Titel:
Abschiebungsschutz für tadschikische Familie mit vier Kindern und psychisch krankem und kaum arbeitsfähigen Vater
Normenketten:
AufenthG § 60 Abs. 5
EMRK Art. 3
Leitsätze:
1. Bedingen die allgemeinen wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse die schlechte humanitäre Lage in einem Staat, kommt eine Verletzung von Art. 3 EMRK nur dann in Betracht, wenn ganz außergewöhnliche Umstände in der Person potentieller Rückkehrer vorliegen, die über die allgemeine Beeinträchtigung von deren Lebenserwartung im Herkunftsland hinausgehen (EGMR BeckRS 2008, 18198). (Rn. 16) (red. LS Clemens Kurzidem)
2. Bei der bei der Prüfung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG iVm Art. 3 EMRK anzustellenden Gefahrenprognose ist grundsätzlich nur darauf abzustellen, ob der vollziehbar ausreisepflichtige Ausländer nach seiner Rückkehr, ggf. durch ihm gewährte Rückkehrhilfen, in der Lage ist, seine elementarsten Bedürfnisse über einen absehbaren Zeitraum zu befriedigen. Nicht entscheidend ist hingegen, ob das Existenzminimum des Ausländers in dessen Herkunftsland nachhaltig oder gar auf Dauer sichergestellt ist (BVerwG BeckRS 2022, 16531). (Rn. 17) (red. LS Clemens Kurzidem)
3. In Tadschikistan besteht ein - wenn auch nur gering ausgeprägtes - Sozialsystem, das ein psychisch angeschlagener Rückkehrer, der nicht über die sozialen und kommunikativen Basiskompetenzen Verfügt, um Sozialleistungen auch tatsächlich abzurufen, nicht in Anspruch nehmen kann. (Rn. 29) (red. LS Clemens Kurzidem)
Schlagworte:
Tadschikistan, Familie mit Kleinkindern, Eltern ungelernte Arbeitskräfte, Vater psychisch beeinträchtigt, tadschikische Asylbewerber, nationaler Abschiebungsschutz, Gefahrenprognose, psychische Erkrankung, Kleinkinder, ungelernte Arbeitskräfte, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Existenzminimum, Sozialsystem
Fundstelle:
BeckRS 2023, 12277
Tenor
I.Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 17. August 2021 wird bezogen auf die Kläger in Ziffer 4 bis 6 aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet, festzustellen, dass bei den Klägern ein Abschiebungsverbot gem. § 60 Abs. 5 AufenthG vorliegt.
II.Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III.Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der festgesetzten Kosten abwenden, wenn nicht der Kläger zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
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Der Kläger zu 1), ein am … … 1988 in M* …Tadschikistan geborener tadschikischer Staatsangehöriger gleicher Volkszugehörigkeit und sunnitisch-islamischen Glaubens sowie die Klägerin zu 2), seine Ehefrau, eine am … … 1991 in C* …Tadschikistan geborene tadschikische Staatsangehörige gleicher Volks- und sunnitisch-islamischen Religionszugehörigkeit, reisten am 26. Oktober 2020 zusammen mit ihren 2014 und 2017 in D* …Tadschikistan bzw. B* …Serbien geborenen Kindern, den Klägern im Verfahren W 7 K 23.30234, in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 4. Dezember 2020 Asylanträge beim Bundesamt für Flüchtlinge und Migration (Bundesamt), zu den sie am 4. Dezember 2020 und am 11. Dezember 2020 angehört wurden.
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Dabei gab der Kläger zu 1) im Wesentlichen an, dass sie Tadschikistan am 20. Januar 2015 verlassen hätten. Eigentlich habe er in Tadschikistan bleiben wollen. Der Grund für seine Ausreise sei, dass er seine Frau kennengelernt habe. Sein Vater habe die Heirat abgelehnt. Sie hätten 2014 standesamtlich geheiratet und bis zur Ausreise ca. acht Monate in D* … gewohnt. Dort sei er vom Bruder seiner Ehefrau überfallen und krankenhausreif verprügelt worden. Daraufhin hätten sie Tadschikistan aus Angst vor dem Bruder der Ehefrau verlassen. Er habe noch Kontakt zu einem seiner Brüder, nicht jedoch zu seinem Vater. Dieser habe ihm die Heirat bis heute nicht verziehen.
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Die Klägerin zu 2) gab im Wesentlichen an, dass sie in Tadschikistan standesamtlich geheiratet hätten, als sie im fünften Monat schwanger gewesen sei. Sie habe die Schule nur bis zur ersten Klasse besucht. Lesen und Schreiben habe sie sich selbst beigebracht. Als sie älter geworden sei, habe sie für drei Monate in einem Betrieb als Schneiderin gelernt. Sie sei von Kindheit an einem Cousin ihres Vaters versprochen gewesen. Als sie älter geworden sei, habe sie sich in ihren jetzigen Mann verliebt. Die Klägerin zu 2) habe Angst vor ihrem Bruder, der ihr gesagt habe, dass sie den Cousin heiraten müsse.
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Mit Bescheid vom 17. August 2021 erkannt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) den Klägern die Flüchtlingseigenschaft nicht zu (Ziffer 1), lehnte ihre Anträge auf Asylanerkennung ab (Ziffer 2), erkannte den subsidiären Schutzstatus nicht zu (Ziffer 3). Abschiebungsverbote gem. § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG lägen nicht vor (Ziffer 4). Den Klägern werde unter Androhung der Abschiebung zur Ausreise innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntwerden der Entscheidung bzw. unanfechtbarem Abschluss des Asylverfahrens zur Ausreise aufgefordert (Ziffer 5). Für die weiteren Einzelheiten wird auf den Bescheid Bezug genommen, der den damaligen Bevollmächtigten der Kläger am 23. August 2021 zugestellt wurde.
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II. Dagegen ließ der Kläger am 30. September 2022 Klage zum Verwaltungsgericht Würzburg erheben und lässt zuletzt beantragen,
„Die Beklagte wird unter entsprechender Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 17. August 2021 verpflichtet, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG im Hinblick auf das Land Tadschikistan vorliegen.“
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Zur Begründung wird im Wesentlichen vorgetragen, dass zur Familie der Kläger neben den 2014 und 2017 geborenen Kindern (Kläger im Verfahren W 7 K 23.30234) noch ein am … … 2021 in Deutschland geborenes Kind gehöre und die Klägerin zu 2) aktuell erneut schwanger sei. Errechneter Entbindungstermin sei der 12. Juni 2023. Die Kläger könnten in Tadschikistan keinerlei familiäre Unterstützung erhalten, da die Familie der Klägerin zu 2) sie verfolgen würde und der Vater des Klägers zu 2) nicht bereit sei, sie zu unterstützen. Es handele sich bei den Klägern um ein Ehepaar mit bald vier kleinen Kindern. Bereits aus wirtschaftlichen Gründen stehe ihnen keine inländische Fluchtalternative zur Verfügung. Bei einer Rückkehr nach Tadschikistan drohe ihnen eine menschenrechtswidrige Behandlung. Der Kläger zu 1) leide zudem an einer schwerwiegenden psychischen Erkrankung und befinde sich seit mehreren Monaten in ständiger fachärztlicher und medikamentöser Behandlung. Auf den vorläufigen Arztbericht vom 17. April 2023 werde Bezug genommen.
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Die Beklagte beantragt,
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Zur Begründung bezieht sie sich auf die angefochtene Entscheidung.
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Der Rechtsstreit wurde mit Beschluss vom 15. März 2023 dem Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.
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Mit Beschluss vom 18. April 2023 wurde das Verfahren der Kläger zu 3) und 4) vom Verfahren der Kläger zu 1) und 2) abgetrennt, unter dem Aktenzeichen W 7 K 23.30234 fortgeführt und bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung im Verfahren W 7 K 21.30896 ausgesetzt.
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Mit Beschluss vom 9. Mai 2023 wurde das Verfahren aufgrund teilweiser Klagerücknahme abgetrennt und unter Az. W 7 K 23.30266 eingestellt, soweit das Klagebegehren über die Verpflichtung zur Feststellung von Abschiebungsverboten gem. § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG hinausging.
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Für die weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte, die beigezogenen Behördenakten mit den Geschäftszeichen 7* …, 8* …, 86* … und 868* … sowie das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 8. Mai 2023 Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Klage, über die trotz des Ausbleibens der Beklagten gem. § 102 Abs. 2 VwGO verhandelt und entschieden werden konnte, ist auch begründet.
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Die Kläger haben zum gem. § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung einen Anspruch auf Feststellung des Vorliegens von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG.
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Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Europäischen Menschenrechtskonvention ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Die Abschiebung eines Ausländers ist danach unzulässig, wenn ihm im Zielstaat unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK droht oder wenn im Einzelfall andere in der Europäischen Menschenrechtskonvention verbürgte, von allen Vertragsstaaten als grundlegend anerkannte Menschenrechtsgarantien in ihrem Kern bedroht sind (vgl. BVerwG, U.v. 24.5.2000 – 9 C 34/99 – juris Rn. 11).
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Dabei können unter bestimmten Umständen auch schlechte humanitäre Bedingungen eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen. Ist die schlechte humanitäre Lage weder dem Staat noch den Konfliktparteien zuzurechnen, sondern bedingt durch die allgemeinen wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse, kommt eine Verletzung von Art. 3 EMRK nur dann in Betracht, wenn ganz außergewöhnliche Umstände in der Person der Kläger vorliegen, die über die allgemeine Beeinträchtigung der Lebenserwartung der Kläger im Herkunftsland hinausgehen (vgl. EGMR, U.v. 27.5.2008 – 26565/05, U.v. 28.6.2011 – 8319/07).
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Nach jüngsten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (U.v. 21.4.2022 – 1 C 10.21) ist bei der dabei anzustellenden Gefahrenprognose grundsätzlich nur darauf abzustellen, ob der vollziehbar ausreisepflichtige Ausländer nach seiner Rückkehr, gegebenenfalls durch ihm gewährte Rückkehrhilfen, in der Lage ist, seine elementarsten Bedürfnisse über einen absehbaren Zeitraum zu befriedigen. Nicht entscheidend ist hingegen, ob das Existenzminimum eines Ausländers in dessen Herkunftsland nachhaltig oder gar auf Dauer sichergestellt ist.
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Gemessen an diesen Maßstäben liegen bei den Klägern solche außergewöhnlichen Umstände vor, die eine Verletzung von Art. 3 EMRK befürchten lassen.
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Dies ergibt sich jedoch nicht schon allein aus der Tatsache, dass es sich bei den Klägern um die Eltern einer Familie mit drei bzw. absehbar vier Kindern im Alter von acht bis null Jahren handelt oder aus dem Umstand, dass die Kläger bei einer Rückkehr nach Tadschikistan nach ihren glaubhaften Einlassungen in der mündlichen Verhandlung weder temporär noch dauerhaft auf ein familiäres oder soziales Netzwerk zurückgreifen könnten, das ihnen in einer Übergansphase mit Obdach und Verpflegung beistehen würde.
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Vielmehr führen diese Bedingungen erst in Kumulation mit dem offensichtlich angeschlagenen Gesundheitszustand des Klägers zu 1) als potentiellem Haupternährer der Familie zu einer Situation, die es auch unter Berücksichtigung etwaiger Rückkehrhilfen bei einer freiwilligen Rückkehr für die Kläger wahrscheinlich erscheinen lässt, dass sie in absehbarer Zeit ihre elementarsten Bedürfnisse nach Obdach, Nahrung und Hygiene nicht zuverlässig befriedigen können.
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Dem steht nicht entgegen, dass der Kläger aktuell in Deutschland einem Minijob als Küchenhilfe und Spülkraft in der Gastronomie nachgeht. Denn das Gericht kaum aufgrund des persönlichen Eindrucks vom Kläger zu 1) in der mündlichen Verhandlung zu der Überzeugung, dass der Kläger zu 1) ohne die stabilisierenden Faktoren der aktuellen Unterbringung und Betreuung einer Erwerbstätigkeit nicht nachgehen könnte und selbst unter Berücksichtigung von etwaigen Rückkehrhilfen weder kurz- noch mittelfristig in der Lage wäre, unter den in Tadschikistan geltenden Rahmenbedingungen das Existenzminimum für seine Familie zu erwirtschaften.
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Zu dieser Einschätzung gelangt das Gericht nicht schon auf der Grundlage der vorgelegten ärztlichen Atteste vom 13. Juni 2022 und vom 17. April 2023. Diese sind weder einzeln noch in ihrer Zusammenschau so aussagekräftig, dass sie mit der Diagnose „mittelschwere depressive Episode, PTBS, Schlafstörung“ schon hinreichend Auskunft über den Gesundheitszustand des Klägers zu 1) geben würden. Allerdings deckt sich der in der mündlichen Verhandlung vom Kläger zu 1) gewonnene Eindruck des Gerichts, dass es sich bei ihm um eine psychisch schwer belastete, in sich gekehrte Persönlichkeit handelt, der es schwerfällt, in belastenden Situationen sozial-adäquat zu agieren und funktional mit Personen außerhalb seines engsten Umfelds zu kommunizieren.
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Insbesondere der in Serbien erlebte Überfall mit wohl fremdenfeindlichem Hintergrund scheint den Kläger bis heute stark zu erschüttern, wobei er den Verlust des Fingergliedes dem Gericht gegenüber mit dem Hinweis, dass er mit der Hand trotz anhaltender Schmerzen immer noch normal greifen können, eher bagatellisierte, als aus seiner „Opferrolle“ asylstrategisch Kapital zu schlagen. Insgesamt war seine Kommunikation auch in der mündlichen Verhandlung sehr zurück genommen und introvertiert. Er machte auf das Gericht einen zwar freundlichen, jedoch niedergeschlagen und apathischen Eindruck. Sein sichtliches Bemühen, dem Gericht Rede und Antwort zu stehen, war von kurzzeitigen Phasen geistiger Abwesenheit durchbrochen, die ihn streckenweise desorientiert wirken ließen.
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Der mit 35 Jahren im Vergleich zur sonst auf den Arbeitsmarkt strebenden tadschikischen Bevölkerung auch bereits vergleichsweise alte Kläger zu 1) stünde im Agrar- und Bausektor, der für ihn als ungelernter Arbeitskraft noch am ehesten Erwerbsmöglichkeiten bieten würde, einer überwältigenden Konkurrenz an jüngeren und körperlich leistungsfähigeren Arbeitskräften gegenüber, die es unter Berücksichtigung seiner körperlichen Beeinträchtigung durch das fehlende Fingerglied am Ringfinger der linken Hand und seiner noch schwerer wiegenden psychischen Probleme als sehr unwahrscheinlich erscheinen lassen, dass er ohne entsprechende Patronage durch ein familiäres Netzwerk auch nur temporär auf dem informellen Sektor eine Erwerbsmöglichkeit finden würde.
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Im Länderinformationsblatt Tadschikistan des IOM Deutschland von 2022 wird unter der Überschrift „Arbeitsplatzsuche“ ausgeführt: „Tadschikistans Wirtschaft schafft nicht genügend Arbeitsplätze für seine schnell wachsende Erwerbsbevölkerung (ADB 2019). 55 Prozent der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter sind nicht wirtschaftlich aktiv, da sie nicht an der Erwerbsbevölkerung teilnehmen. Der Arbeitsmarkt Tadschikistans hat die jüngste Bevölkerung in Zentralasien. Menschen im Alter zwischen 14 und 30 Jahren machen 35 Prozent der Bevölkerung aus. Jedes Jahr treten schätzungsweise 130.000 junge Menschen in den Arbeitsmarkt ein, aber viele haben nur begrenzte wirtschaftliche Möglichkeiten. Laut dem JICA-Haushaltsbericht (2019) haben 55 Prozent der Migrant/-innen vor ihrer Migration nicht gearbeitet, und 10 Prozent sind nach ihrem Schulabschluss gegangen. 54,7 Prozent der Arbeitssuchenden hatten vor der Migration keinen Job. (https://thedocs.worldbank.org/en/) Die Mehrheit der Angestellten bleibt in der Landwirtschaft, und die Schaffung von Arbeitsplätzen im Inland erfolgte hauptsächlich in der Landwirtschaft und im Dienstleistungssektor mit geringer Produktivität. Die Beschäftigung im informellen Sektor ist eine wichtige Quelle von Arbeitsplätzen für die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter, die keinen erstrebenswerten Arbeitsplatz im formellen Sektor hat. Aufgrund der niedrigeren Eintrittsbarrieren in den informellen Sektor gibt es in der Regel mehr Neugründungen unter den informellen Unternehmen, und diese informellen Unternehmen bieten in der Regel Arbeitsplatze für junge, unerfahrene und ungelernte Arbeitskräfte. Bei den informell (auch unbezahlt) Beschäftigten handelt es sich in der Regel um jüngere Männer mit geringerem Bildungsniveau, die aus ländlichen Gebieten, GBAO und der Region Khatlon stammen. Sie arbeiten in der Regel im Baugewerbe, im Handel und in der Landwirtschaft. Informelle (einschließlich unbezahlte) Arbeiter haben einen niedrigeren Bildungsstand (sind weniger qualifiziert) als formelle Arbeiter. Informell Beschäftigte sind tendenziell etwas jünger als Beschäftigte im formellen Sektor. Informell Beschäftigte sind tendenziell ärmer als Beschäftigte des formellen Sektors. Informelle Arbeitnehmer arbeiten eher im Baugewerbe und in der Landwirtschaft.“
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Auf dieser Grundlage kommt das Gericht zu der Überzeugung, dass der Kläger zu 1) einer solchen Arbeitsmarktsituation auch unter Berücksichtigung möglicher Beratungs- und Überbrückungsangebote im Rahmen der freiwilligen Rückkehrhilfe nicht gewachsen wäre. Nach den glaubwürdigen Schilderungen der Klägerin zu 2) hat der Kläger zu 1) schon im aktuell stabilen Umfeld ohne den akuten Druck für die Sicherung der familiären Existenz sorgen zu müssen, massive Problem seinen Alltag zu bewältigen. So ließ sich die Klägerin zu 2) auf die Nachfrage zum Gesundheitszustand ihres Ehemannes dahingehend ein, dass er sehr vergesslich sei. Sie müsse immer nach ihm schauen und seine Angelegenheiten regeln. Das nehme viel Zeit und Kraft in Anspruch. Die deckt sich einerseits mit den Schilderungen des Klägers 1) selbst und finden sich in den vorgelegten ärztlichen Attesten vom 13. Juni 2022 und vom 17. April 2023 wieder. Weder die diesbezüglichen Angaben des Klägers zu 1) noch die der Klägerin zu 2) wirkten dabei asyltaktisch motiviert oder in irgendeiner Form übersteigert. Sowohl der Kläger zu 1) als auch die Klägerin zu 2) kamen auf die offensichtlich psychisch bedingten neurologischen Ausfallerscheinungen des Klägers zu 1) nicht von sich aus zu sprechen, sondern erst auf ausdrückliche Nachfrage durch das Gericht.
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Der Kläger zu 1) machte bei seinen Angaben einen eher schüchtern, introvertierten, Eindruck. Er wirkte verhalten bis resignierten. Die Schilderung der Klägerin zu 2) zum Krankheitsbild ihres Mannes hingegen waren von liebevoller Nachsicht geprägt. Sie schien dabei eher darauf bedacht, den Ehemann gegenüber dem Gericht nicht bloß zu stellen, als darauf, das tatsächliche Ausmaß seiner im Alltag immer wieder unverhofft auftretenden Hilflosigkeit zu offenbaren. Mithin sind ihre Einlassungen, der Kläger zu 1) benötige oft ihre Unterstützung, wenn er Dinge vergessen habe, für das Gericht ein deutlicher Hinweis darauf, dass der Kläger zu 1) bei einer Rückkehr nach Tadschikistan nicht in der Lage wäre, für eine – auch nur kurzfristige Sicherung des familiären Existenzminiums zu sorgen, sei dies durch Erwerbseinkommen, sei dies durch die Mobilisierung sonstiger staatlicher, sozialer oder caritativer Quellen.
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So gibt es in Tadschikistan zwar grundsätzlich staatliche Unterstützungsmaßnahmen für Arbeitslose (vgl. IOM Länderinformationsblatt), jedoch setzt das entsprechende Beantragungsverfahren einen festen Wohnsitz voraus, der den Klägern mit ihren vier Kindern auch bei einer freiwilligen Rückkehr unter Inanspruchnahme entsprechender Starthilfen wohl nicht zur Verfügung stünde. So haben die Kläger in der mündlichen Verhandlung glaubhaft ausgeschlossen, dass sie im Fall einer Rückkehr bei einer der beiden Großfamilien unterkommen könnten. Auch eine temporäre staatliche Unterbringung würde ihnen bei einer Rückkehr nicht zur Verfügung stehen, weil es solche Unterbringungsmöglichkeiten lediglich für Opfer von Menschenhandelt oder häuslicher Gewalt gibt (IOM, a.a.O.).
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Das Gericht verkennt dabei nicht, dass es in Tadschikistan ein – wenn auch nur gering ausgeprägtes – staatliches Sozialwesen gibt, jedoch geht es angesichts der offensichtlich angeschlagenen Psyche des Klägers zu 1) davon aus, dass dieser nicht über die sozialen und kommunikativen Basiskompetenzen verfügt, eventuell mögliche Leistungen auch tatsächlich abzurufen bzw. sich eigeninitiativ mit den zuständigen Stellen deswegen in Verbindung zu setzen. Erschweren kommt hinzu, dass der Kläger als Analphabet für die schriftliche Kommunikation mit Ämtern und Behörden wiederum auf die Unterstützung anderer angewiesen wäre. Zwar konnte sich das Gericht in der mündlichen Verhandlung davon überzeugen, dass die Klägerin zu 2) die tadschikische Sprache jedenfalls rudimentär lesen und schreiben kann, jedoch würde dies zur Überzeugung des Gerichts nicht dazu führen, die Hürden der beim Zugang zu existenzsichernden Leistungen für die Kläger zu ebnen. Die Klägerin zu 2) steht kurz vor der Entbindung ihres vierten Kindes und hat selbst keine Erfahrungen auf dem tadschikischen Arbeitsmarkt oder im Umgang mit den dortigen Behörden und Institutionen. Zumal ihr als Frau in der noch stark patriarchalisch geprägten tadschikischen Gesellschaft auch sicher nicht die gleiche Durchsetzungskraft ihrer Belange zugeschrieben werden kann, wie einem Mann als dem traditionellen „Familienoberhaupt“.
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Auch deshalb ist nicht zu erwarten, dass die Klägerin zu 2) anstelle des Klägers zu 1) die Existenzsicherung durch erwerbswirtschaftliche Tätigkeit für die Gesamtfamilie wird übernehmen können. Denn zur Unterhalts- und Betreuungslast für die vier Kinder käme erschwerend die absehbar weiterhin nötige Alltagsunterstützung des psychisch angeschlagenen Klägers zu 1) hinzu. Ein weiteres Hindernis wäre die für Frauen ungünstige Beschäftigungssituation in Tadschikistan. So spricht das IOM (a.a.O.) von einer „alarmierende geschlechtsspezifische Diskrepanz von fast 42 Prozentpunkten“ zwischen den Quoten junger Männer und Frauen (7,2 bzw. 49,3 Prozent), die sich weder in der allgemeinen noch in der beruflichen Bildung befinden (insgesamt ein Drittel der Jugendlichen in Tadschikistan zwischen 15 und 24 Jahren). Frauen seien lediglich in Sektoren wie dem Gesundheitswesen (58,7%) und dem Bildungswesen (53,7%), in denen die Durchschnittslöhne niedriger sind als in anderen Berufen, überproportional vertreten. Zudem seien sie auch in der Landwirtschaft und in gering qualifizierten Berufen stark vertreten. Eine realistische Change, dass die ebenfalls ungelernte Klägerin zu 2) unter diesen Umständen kurzfristig in der Lage wäre, die mangelnden Erwerbsaussichten des Klägers zu 1) finanziell durch eigene Erwerbstätigkeit zu kompensieren, sieht das Gericht mithin nicht.
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Unter Berücksichtigung all dieser Umstände des Einzelfalls konnte das Gericht den Eindruck gewinnen, dass in der Person der Kläger außergewöhnliche Umstände vorliegen, die auch nach den strengen Maßstäben der neueren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts eine Gefahrenprognose dahingehend rechtfertigt, dass die Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot gem. § 60 Abs. 5 AufenthG vorliegen.
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Der Klage war deshalb mit der Kostenfolge des § 154 VwGO stattzugeben.