Inhalt

VG Augsburg, Beschluss v. 03.05.2023 – Au 8 S 23.30428
Titel:

rechtswidrige Abschiebungsandrohung (Griechenland)

Normenketten:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2, Nr. 4, § 35
Asylverfahrens-RL Art. 33 Abs. 2 lit. a
EMRK Art. 3
GRCh Art. 4
Leitsatz:
Auch im Falle eines jungen, gesunden, alleinstehenden und arbeitsfähigen Mannes, dem vor einigen Jahren in Griechenland die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden ist und der seitdem dort gelebt hat, ist davon auszugehen, dass ihm für den Fall seiner Rückkehr nach Griechenland die ernsthafte Gefahr einer erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 GRCh oder Art. 3 EMRK droht. (Rn. 19) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Asylrecht, vorläufiger Rechtsschutz, Afghanistan, Zuerkennung internationalen Schutzes in Griechenland, Abschiebungsandrohung nach Griechenland, unmenschliche Lebensverhältnisse, Abschiebungsandrohung, Flüchtlingseigenschaft, RL 2013/32/EU, extreme materielle Not
Fundstelle:
BeckRS 2023, 12239

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die im Bescheid vom 4. März 2023 enthaltene Abschiebungsandrohung (Ziffer 3 des Bescheids vom 4.3.2023) wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.
1
Der Antragsteller wendet sich im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes gegen eine Abschiebungsandrohung nach Griechenland.
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1. Der auf dem Luftweg in das Bundesgebiet eingereiste Antragsteller ist nach dem vorgelegten griechischen Reisedokument ... geboren und afghanischer Staatsangehöriger.
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Von Griechenland kommend beantragte er nach der Einreise beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) am 30. August 2022 die Anerkennung als Asylberechtigter.
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Bei seinen Anhörungen durch das Bundesamt zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedsstaats und zu den Verfolgungsgründen trug der Antragsteller im Wesentlichen vor, dass er als Kleinkind mit seiner Familie in den Iran gezogen sei. Von dort aus sei er etwa 2014 mit seinen Eltern nach Afghanistan, in die Heimatprovinz K., zurückgekehrt. Er habe in Afghanistan dann beim Militär gearbeitet. Wegen der Bedrohung durch die Taliban wegen dieser Tätigkeit habe er Afghanistan 2016 verlassen. In Griechenland habe er sich dann für etwa fünf Jahre aufgehalten. Ihm sei dort nach etwa drei Jahren, im Jahr 2019, internationaler Schutz zuerkannt worden, die entsprechenden Papiere habe er aber erst Ende 2021 erhalten. In der Zeit bis dahin habe er in einem Aufnahmelager gelebt, nach dem Erhalt der Papiere habe er im Zentrum von A. eine Wohnung gemietet. Im Aufnahmelager habe er beim Anbau von Gemüse geholfen, danach habe er illegal bei einer Baufirma gearbeitet.
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Wegen der vom Antragsteller vorgelegten originalen griechischen Reisedokumente lehnte das Bundesamt den Asylantrag mit Bescheid vom 4. April 2023 als unzulässig ab (Ziffer 1) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 2). Der Antragsteller wurde zur Ausreise innerhalb einer Woche aufgefordert, die Abschiebung nach Griechenland bei nicht fristgerechter Ausreise wurde angedroht, die Abschiebung nach Afghanistan ausgeschlossen (Ziffer 3).
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Der Asylantrag sei nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG als unzulässig abzulehnen, da dem Antragsteller in Griechenland internationaler Schutz gewährt worden sei. Der Ablehnung des Antrags als unzulässig stehe die Rechtsprechung des EuGH zur Anwendung von Art. 3 EMRK/Art. 4 GRCh nicht entgegen, dem Antragsteller drohe in Griechenland keine erniedrigende oder unmenschliche Behandlung im Sinne dieser Rechtsprechung. Unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls sei es ihm, möglich, mit der erforderlichen Eigeninitiative zu vermeiden, dass er in eine Situation extremer materieller Not gerate, die es ihm nicht erlauben würde, seine elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen. Der Antragsteller habe nicht dargelegt, dass er sich um staatliche Unterstützungsmaßnahmen bzw. dass er sich um die Aufnahme einer legalen Erwerbstätigkeit bemüht habe. Mögliche bessere Lebensbedingungen in der Bundesrepublik Deutschland seien nicht maßgeblich. Der Antragsteller habe sich nach der Schutzanerkennung für etwa drei Jahre in Griechenland aufgehalten, er habe dort seinen Lebensunterhalt bestreiten können.
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2. Hiergegen erhob der Antragsteller am 11. April 2023 Klage, über die noch nicht entschieden ist (Au 8 K 23.30427).
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Zugleich stellt er im vorliegenden Verfahren unter Verweis auf sein Vorbringen beim Bundesamt den Antrag,
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die aufschiebende Wirkung der Klage herzustellen.
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Die Antragsgegnerin beantragt,
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den Antrag abzulehnen.
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Bei einer Unzulässigkeitsentscheidung in Bezug auf Griechenland werde in jedem Einzelfall geprüft, ob die Unzulässigkeitsentscheidung Bestand haben könne. Dabei würden vor allem die Dauer des Voraufenthalts in Griechenland, die vom Asylbewerber geschilderten dortigen individuellen Lebensverhältnisse und mögliche Sprachkenntnisse in die Prüfung einbezogen. Nach dem Vortrag des Antragstellers bei seinen Anhörungen sei nicht ersichtlich, dass er bei einer Rückkehr nach Griechenland dort in eine Situation extremer materieller Not geraten würde.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, auch im Verfahren Au 8 K 23.30427, und die beigezogenen Behördenakten Bezug genommen.
II.
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Der zulässig, insbesondere fristgerecht i.S.d. § 34a Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 Asylgesetz (AsylG), erhobene Antrag ist erfolgreich.
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1. Bei der Entscheidung darüber, ob die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die gemäß § 75 AsylG kraft Gesetzes sofort vollziehbare Entscheidung der Antragsgegnerin anzuordnen ist, ist das öffentliche Interesse an einer alsbaldigen Vollziehung des Verwaltungsaktes gegenüber dem Interesse der Betroffenen an einer Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes abzuwägen Nach § 36 Abs. 1, Abs. 4 Satz 1 AsylG kommt die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage nur bei ernstlichen Zweifeln an der Rechtmäßigkeit des Bescheides in Betracht. Ernstliche Zweifel in diesem Sinne liegen dann vor, wenn zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung erhebliche Gründe dafürsprechen, dass die Entscheidung des Bundesamtes einer rechtlichen Überprüfung wahrscheinlich nicht standhält.
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Dies zugrunde gelegt, fällt die Abwägung zwischen dem Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung des Rechtsbehelfs und dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung zu Gunsten des Antragstellers aus, denn an der im angegriffenen Bescheid enthaltene Abschiebungsandrohung mit dem vorrangigen Zielland Griechenland bestehen nach der im Eilverfahren nur möglichen, aber auch nur gebotenen summarischen Prüfung ernstliche Zweifel.
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a) Nach § 35 AsylG droht das Bundesamt dem Ausländer in den Fällen der Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nummer 2 und Nummer 4 AsylG die Abschiebung in den Staat an, in dem er vor Verfolgung sicher war. Die dem Ausländer in diesen Fällen zu setzende Ausreisefrist gemäß § 36 Abs. 1 AsylG beträgt eine Woche. Nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union dem Ausländer bereits internationalen Schutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gewährt hat.
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Zwar wurde dem Antragsteller in Griechenland die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Allerdings ist nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs Art. 33 Abs. 2 lit. a der RL 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung internationalen Schutzes (RL 2013/32/EU – sog. Asylverfahrensrichtlinie; ABl. L 180 S. 60) dahingehend auszulegen, dass er es einem Mitgliedstaat verbietet, von der durch diese Vorschrift eingeräumten Befugnis Gebrauch zu machen, einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig abzulehnen, weil dem Antragsteller bereits von einem anderen Mitgliedstaat die Flüchtlingseigenschaft oder subsidiärer Schutz zuerkannt worden ist, wenn die Lebensverhältnisse, die ihn in dem anderen Mitgliedstaat erwarten würden, ihn der ernsthaften Gefahr aussetzen würden, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung nach Art. 4 der Grundrechtecharta (GRCh) bzw. des diesem entsprechenden Art. 3 EMRK zu erfahren (EuGH, B.v. 13.11.2019 – C-540/17 u.a. – NVwZ 2020, 137 Tenor des Gerichts und Rn. 43; vgl. auch EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-163/17 – juris Rn. 81 ff.; EuGH, U.v. 19.3.2019 – C -297/17 – juris Rn. 83 ff.). Für die Anwendbarkeit des Art. 33 Abs. 2 lit. a RL 2013/32/EU nimmt der EuGH einen Verstoß gegen Art.4 GRCh dann an, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden (“Bett, Brot, Seife“), und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre.
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b) Die vorstehenden Grundsätze vorausgesetzt ist unter Berücksichtigung der überwiegenden aktuellen obergerichtlichen Rechtsprechung (OVG Sachsen, U.v. 27.4.2022 – 5 A 492.21.A – juris LS und Rn. 42 ff.; OVG NW, U.v. 5.4.2022 – 11 A 314/22.A – juris Rn. 34 ff.; VGH BW, U.v. 27.1.2022 – A 4 S 2443/21 – juris Rn. 22 ff.; OVG Bremen, U.v. 16.11.2021 – 1 LB 371/31 – juris; OVG Berlin-Bbg, U.v. 23.12.2021 – OVG 3 B 54.19 – juris; NdsOVG, U.v. 19.4.2021 – 10 LB 244/20 – juris) auch im Falle des Antragstellers – einem jungen und gesundem Mann – davon auszugehen, dass ihm für den Fall seiner Rückkehr nach Griechenland die ernsthafte Gefahr einer erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 GRCh oder Art. 3 EMRK droht. Auch unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls ist mit der im vorliegenden Verfahren hinreichenden Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass er unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen in eine Situation extremer materieller Not geraten würde und seine elementarsten Bedürfnisse („Bett, Brot, Seife“) für einen längeren Zeitraum nicht befriedigen könnte.
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Das Gericht schließt sich den diesbezüglichen Ausführungen der Oberverwaltungsgerichte in den vorgenannten Entscheidungen in Bezug auf den Antragsteller des vorliegenden Verfahrens an und macht sie sich vollumfänglich zu eigen. Dass sich die Umstände in Griechenland zwischenzeitlich derart verändert hätten, dass eine Verletzung der Rechte des Antragstellers aus Art. 4 GRCh oder Art. 3 EMRK im Zeitpunkt der vorliegenden Entscheidung nicht (mehr) mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu befürchten wäre, ist weder dargelegt noch sonst ersichtlich. Zuletzt hat das Oberverwaltungsgericht des Saarlandes (OVG Saarl, U.v. 15.11.2022 – 2 A 81/22 – juris Rn. 21 ff.) sich eingehend mit den auch im angefochtenen Bescheid angeführten Hinweisen auf die Möglichkeit, Sozialleistungen zu beantragen, sowie auf jüngere Projekte zur Wohnraumvermittlung (HELIOS II etc.) unter Auswertung weiterer Erkenntnismittel auseinandergesetzt und an der Einschätzung festgehalten, dass anerkannt Schutzberechtigten das ernsthafte Risiko drohe, im Falle einer Rücküberstellung obdachlos zu werden und in eine Situation extremer materieller Not zu geraten. Dies gilt nach dieser Entscheidung auch unabhängig von den Umständen und den persönlichen Verhältnissen des Einzelfalls. Für die Annahme, von der für anerkannte Schutzberechtigte in Griechenland bestehenden Gefahr, in eine existenzielle Notlage zu geraten und obdachlos zu werden, seien alleinstehende gesunde und arbeitsfähige Personen ausgenommen, besteht keine hinreichende tatsächliche Grundlage. Maßgeblich ist insoweit, dass auch diese Personen angesichts der Arbeitsmarktlage sowie der geschilderten verfahrensmäßigen Voraussetzungen für die Aufnahme einer angestellten Beschäftigung regelmäßig nicht imstande sein werden, alsbald ihren Lebensunterhalt selbst zu erwirtschaften und deshalb ebenfalls in vollem Umfang von Hilfeleistungen abhängig sein werden. Mit ausreichenden Hilfen, insbesondere zur Sicherstellung einer hinreichenden Unterbringung, können sie weder von staatlicher Seite noch durch die in Griechenland tätigen nichtstaatlichen Hilfsorganisationen rechnen (vgl. OVG Saarl, U.v. 15.11.2022 – 2 A 81/22 – juris Ls. und Rn. 35).
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Entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin liegen – soweit es darauf überhaupt ankommt (vgl. soeben) – auch keine besonderen Umstände vor, die im Fall des Antragstellers eine andere Beurteilung rechtfertigen könnten. Es ist nicht ersichtlich, dass er über Vermögen oder über Freunde und Bekannte in Griechenland, mithin über ein soziales Netzwerk dort, verfügt.
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Der im gerichtlichen Verfahren vom Bundesamt ergänzend angeführte Umstand, dass der Antragsteller nach der Zuerkennung des Schutzstatus in Griechenland die Anmietung einer Wohnung und durch Arbeit seinen Lebensunterhalt gewährleisten konnte, rechtfertigt ebenfalls keine andere Beurteilung. Der Antragsteller hat bei seinen Anhörungen zur Frage der Erwerbstätigkeit in Griechenland auf die illegale Beschäftigung hingewiesen. Bei seiner Einreisebefragung durch die Bundespolizei hat er zu den Wohnverhältnissen weitere Angaben gemacht und dargelegt, dass er in der Wohnung in A. teilweise mit fünf Personen in einem Zimmer gelebt habe (Befragung vom 25.6.2022, Bl. 19 der Bundesamtsakte). Unter diesen Umständen bestehen auch im konkreten Einzelfall erhebliche Zweifel, ob die grundlegenden Bedürfnisse bei einer Abschiebung nach Griechenland durch den Antragsteller in hinreichendem Maß gesichert werden können.
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c) Angesichts dessen würden den Antragsteller im Falle einer Rückführung nach Griechenland Lebensverhältnisse erwarten, die ihn der ernsthaften Gefahr aussetzen würden, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 GRCh zu erfahren. Damit begegnet die Ablehnung seines Asylantrags als unzulässig gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG zum Zeitpunkt der vorliegenden Entscheidung (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 AsylG) ernstlichen Zweifeln.
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2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 83 b AsylG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).