Inhalt

VG Regensburg, Beschluss v. 01.02.2023 – RO 3 E 23.151
Titel:

Anordnungsanspruch, Anordnungsgrund, Bescheid, Behinderung, Krankheit, Erkrankung, Bachelor-Studiengang, Nachteilsausgleich, Epilepsie, Ablehnung, Regelstudienzeit, Anrechnung, Wintersemester, Gutachten, Entscheidung in der Hauptsache, gutachterliche Stellungnahme, schriftliche Klausuren

Schlagworte:
Anordnungsanspruch, Anordnungsgrund, Bescheid, Behinderung, Krankheit, Erkrankung, Bachelor-Studiengang, Nachteilsausgleich, Epilepsie, Ablehnung, Regelstudienzeit, Anrechnung, Wintersemester, Gutachten, Entscheidung in der Hauptsache, gutachterliche Stellungnahme, schriftliche Klausuren
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 24.05.2023 – 7 CE 23.330
Fundstelle:
BeckRS 2023, 12088

Tenor

I. Die Antragsgegnerin wird vorläufig verpflichtet, der Antragstellerin im ersten Fachsemester des Bachelor-Studiengangs Psychologie die Anfertigung von schriftlichen Klausuren in einem separaten Prüfungsraum zu gestatten. Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.
II. Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens zu 2/3, die Antragsgegnerin zu 1/3.
III. Der Streitwert wird auf 5.000,00 € festgesetzt.

Gründe

I.
1
Die Antragstellerin begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die Gewährung von Nachteilsausgleich für die Anfertigung schriftlicher Klausuren, die Bestandteil ihres Bachelorstudiums sind.
2
Die Antragstellerin ist seit dem Wintersemester 2022/23 bei der Antragsgegnerin im Bachelor-Studiengang Psychologie immatrikuliert. Sie ist für die Klausuren „Allgemeine Psychologie II“ am 2. Februar 2023, „Allgemeine Psychologie I“ am 9. Februar 2023 und „Statistik I“ am 25. Februar 2023 angemeldet.
3
Unter dem 23. November 2022 stellte die Antragstellerin bei der Antragsgegnerin – Zentrales Prüfungssekretariat einen Antrag auf Gewährung von Nachteilsausgleich für schriftliche Klausuren während ihres gesamten Bachelorstudiums Psychologie. Der Nachteilsausgleich sei in der Form zu gewähren, dass ihr die Bearbeitung der Klausur in einem separaten Raum gestattet werde, die Bearbeitungszeit um 25% verlängert werde und zusätzlich Pausen ohne Anrechnung auf die Bearbeitungszeit im Umfang von 10% der verlängerten Bearbeitungszeit gewährt würden. Sie begründet dies im Wesentlichen damit, dass sie an einer schwer behandelbaren, primär generalisierten Epilepsie mit Grandmal und Absencen leide. Die Anfallshäufigkeit betrage im Durchschnitt sechs Anfälle pro Monat. Die Diagnose sei im Jahr 2020 gestellt worden. Zudem leide sie an einer komplizierten Migräne mit Aura, weshalb sie an durchschnittlich vierzehn Tagen im Monat an Kopfschmerzen leide. Bei ihr liege eine Schwerbehinderung mit Grad 90 und Merkzeichen G und B vor. Als Folge der Erkrankungen und bedingt durch die Nebenwirkungen der erforderlichen Medikamente seien kognitive Prozesse verlangsamt sowie die Aufmerksamkeit und die Konzentrations- und Merkfähigkeit beeinträchtigt. Durch das Auftreten von Absencen würde ihr Bearbeitungszeit fehlen. Daher sei eine Schreibzeitverlängerung notwendig. Zudem ermüde ihre Aufmerksamkeit und Konzentration schneller, weshalb sie Pausen während der Bearbeitung benötige. Diese seien ihr auch im letzten Schuljahr und während des Abiturs gewährt worden. Die Bearbeitung in einem separaten Prüfungsraum sei notwendig, da ihre Konzentration durch die Hintergrundgeräusche beeinträchtigt werde. Zudem sei die Wahrscheinlichkeit eines Anfalls in einer Stresssituation stark erhöht. In diesem Fall müsse ein Notarzt zur Behandlung geholt werden und die Prüfung auch für die anderen Prüflinge unterbrochen werden. Dies sei auch während der Schulzeit und des Abiturs so gehandhabt worden. Damals sei ihr nach Genehmigung durch den Ministerialbeauftragten für die Gymnasien i.d.O* … Nachteilsausgleich gewährt worden. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf das Schreiben Bezug genommen.
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Mit Email vom 1. Februar 2023 wurde der Antragstellerin ein Bescheid vom selben Tag übersandt. Daraus ergibt sich, dass der Antrag auf Nachteilsausgleich abgelehnt wird. Dies wird im Wesentlichen damit begründet, dass es sich um ein nicht ausgleichsfähiges Dauerleiden handle. Allerdings werde der Antragstellerin rein aus Kulanzgründen gestattet – im Rahmen des jeweils organisatorisch Möglichen – schriftliche studienbegleitende Klausuren, falls diese in mehreren Prüfungsräumen stattfinden, in demjenigen Prüfungsraum zu schreiben, in welchem weniger Mitprüflinge eingeteilt seien, um dadurch eine Ablenkung der Mitprüflinge zu minimieren. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Bescheid Bezug genommen.
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Mit am 31. Januar 2023 eingegangenem Schriftsatz ließ die Antragstellerin den gegenständlichen Antrag auf einstweilige Anordnung stellen. Zur Begründung lässt sie im Wesentlichen ausführen, dass sie unter den bereits im Antragsschreiben vom 23. November 2022 geschilderten Krankheiten leide und wie sich diese auf die Anfertigung von Prüfungsarbeiten auswirken würden. Zur Glaubhaftmachung wird die gutachterliche Stellungnahme des behandelnden Arztes Dr. med G* … K* …, Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie sowie Nervenheilkunde vom 11. November 2022 vorgelegt. Auf die gutachterliche Stellungnahme wird wegen der weiteren Einzelheiten Bezug genommen. Bisher sei von der Antragsgegnerin nicht über den gestellten Antrag entschieden worden, weshalb der Antrag auf einstweilige Anordnung gestellt werde. Der Antrag auf einstweilige Anordnung sei zulässig. Die Antragstellerin sei gem. § 42 Abs. 2 VwGO antragsbefugt, da sie möglicherweise in ihren Rechten aus Art. 12 Abs. 1 GG und Art. 12 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG verletzt werde. Der Antrag sei auch begründet. Ein Anordnungsanspruch sei auch unter Annahme einer Vorwegnahme der Hauptsache in ausreichendem Maße glaubhaft gemacht, da eine hohe Wahrscheinlichkeit für das Obsiegen in der Hauptsache bestehe. Aus Art. 2 Abs. 3 Satz 3 und 4 BayHSchG ergebe sich, dass die Hochschule den besonderen Bedürfnissen von Studierenden mit Behinderung Rechnung tragen solle und die Hochschule dafür Sorge trage, dass sie in ihrem Studium nicht benachteiligt würden. Daher sei in § 14 Abs. 1 Satz 1 PO geregelt, dass die besondere Lage von Studierenden mit Behinderung oder chronischer Erkrankung in angemessener Weise zu berücksichtigen sei. Aus § 14 Abs. 1 Satz 2 PO ergebe sich, dass Studierenden, die nachweisen, dass sie infolge einer Behinderung oder chronischen Erkrankung nicht in der Lage seien, Studien- und Prüfungsleistungen gem. § 7 PO ganz oder teilweise in der vorgesehenen Form oder innerhalb der vorgegebenen Frist abzulegen, der Prüfungsausschuss die Verlängerung der Bearbeitungszeit bzw. der Fristen für das Ablegen und Studien- und Prüfungsleistungen in einer bedarfsgerechten Form gestatte. Diese Voraussetzungen lägen hier vor. Die Antragstellerin habe eine chronische Krankheit bzw. eine Behinderung. Sie sei infolgedessen nicht in der Lage, schriftliche Studien- und Prüfungsleistungen in der vorgesehenen Form und innerhalb der vorgegebenen Frist bzw. Bearbeitungszeit abzulegen. Die einzelnen Auswirkungen seien durch die gutachterliche Stellungnahme hinreichend nachgewiesen. Es sei auch ein Anordnungsgrund gegeben, da es der Antragstellerin nicht zuzumuten sei, die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten. Die privaten Interessen der Antragstellerin wögen angesichts der besonderen Bedeutung des Art. 12 Abs. 1 GG (i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG) besonders schwer, da ihr ein schwerer Nachteil gegenüber den Mitprüflingen entstünde, wenn ihr der Nachteilsausgleich nicht gewährt werde. Auch die Interessen der Mitprüflinge seien zugunsten der Antragstellerin zu berücksichtigen. Demgegenüber bestünden keine erkennbaren Interessen, die gegen die Gewährung des beantragten Nachteilsausgleiches sprächen.
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Mit weiterem Schriftsatz vom 1. Februar 2023 ließ die Antragstellerin im Wesentlichen ergänzen, dass vor dem Hintergrund von Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG der beantragte Nachteilsausgleich zu gewähren sei. Es handle sich bei der Epilepsie nicht um eine geistige sondern um eine körperliche Beeinträchtigung und auch nicht um ein Dauerleiden. Die Krankheit beeinträchtige nicht die abzuprüfende Befähigung, sondern lediglich deren Ausdruck. Werde lediglich der Ausdruck der abzuprüfenden Befähigung beeinträchtigt, sei ein Nachteilsausgleich in Rechtsprechung und Literatur einhellig anerkannt. Die Ablehnung des Nachteilsausgleichs sei verfassungswidrig. Es dürfe nicht nach dauerhafter oder vorübergehender, körperlicher oder geistiger Behinderung unterschieden werden. Zudem sei auch bei einem Dauerleiden im prüfungsrechtlichen Sinne ein Nachteilsausgleich nicht ausgeschlossen. Eine gerechtfertigte Ungleichbehandlung von Behinderten sei nur dann gegeben, wenn dem Betroffenen geistige oder körperliche Fähigkeiten fehlen würden, die unerlässliche Voraussetzung für die Wahrnehmung des Rechts seien. Allerdings sei auch in diesen Fällen die Möglichkeit kompensierender Fördermaßnahmen zu prüfen. Der Antragstellerin würden zudem nicht die Fähigkeiten fehlen, die für die Ausübung ihres Berufes unerlässlich seien. Eine Differenzierung nach körperlichen und geistigen Kriterien sei medizinisch nicht haltbar. Dies sei gerade auch bei der Epilepsie der Fall.
7
Die Antragstellerin lässt beantragen,
die Antragsgegnerin vorläufig bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache zu verpflichten, der Antragstellerin während ihres Studiums im Bachelor-Studiengang Psychologie bei der Antragsgegnerin für schriftliche Klausuren einen Nachteilsausgleich zu gewähren, wonach jeweils die Bearbeitung der Prüfungsaufgaben in einem separaten Raum erfolgt, die Bearbeitungszeit jeweils um 25% verlängert wird und jeweils zusätzliche Pausen im Umfang von zusätzlich 10% der jeweils verlängerten Bearbeitungszeit ohne Anrechnung auf die Bearbeitungszeit zur Einteilung nach Wahl der Antragstellerin gewährt werden,
hilfsweise, bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache vorläufig zu verpflichten, der Antragstellerin während des ersten Fachsemesters ihres Studiums im Bachelor-Studiengang Psychologie bei der Antragsgegnerin für schriftliche Klausuren einen Nachteilsausgleich zu gewähren, wonach jeweils die Bearbeitung der Prüfungsaufgaben in einem separaten Raum erfolgt, die Bearbeitungszeit jeweils um 25% verlängert wird und jeweils zusätzliche Pausen im Umfang von zusätzlich 10% der jeweils verlängerten Bearbeitungszeit ohne Anrechnung auf die Bearbeitungszeit zur Einteilung nach Wahl der Antragstellerin gewährt werden.
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Die Antragsgegnerin beantragt,
Die Anträge werden zurückgewiesen.
9
Zur Begründung führt die Antragsgegnerin mit Schriftsatz vom 1. Februar 2023 im Wesentlichen aus, dass über den Antrag der Antragstellerin nicht früher entschieden werde habe können, da der Antrag relativ spät gestellt worden sei und diverse organisatorische Verfahrensschritte im Vorgriff auf die Verbescheidung notwendig gewesen seien. Der Antrag sei kostenpflichtig zurückzuweisen, da die Antragstellerin weder einen Anordnungsanspruch noch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht habe. Ein Anordnungsgrund bestehe nicht, da die Antragstellerin durch einen frühzeitigen Antrag selbst dafür Sorge hätte tragen können, dass hierüber rechtzeitig entschieden werde. Zudem könne die Antragstellerin von den anstehenden Prüfungen zurücktreten und ihr Studium auf insgesamt neun Semester entzerren, statt der in der Regelstudienzeit vorgesehenen sechs Semester. Ferner bestehe kein Anordnungsanspruch. Es handle sich um ein Dauerleiden, das sich unmittelbar auf das abzuprüfende Leistungsbild niederschlage und daher nicht ausgeglichen werden könne. Es handle sich bei den schriftlichen Modulprüfungen um Wettbewerbsprüfungen, da sie in der Regel endnotenrelevant seien. Ferner habe die Prüfungsbehörde die Frage, in welcher Form der Nachteilsausgleich zu gewähren sei, in eigener Verantwortung zu entscheiden und sei hierbei nicht an Atteste oder medizinische Gutachten gebunden. Die Antragsgegnerin sei auch nicht an die Entscheidungen der vorherigen Schule gebunden. Zudem bestünden Unterschiede zwischen dem Abitur und Hochschulprüfungen. In Fällen von Epilepsie scheide nach der Rechtsprechung schon dem Grunde nach ein Nachteilsausgleich aus, da diese das zu prüfende Leistungsbild betreffe. Rein aus Kulanzgründen werde der Antragstellerin jedoch – im Rahmen des jeweils organisatorisch Möglichen – gestattet, schriftliche Klausuren in demjenigen Prüfungsraum zu schreiben, in welchem weniger Mitprüflinge eingeteilt seien.
10
Zur Vervollständigung wird auf die Gerichtsakte sowie die vorgelegte Behördenakte Bezug genommen.
II.
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Der zulässige Antrag ist teilweise begründet.
12
Der Zulässigkeit des Antrags steht nicht entgegen, dass die Antragsgegnerin der Antragstellerin aus Kulanzgründen erlaubt, im Rahmen des organisatorisch Möglichen, in dem jeweils am wenigsten besetzen Prüfungsraum ihre Klausuren anzufertigen. Das Rechtsschutzbedürfnis der Antragstellerin entfällt hierdurch nicht. Das Rechtsschutzbedürfnis entfällt nur dann, wenn ein Erfolg des Rechtsbehelfs die Rechtsstellung der Antragstellerin nicht mehr verbessern würde (Wöckel in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, Vor §§ 40 – 53 Rn. 11). Zum einen entspricht die in Aussicht gestellte Kulanzregelung nicht dem, was die Antragstellerin mit ihrem Rechtsbehelf begehrt. Zum anderen lässt die Kulanzregelung durch den Vorbehalt des organisatorisch Möglichen der Antragsgegnerin die Möglichkeit, sich nicht an die Kulanzregelung gebunden zu fühlen. Das Begehren der Antragstellerin bzgl. des separaten Prüfungsraums wird dadurch daher nicht erfüllt, sodass der hier verfolgte Rechtsbehelf ihre Rechtsstellung im Falle des Obsiegens weiterhin verbessern kann.
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Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand erlassen werden, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (sog. Sicherungsanordnung), oder auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, wenn dies nötig erscheint, um wesentliche Nachteile für den Antragsteller abzuwenden (sog. Regelungsanordnung). Wesentliche Nachteile sind dabei u.a. wesentliche rechtliche, wirtschaftliche oder ideelle Nachteile, die der Antragsteller in Kauf nehmen müsste, wenn er das Recht im langwierigen Hauptsacheprozess erstreiten müsste (vgl. Happ in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 123 Rn. 23).
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Nach § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2, § 294 Abs. 1 ZPO sind dabei sowohl ein Anordnungsanspruch, d.h. der materielle Grund, für den der Antragsteller vorläufig Rechtsschutz sucht, als auch ein Anordnungsgrund, der insbesondere durch die Eilbedürftigkeit der Regelung begründet wird, glaubhaft zu machen. Maßgebend sind dabei die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung.
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1. Die für den Anordnungsgrund erforderliche Eilbedürftigkeit ist gegeben, da die ersten schriftlichen Klausuren der Antragstellerin am 2. Februar 2023, am 9. Februar 2023 sowie am 25. Februar 2023 stattfinden und bis zu diesem Zeitpunkt mit überwiegender Wahrscheinlichkeit keine gerichtliche Entscheidung in der Hauptsache, die überdies noch gar nicht anhängig ist, ergehen wird. Dass der Anordnungsgrund entfiele, weil die Antragstellerin den Antrag zu spät bei der Antragsgegnerin eingereicht hat, ist nicht erkennbar. Die Frist von acht Wochen aus § 14 Abs. 3 Satz 1 der Prüfungs- und Studienordnung für den Bachelorstudiengang Psychologie an der Universität R* … vom 30. September 2020 (PO) wurde vorliegend gewahrt. Die mit der Bearbeitung verbundenen organisatorischen Herausforderungen fallen jedoch – wenn der Antrag wie hier fristgerecht gestellt worden ist – letztlich in die Sphäre der Antragsgegnerin. Die Antragstellerin auf die Möglichkeit eines Prüfungsrücktritts zu verweisen, lässt den Anordnungsgrund ebenfalls nicht entfallen, ferner auch nicht die Möglichkeit, im Rahmen der Wiederholungsfristen das Studium auf neun Semester auszudehnen. Vor dem Hintergrund der in Art. 12 Abs. 1 GG garantierten Berufs- und Ausbildungsfreiheit dürfte dies der Antragstellerin kaum zumutbar sein.
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2. Der Antragstellerin steht ein Anordnungsanspruch auf die begehrten Nachteilsausgleichsmaßnahmen lediglich bzgl. der Anfertigung in einem separaten Prüfungsraum zu, im Übrigen jedoch nicht.
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Gem. § 14 Abs. 1 Satz 2 PO hat der Prüfungsausschuss Studierenden, die wegen einer Behinderung oder einer chronischen Erkrankung nicht in der Lage sind, Prüfungsleistungen ganz oder teilweise in der vorgesehenen Form oder innerhalb der vorgegebenen Frist abzulegen, eine Verlängerung der Bearbeitungszeit bzw. der Fristen für das Ablegen der Prüfungsleistung oder das Ablegen gleichwertiger Prüfungsleistungen in einer bedarfsgerechten Form zu gestatten. Gem. § 14 Abs. 1 Satz 1 PO ist die besondere Lage von Studierenden mit Behinderung oder chronischer Erkrankung in angemessener Weise zu berücksichtigen. Daraus ergibt sich, dass keine Überkompensation stattfinden darf. Der Nachteilsausgleich dient der Herstellung von Chancengleichheit gem. Art. 12 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG. Der zu gewährende Nachteilsausgleich muss sich daher darauf beschränken, dem behinderten bzw. chronisch erkrankten Prüfungsteilnehmer eine Leistungserbringung unter Bedingungen zu ermöglichen, die denen der Mitprüflinge möglichst nahekommen. Dies ist anhand des Prüfungsgegenstands und des Prüfungszwecks sowie der Einschränkung des Betroffenen zu bestimmen (vgl. hierzu BayVGH, B.v. 28.6.2012 – 7 CE 12.1324 – juris Rn. 18). Der Nachteilsausgleich darf nur bzgl. jener Fähigkeiten erfolgen, die nicht Gegenstand der Prüfung selbst sind (VG München, U.v. 26.2.2019 – M 3 K 19.251 – juris Rn. 27). Behinderungen oder chronische Erkrankungen, die als persönlichkeitsbedingte Eigenschaften die geistige Leistungsfähigkeit des Studierenden prägen, sind nicht ausgleichsfähig, da diese durch die Prüfung ja gerade festgestellt werden sollen (hierzu ausführlich Jeremias in Fischer/Jeremias/Dieterich, Prüfungsrecht, 8. Aufl. 2022, Rn. 301e m.w.N.). In diesen Fällen liegt keine Benachteiligung i.S.v. Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG vor (vgl. zur Legasthenie Kischel in BeckOK GG, Epping/Hillgruber, 53. Edition Stand: 15.11.2022, Art. 3 Rn. 244). Ein Nachteilsausgleich kommt nur dann in Betracht, wenn für den Betroffenen der Nachweis der vorhandenen Befähigung erschwert ist, insbesondere bei Beeinträchtigungen der mechanischen Darstellungsfähigkeit (Jeremias in Fischer/Jeremias/Dieterich, Prüfungsrecht, 8. Aufl. 2022, Rn. 301g). Typische Fälle sind Sehoder Hörstörungen sowie Behinderungen beim Schreiben, bei denen der Grundsatz der Chancengleichheit gebietet, den Nachteil der Darstellungsfähigkeit soweit auszugleichen, dass die Prüfungsbedingungen des Betroffenen denen der nichtbehinderten Mitprüflinge entsprechen (VG Ansbach, B.v. 26.4.2013 – AN 2 E 13754 – beck-online). Die von der Antragstellerseite vorgebrachten Einwände gegen eine Unterscheidung zwischen körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen ist vor diesem Hintergrund daher sehr wohl vorzunehmen. Es geht dabei nicht um die medizinische Verortung der Ursache einer Beeinträchtigung, sondern in welcher Weise die Krankheit zu Beeinträchtigungen führt.
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Dies zu Grunde gelegt, ergibt sich im konkreten Fall nach Maßgabe des hier anzulegenden Prüfungsmaßstabes Folgendes:
19
Gem. § 2 Abs. 1 Satz 2 PO soll durch die Bachelorprüfung festgestellt werden, ob die Studierende die Zusammenhänge des Faches überblickt und kritisch beurteilen kann, die Fähigkeit besitzt, dessen wissenschaftliche Methoden und Erkenntnisse anzuwenden sowie die für den Übergang in die Berufspraxis notwendigen Fachkenntnisse und Schlüsselqualifikationen erworben hat. Vor diesem Hintergrund ist auch der Prüfungszweck der einzelnen Prüfungsleistungen i.S.v. § 7 Abs. 3 PO zu bestimmen, die gem. § 18 Abs. 1 PO Bestandteil der Bachelorprüfung sind. Gem. § 20 Abs. 2 Satz 1 PO beträgt die Prüfungsdauer bei schriftlichen Prüfungen in Form einer Klausur mindestens 60 und höchstens 90 Minuten. Daraus ergibt sich, dass die streitgegenständlichen schriftlichen Prüfungsleistungen in Form von Klausuren dazu dienen, die geistig-fachlichen Fähigkeiten der Studierenden unter Einhaltung eines zeitlichen Rahmens abzuprüfen. Bei einer begrenzten Prüfungszeit besteht ein Teil der Leistungsanforderung gerade auch darin, die gestellten Aufgaben innerhalb der Prüfungszeit bearbeiten zu können (VG München, U.v. 26.2.2019 – M 3 K 19.251 – juris Rn. 27).
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Die von der Antragstellerin vorgetragenen und insoweit auch durch die gutachterliche Stellungnahme des behandelnden Facharztes glaubhaft gemachten Beeinträchtigungen betreffen die Fähigkeiten, die durch die jeweiligen Prüfungen gerade festgestellt werden sollen. Die glaubhaft gemachten Erkrankungen sowie die durch die notwendige Medikation ausgelösten Nebenwirkungen führen zu erheblichen Konzentrationsstörungen, Gedächtnisstörungen, Störungen der Aufmerksamkeit und Verminderung der Merkfähigkeit. Diese Beeinträchtigungen führen laut des glaubhaft gemachten Vortrags der Antragstellerseite zu Verzögerungen und Beeinträchtigungen der Arbeitsgeschwindigkeit und Leistungsfähigkeit. Damit liegt jedoch gerade eine Beeinträchtigung vor, die einen prüfungsrelevanten Gegenstand betrifft (vgl. auch zu Epilepsie und Schreibzeitverlängerung VG München, U.v. 26.2.2019 – M 3 K 19.251 – juris Rn. 28). Die Krankheiten der Antragstellerin beeinträchtigen das abzuprüfende Leistungsbild, sowohl die abgeprüften kognitiven Fähigkeiten als solche als auch die Fähigkeit, die Prüfungsaufgaben in der vorgegebenen Zeit zu lösen. Es liegt keine bloße Beeinträchtigung der Darstellungsfähigkeit vor. Eine solche wäre allenfalls dahingehend begründbar, dass die Antragstellerin ihr an sich präsentes Wissen aufgrund ihrer Einschränkungen nicht in der Weise „aufs Papier“ bringen kann, wie dies ein gesunder Prüfling zu tun vermag. Allerdings ist gerade die Fähigkeit, das Wissen innerhalb des gesetzten Rahmens der Prüfung zeigen zu können, Teil des Prüfungsgegenstandes. Die Fähigkeit sich konzentrieren zu können und die Lösung innerhalb des gesetzten zeitlichen Rahmens und der gestellten Aufgaben darstellen zu können, ist letztlich die Fähigkeit, die durch die Prüfungen festgestellt werden soll. Die Antragstellerin wird durch ihre Erkrankungen nicht daran gehindert, eine im Kopf gefundene Lösung darzustellen, sondern sie ist aufgrund der geschilderten Symptome bereits in der Lösungsfindung eingeschränkt (vgl. auch zu ADHS OVG NW, B.v. 13.7.2021 – 6 B 986/21 – juris Rn. 20). Ob die Beeinträchtigungen dauerhaft bestehen oder nur vorübergehend sind, ist im Rahmen des Nachteilsausgleich unerheblich (VG München, U.v. 26.2.2019 – M 3 K 19.251 – juris Rn. 30).
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Die von der Antragstellerin beantragten und auf der gutachterlichen Stellungnahme ihres behandelnden Facharztes beruhenden Maßnahmen des Nachteilsausgleichs mögen daher zwar medizinisch sinnvoll sein, sie führen jedoch zu einer Beeinträchtigung der Chancengleichheit zwischen der Antragstellerin und den restlichen Prüflingen. Dies gilt jedenfalls für die beantragte Verlängerung der Bearbeitungszeit sowie für die zusätzlichen Pausen. Beides erlaubt es der Antragstellerin, die geforderte Prüfungsleistung in einem längeren Zeitraum zu erbringen, als dies ihren Mitprüflingen gestattet ist. Hierdurch wird jedoch die festzustellende Prüfungsleistung verzerrt. Dies gilt auch für die zu gewährenden Pausen, da die Prüfungsleistung auch darin liegt, sich über einen gewissen Zeitraum durchgehend konzentrieren zu können und zum anderen die Pause auch dazu genutzt werden kann, über die gestellten Prüfungsaufgaben weiter nachzudenken.
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Etwas anders ergibt sich hinsichtlich der Bearbeitung in einem separaten Raum. Die Fähigkeit, sich trotz Störungen weiter konzentrieren zu können, ist nicht Teil der Prüfungsleistung (vgl. zur ärztlichen Prüfung Nachteilsausgleich wegen psychischer Erkrankung VG Freiburg, U.v. 5.8.2021 – 1 K 3332/20 – juris Rn. 42; zu Autismus in der juristischen Staatsprüfung VGH BW, B.v. 22.2.2021 – 9 S 556/21 – juris Rn. 10). Die Fähigkeit, sich trotz äußerer Einflüsse zu konzentrieren, ist durch die Erkrankungen der Antragstellerin beschränkt und kann laut der glaubhaften Darstellung in der gutachterlichen Stellungnahme des behandelnden Facharztes durch die Anfertigung der Prüfungsarbeit in einem separaten Prüfungsraum adäquat ausgeglichen werden. Hierdurch entsteht der Antragstellerin auch kein ungebührlicher Vorteil im Vergleich zu ihren Mitprüflingen. Die angefertigten Prüfungsleistungen sind vergleichbar: Es sind dieselben Prüfungsaufgaben innerhalb desselben Bearbeitungszeitraums anzufertigen. Dass die Antragstellerin in einem ruhigeren Raum schreiben darf, ist hierbei kein den Wettbewerb verzerrender Faktor. Gerade auch vor dem Hintergrund, dass laut der gutachterlichen Stellungnahme des behandelnden Facharztes in der Stresssituation einer Prüfung die Gefahr eines epileptischen Anfalls besonders hoch sei und es hierdurch zu Beeinträchtigungen der anderen Mitprüflinge kommen könne, dürfte nach der hier veranlassten summarischen Prüfung, keine Verletzung der Chancengleichheit bestehen.
23
Die einstweilige Anordnung ergeht lediglich bezüglich der schriftlichen Klausuren im ersten Fachsemester. Eine darüber hinausgehende Anordnung erscheint derzeit nicht notwendig zu sein. Darüber hinaus sind die krankheitsbedingten Beeinträchtigungen der Antragstellerin derzeit auch nicht für die restliche Studienzeit bzw. bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache absehbar.
24
Die Kostenfolge ergibt sich aus § 155 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 VwGO. Die Höhe des Streitwerts ergibt sich aus § 53 Abs. 2 Nr. 1 Gerichtskostengesetz (GKG), § 52 Abs. 2 GKG. Eine Halbierung des Streitwerts nach Ziffer 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit unterbleibt, da die Hauptsache zumindest teilweise vorweggenommen wird.