Titel:
Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer, Zulässige Untätigkeitsklage, Sofortige Abhilfe, Kostentragung entgegen Unterliegensgrundsatz durch Kläger.
Normenketten:
KDVG
VwGO § 75
VwGO § 92 Abs. 3
VwGO § 161 Abs. 2
VwGO § 156
VwGO § 161 Abs. 3
Schlagworte:
Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer, Zulässige Untätigkeitsklage, Sofortige Abhilfe, Kostentragung entgegen Unterliegensgrundsatz durch Kläger.
Fundstelle:
BeckRS 2023, 12304
Tenor
I. Das Verfahren wird eingestellt.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert wird auf 5.000,00 € festgesetzt.
Gründe
1
Der Kläger ist ehemaliger Zeitsoldat und begehrte mit Antrag vom … … … seine Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer.
2
Mit Email vom 7. Dezember 2022 teilte die Beklagte den Prozessbevollmächtigten des Klägers auf deren Anfrage mit, dass die Akte des Klägers am … … … eingegangen sei und eine verbindliche Bearbeitungsdauer leider nicht mitgeteilt werden könne. Die Anträge würden in der Reihenfolge der Akteneingänge und Dokumenteneingänge bearbeitet und nach Bearbeitung unaufgefordert ein Bescheid erlassen. Es werde vor diesem Hintergrund gebeten, von weiteren Sachstandsanfragen abzusehen.
3
Am 16. März 2023 ließ der Kläger durch seine Prozessbevollmächtigten eine auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer gerichtete Untätigkeitsklage erheben.
4
Mit Schriftsatz vom 11. April 2023 übermittelte der Prozessbevollmächtigte der Beklagten die Behördenakte und beantragte, die Klage abzuweisen, hilfsweise das Verfahren gemäß § 75 Satz 3 VwGO für eine den Umständen entsprechende angemessene Frist auszusetzen. Mit einer Entscheidung sei innerhalb der nächsten drei bis vier Wochen zu rechnen. Im Fall des Klägers sei auch zu berücksichtigen, dass er Reservist sei und die Entscheidung über den Antrag deshalb keinen unmittelbaren Einfluss auf seine aktuelle Lebensführung habe. Vorrangig würden Anträge aktiver Soldaten bearbeitet.
5
Mit Bescheid vom 14. April 2023 stellte die Beklagte fest, dass der Kläger berechtigt ist, den Kriegsdienst mit der Waffe zu verweigern, was die Beklagte dem Gericht mit Schriftsatz vom selben Tag mitteilte.
6
Mit Schriftsatz vom 25. April 2023 erklärten die Prozessbevollmächtigten des Klägers den Rechtsstreit für erledigt und beantragten,
7
der Beklagten die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.
8
Mit Schriftsatz vom 2. Mai 2023 schloss sich die Beklagte der Erledigungserklärung des Klägers an und beantragte,
9
dem Kläger die Kosten des Rechtsstreits aufzuerlegen.
10
Die Untätigkeitsklage sei unzulässig gewesen, da sie im Hinblick auf die bekannten Umstände verfrüht eingereicht worden sei. Der Kläger habe den nicht bei den Akten befindlichen Musterungsbescheid eingereicht, was jedoch zur vollständigen Antragsbegründung eines Reservisten unverzichtbar sei. Dieser habe erst am … … … zur Verfügung gestanden. Bei seiner Nachfrage am … … … habe der Kläger nicht auf ein aus seiner Sicht bestehendes Beschleunigungsbedürfnis hingewiesen und stattdessen „quasi aus heiterem Himmel“ am 16. März 2023 Untätigkeitsklage erhoben. Da ein zureichender Grund für die Überschreitung der Dreimonatsfrist vorgelegen habe, sei die Untätigkeitsklage unzulässig. Die Erhebung einer Untätigkeitsklage sei unzulässig, wenn der Kläger die objektiven Verzögerungsgründe kenne oder kennen müsse. Den Prozessbevollmächtigten des Klägers seien die Gründe für die verzögerte Antragsbearbeitung im Zeitpunkt der Klageerhebung am 16. März 2023 bekannt gewesen. Dies müsse sich der Kläger zurechnen lassen.
11
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte verwiesen.
12
1. Das Verfahren ist in entsprechender Anwendung von § 92 Abs. 3 VwGO einzustellen.
13
2. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen; dies entspricht vorliegend billigem Ermessen. Die Kostenentscheidung beruht auf § 161 Abs. 2 VwGO unter Berücksichtigung des Rechtsgedankens von § 156 VwGO (2.1.). Die Voraussetzungen der spezielleren Regelung des § 161 Abs. 3 VwGO liegen nicht vor (2.2.).
14
2.1. Ist der Rechtsstreit – wie vorliegend aufgrund der übereinstimmenden Erledigungserklärungen aufgrund Erlasses des begehrten Verwaltungsakts – in der Hauptsache erledigt, ist nach § 161 Abs. 2 VwGO über die Kosten des Verfahrens nach billigem Ermessen zu entscheiden. Es entspricht vorliegend – unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstands – billigem Ermessen, dem Kläger die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen, obwohl er in der Sache obsiegt hat. Das Gericht berücksichtigt bei der Ausübung billigen Ermessens den Rechtsgedanken des § 156 VwGO.
15
Gemäß § 156 VwGO fallen dem Kläger die Prozesskosten zur Last, wenn der Beklagte durch sein Verhalten keine Veranlassung zur Erhebung der Klage gegeben hat und den Anspruch sofort anerkennt. Diese Voraussetzungen liegen – entsprechend – vor.
16
2.1.1. Die Beklagte hat den Anspruch auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer vorliegend zwar nicht anerkannt, sondern den begehrten Bescheid erlassen und damit eine Erledigungssituation herbeigeführt. Jedoch ist auch in diesem Fall bei der Kostenentscheidung der Rechtsgedanke des § 156 VwGO entsprechend zu berücksichtigen (vgl. OVG Lüneburg, B.v. 13.3.2918 – 13 ME 38/18 – BeckRS 2018, 3801; Eyermann/Wöckel, VwGO, § 156 Rn. 1).
17
2.1.2. Die Herbeiführung der Erledigung ist auch sofort erfolgt, obwohl die Beklagte zunächst mit Schriftsatz vom 11. April 2023 Klageabweisung und hilfsweise die Verfahrensaussetzung beantragt hat. Weil sie damit den Anspruch des Klägers auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer jedoch sachlich nicht bestritten und auf eine Entscheidung über den Antrag in den nächsten Wochen hingewiesen hat, ist die Herbeiführung der Erledigung noch „sofort“ i.S.v. § 156 VwGO erfolgt. Ein Anerkenntnis (und entsprechend die Erledigung durch Erlass des begehrten Verwaltungsakts) ist dann sofort, wenn es in der ersten sachlichen Äußerung zur Klage – also wie vorliegend ohne vorheriges sachliches Bestreiten – abgegeben wird.
18
2.1.3. Die Beklagte hat auch keine Veranlassung zur Klageerhebung am 16. März 2023 gegeben. Veranlassung zur Klage gibt der Beklagte, wenn ein vernünftiger Kläger annehmen musste, er werde ohne Klage nicht zu seinem Recht kommen (BVerwG, U.v. 17.8.2017 – 5 A 2/17D – juris Rn. 47). Dies ist vorliegend nicht der Fall.
19
Bloße Nichtleistung genügt nur bei eindeutiger Fälligkeit; im Regelfall muss der Kläger anfragen oder anmahnen (Eyermann/Wöckel, VwGO, § 156 Rn. 3). Eine eindeutige Fälligkeit ist nicht gegeben. Auf die Anfrage der Prozessbevollmächtigten vom 7. Dezember 2022 hat die Beklagte am selben Tag reagiert und auf die Abarbeitung der Anträge in chronologischer Reihenfolge hingewiesen. Auch aus dem Umstand, dass die Beklagte gebeten hat, von weiteren Sachstandsabfragen abzusehen, folgt vor dem Hintergrund des Hinweises der Beklagten vom … … … auf die chronologische Bearbeitung der Fälle nicht, dass eine weitere Anfrage bzw. Mahnung vor Klageerhebung entbehrlich gewesen wäre. Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger im Zeitpunkt der Klageerhebung davon ausgehen musste, er werde ohne Klage nicht zu seinem Recht kommen, liegen hier nämlich nicht vor. Insbesondere auch unter Berücksichtigung des Umstands, dass es sich beim Kläger um einen Reservisten handelt, der nicht dem akuten Risiko ausgesetzt war, den Kriegsdienst mit der Waffe zu leisten, und dessen Antrag somit keine erhöhte Priorität genoss, hätte ein vernünftiger Kläger in der Position des Klägers nicht ohne weitere Anfrage bzw. Hinweis auf die Dringlichkeit seines Antrags ohne Ankündigung bzw. Fristsetzung Klage erhoben.
20
Damit entspricht es vorliegend billigem Ermessen, die Kosten dem Kläger aufzuerlegen, obwohl die Beklagte sich durch Erlass der begehrten Entscheidung ohne Änderung der Sach- und Rechtslage in die Rolle des Unterlegenen begeben und der Kläger in der Sache obsiegt hat.
21
2.2. Die Kostenentscheidung richtet sich vorliegend auch nicht vorrangig nach der speziellen Regelung des § 161 Abs. 3 VwGO. Nach § 161 Abs. 3 VwGO fallen in den Fällen des § 75 VwGO die Kosten stets dem Beklagten zur Last fallen, wenn der Kläger mit seiner Bescheidung vor Klageerhebung rechnen durfte. Diese Voraussetzungen liegen nicht vor.
22
2.2.1. Die kostenrechtliche Sonderregelung für erledigte Untätigkeitsklage ist vorliegend zwar anwendbar, weil es sich bei der erledigten Untätigkeitsklage um einen Fall des § 75 VwGO handelt. Die Untätigkeitsklage wurde zulässig nach Ablauf der Sperrfrist des § 75 Satz 2 VwGO als Verpflichtungsklage erhoben; die Beklagte hatte im Zeitpunkt der Klageerhebung am 16. März 2023 noch nicht über den Antrag des Klägers vom … … … entschieden. Die Dreimonatsfrist des § 75 Satz 2 VwGO war damit abgelaufen und die Klage somit – anders als vom Prozessbevollmächtigten der Beklagten vertreten – unabhängig davon zulässig, ob ein zureichender Grund für die Nichtbescheidung vorlag (vgl. Eyermann/Wöckel, 16. Aufl. 2022, VwGO § 75 Rn. 8). Es ist auch unschädlich, dass das Gericht der Behörde (noch) keine Frist zur Entscheidung gemäß § 75 Satz 3 VwGO gesetzt hat. Denn die Vorschrift erfasst alle Fälle des § 75 VwGO, nicht nur diejenigen des § 75 Satz 4 VwGO, in denen eine behördliche Entscheidung innerhalb einer vom Gericht gesetzten Frist ergeht (Schoch/Schneider/Clausing, August 2022, VwGO § 161 Rn. 39).
23
2.2.2. Der Kläger durfte aber mit seiner Bescheidung nicht vor Klageerhebung rechnen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts darf ein Kläger vor Klageerhebung dann nicht mit seiner Bescheidung rechnen, wenn ein zureichender Grund für die Nichtbescheidung vorlag und dem Kläger dieser bekannt war oder bekannt sein musste (BVerwG, U.v. 23.7.1991 – 3 C 56.90 – juris Rn. 9). Die Beklagte hatte einen zureichenden Grund für die Nichtbescheidung, und dieser war seinen Prozessbevollmächtigten bekannt, was der Kläger sich zurechnen lassen muss.
24
Die Beklagte hatte aufgrund der vorübergehenden Antragsflut einen zureichenden Grund für die Nichtbescheidung. Zureichende Gründe können bei einer vorübergehenden Antragsflut vorliegen, die zu einer kurzzeitigen Überlastung der Behörde führt, nicht hingegen bei einem strukturellen Organisationsdefizit (BVerfG, B.v. 16.1.2017 – 1 BvR 2406/16, 1 BvR 2409/16, 1 BvR 2408/16, 1 BvR 2407/16 – NVwZ-RR 2017, 393). Nach Angaben der Beklagten haben sich die Eingangszahlen der Anträge auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer im Jahr 2022 infolge des Kriegs in der Ukraine nahezu versechsfacht und zu einer unerwarteten und vorübergehenden Überlastung des zuständigen Bundesamts für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben geführt; auch der Kläger hat als Reservist seinen Antrag nach Ausbruch des Kriegs Ende Februar 2022 am … … … gestellt. Anhaltspunkte für ein strukturelles Organisationsdefizit sind nicht ersichtlich; vielmehr hat die Beklagte detailliert und schlüssig dargelegt, mit welchen Maßnahmen sie auf die unerwartete Überlastung organisatorisch reagiert hat. Des Weiteren war die Verzögerung vorliegend auch darauf zurückzuführen, dass der für die Prüfung des Antrags erforderliche Musterungsbescheid erst am … … … zu den Akten gelangte. Ein zureichender Grund für die Nichtbescheidung innerhalb der Sperrfrist des § 75 VwGO lag somit vor.
25
Dieser Grund war dem Kläger auch bekannt bzw. musste ihm bekannt sein. Das Wissen seines Prozessbevollmächtigten muss sich der Kläger nach dem allgemeinen Rechtsgedanken des § 166 Abs. 1 BGB zurechnen lassen (vgl. BGH, U.v. 25.10.2018 – IX ZR 168/17 – juris). Abgesehen davon, dass in öffentlich zugänglichen Medien über die aufgrund des Ukrainekriegs gestiegene Anzahl von Kriegsdienstverweigerungsanträgen schon vor Klageerhebung berichtet wurde (vgl. „ZEIT ONLINE“ v. 26.10.2022, Zahl der Anträge auf Kriegsdienstverweigerung gestiegen, https://www.zeit.de/politik/deutschland/2022-10/bundeswehr-kriegsdienstverweigerer-krieg-ukraine-kritik-linke, abgerufen am 2.3.2023), handelt es sich bei der Kanzlei des Prozessbevollmächtigten des Klägers um eine in Kriegsdienstverweigerungsverfahren erfahrene Kanzlei. Beim erkennenden Gericht werden zahlreiche Kläger, die ihre Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer begehren, durch die in Kiel ansässige Kanzlei des Prozessbevollmächtigten vertreten; diese wirbt auch auf ihrer Website mit der Vertretung im Wehrrecht, insbesondere auch bundesweit. Das Gericht hat zuletzt mit Beschluss vom 3. März 2023 in einem vergleichbaren Erledigungsfall kostenmäßig ebenfalls zu Ungunsten des Klägers, der von denselben Prozessbevollmächtigten vertreten war, entschieden. Den Prozessbevollmächtigten war das Kostenrisiko im Zeitpunkt der Klageerhebung somit – trotz der hierzu uneinheitlichen bundesweiten Entscheidungspraxis der Gerichte – zumindest bewusst.
26
Somit verbleibt es bei der Anwendung des § 161 Abs. 2 VwGO (vgl. auch VG Stuttgart, B.v. 22.5.2003 – 2 K 412/03 – juris Rn. 7 f.).
27
3. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 52 Abs. 2 GKG.
28
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 10 Abs. 2 Satz 1 KDVG).