflächenfrage nicht neu aufwerfen (vgl. Hahn, a.a.O.; BayVGH, B.v. 8.10.2002 – 25 ZB 01.1249 – juris Rn. 3), kann sich die Ausgangssituation im Rahmen eines Vorbescheidsverfahrens – je nach Detailierungsgrad der abgefragten Planung – deutlich anders darstellen. Für eine eher strenge Auslegung der von einer Übernahmeerklärung abgedeckten „Variationsbreite“ eines Vorhabens spricht dabei der Umstand, dass für die Abgabe einer Abstandsflächenübernahmeerklärung trotz ihrer weitreichenden dinglichen Wirkung zu Lasten etwaiger Rechtsnachfolger (vgl. Hahn, a.a.O., Rn. 132) keinerlei Sicherungsmechanismen vorgeschrieben sind, wie dies etwa bei der zivilrechtlichen Gewährung von Grunddienstbarkeiten in Form von notariellen Erklärungen und Grundbucheintragungen der Fall ist.
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Daran gemessen hat die Klagepartei zu Recht darauf hingewiesen, dass der Abstandsflächenübernahmeerklärung vom 24. Juli 2015 nur ein Plan mit dem Grundriss eines 16 m langen rechteckigen Gebäudes mit einem Abstand von 1,20 m zur gemeinsamen Grundstücksgrenze beigefügt war. Das dargestellte Gebäude wies dabei – anders als die mit Bestandsteilvermerk versehene Planskizze vom 16.11.2015 (Bl. 131 der Behördenakte) keinerlei auskragende Bauteile oder Vorbauten auf – wenngleich die Abstandsflächenübernahme für einen Grundstücksstreifen von 2,40 m Tiefe und einer Länge von 22 m (16 m zzgl. jeweils weiterer 3 m an der südwestlichen und südöstlichen Gebäudeecke) erklärt wurde. Ausweislich einer in der Akte des Vorbescheidsverfahrens befindlichen (Vor-)Entwurfsplanung (Bl. 12 der Behördenakte …*) war ein Balkon zumindest an der südwestlichen Gebäudeecke zwar offenbar durchaus einmal angedacht worden; diese Planung wurde jedoch weder Gegenstand der Übernahmeerklärung noch des späteren Vorbescheids. Lediglich ergänzend wird insoweit angemerkt, dass sich den zum Bestandteil des Vorbescheids erklärten Unterlagen (Planskizze und Schemaschnitt vom 16.11.2015, Bl. 130 f. der Behördenakte …*) zwar erdgeschossige Anbauten im Bereich der nordwestlichen und nordöstlichen Gebäudeecke sowie mittig im Bereich der Südfassade entnehmen lassen, nicht jedoch etwaige Balkonanbauten.
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Dahinstehen kann, ob die o.g. Änderungen des Vorhabens im Rahmen des Vorbescheidsverfahrens noch von der Übernahmeerklärung vom 24. Juli 2015 umfasst wären, da dies in Bezug auf das nunmehr genehmigte Vorhaben mit zwei Balkonen im Bereich der Südost- und Südwestecke des Gebäudes jedenfalls nicht mehr der Fall ist. Die abstandsflächenrechtliche Relevanz folgt bereits aus der großzügigen Dimensionierung der Balkone, die mit einer Tiefe von jeweils 3 m und einer Breite von jeweils 3,25 m unstrittig nicht mehr die Voraussetzungen abstandsflächenrechtlich untergeordneter Vorbauten i.S.d. Art. 6 Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 BayBO einhalten und in einem Abstand von weniger als 2 m (1,52 m Grenzabstand Fassade + 0,36 m Rücksprung) zur gemeinsamen Grundstücksgrenze errichtet werden sollen. Ungeachtet der in der Regelung des Art. 6 Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 BayBO zum Ausdruck kommenden gesetzgeberischen Wertung liegt es auf der Hand, dass derartige großzügige Balkone in unmittelbarer Grenznähe Auswirkungen auf den durch das Abstandsflächenrecht geschützten Wohnfrieden (vgl. dazu BayVGH, U.v. 3.12.2014 – 1 B 14.819 – juris Rn. 17) haben können. Der vorliegende Fall unterscheidet sich damit auch von der dem Beschluss des Bayerischen Verrwaltungsgerichtshofs vom 8. Oktober 2022 (25 ZB 01.1249) zugrundeliegenden Fallkonstellation, welche einen untergeordneten Balkonanbau betraf. Der Umstand, dass der im Rahmen der Abstandsflächenübernahme dargestellte Grundstücksstreifen – letztlich ohne erkennbaren Grund – über die dargestellten Gebäudeecken hinaus in den Bereich der nunmehr geplanten Balkone verlängert wurde, ändert an dieser Bewertung nichts; vielmehr deutet dies darauf hin, dass der Rechtsvorgänger der Beigeladenen insoweit eine Übernahmeerklärung „auf Vorrat“ eingeholt hat, um sich künftige Umplanungen offen zu halten.
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Ohne Berücksichtigung der Abstandsflächenübernahmeerklärung vom 24. Juli 2015 hält das Vorhaben die erforderlichen Abstandsflächen zum Grundstück Fl.Nr. … -sowohl unter Zugrundelegung der früheren als auch der seit dem 1. Februar 2021 geltenden Rechtslage – nicht ein, sodass der Kläger aus diesem Grund in seinen Rechten verletzt und der Klage stattzugeben ist.
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II. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 und 3 i.V.m. § 162 Abs. 3 VwGO. Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens. Es entspricht der Billigkeit, dass die Beigeladene ihre außergerichtlichen Kosten selbst trägt, da sie Anträge gestellt und sich somit einem Kostenrisiko ausgesetzt hat.
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III. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit im Kostenpunkt beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff ZPO.