Titel:
Abwägungsfehler im Bebauungsplan und Ausnahme von der Präklusion von Rügen nach Versteichen der Rügefrist
Normenkette:
BauGB § 215 Abs. 1
Leitsatz:
Ein beachtlicher Mangel im Abwägungsergebnis, der als „Ewigkeitsfehler“ nicht der Präklusion des § 215 Abs. 1 BauGB unterfällt, ist nur anzunehmen, wenn die Grenzen der planerischen Gestaltungsfreiheit überschritten sind, wenn also eine fehlerfreie Nachholung der erforderlichen Abwägung schlechterdings nicht zum selben Ergebnis führen könnte, weil anderenfalls der Ausgleich zwischen den von der Planung berührten öffentlichen Belangen in einer Weise vorgenommen würde, der zur objektiven Gewichtigkeit einzelner Belange außer Verhältnis steht. (Rn. 9) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Verlängerung eines Vorbescheids, Beschränkung der Anzahl der Wohneinheiten durch Bebauungsplan, Inzidentprüfung eines Bebauungsplans, Mangel im Abwägungsergebnis (verneint), Bebauungsplan, Planerhaltung, Abwägungsfehler, Rügefrist, Präklusion, Ausnahme, Ewigkeitsfehler, Voraussetzungen
Vorinstanz:
VG München, Urteil vom 24.06.2021 – M 11 K 19.4068
Fundstelle:
BeckRS 2023, 12044
Tenor
I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens. Die Beigeladene trägt ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 100.000 Euro festgesetzt.
Gründe
1
Die Klägerin begehrt die Erteilung einer Baugenehmigung für die Errichtung eines Mehrfamilienhauses mit zehn Wohneinheiten und Tiefgarage.
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Das Landratsamt erteilte der Klägerin am 20. Mai 2015 einen Vorbescheid zur Errichtung eines Wohngebäudes mit Tiefgarage, der zuletzt mit Bescheid vom 19. Juni 2020 verlängert wurde. Dieser Verlängerungsbescheid enthält den Hinweis, dass weder der ursprüngliche Vorbescheid noch der vorhergehende Verlängerungsbescheid eine Aussage zur Anzahl der zulässigen Wohneinheiten treffe und sich daher diesbezüglich keine Bindungswirkung ergebe.
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Den Antrag auf Erteilung der Baugenehmigung lehnte das Landratsamt mit Bescheid vom 10. Juli 2019 ab, da die zwischenzeitlich von der Beigeladenen beschlossene Veränderungssperre dem Vorhaben entgegenstehe. Die hiergegen gerichtete Klage wies das Verwaltungsgericht ab. Das Vorhaben sei bauplanungsrechtlich unzulässig, weil es der Festsetzung zur Beschränkung der Anzahl der Wohneinheiten des im September 2019 erlassenen Bebauungsplans widerspreche. Der Bebauungsplan sehe vor, dass je volle 300 m² Grundstücksfläche (Bauland) eine Wohneinheit in Wohngebäuden zulässig sei, sodass auf den Vorhabengrundstücken, deren Fläche zusammen 1.218 m² betrage, maximal vier Wohneinheiten genehmigungsfähig seien. Gegen die Wirksamkeit des Bebauungsplans beständen keine Bedenken, insbesondere seien Abwägungsfehler nicht ersichtlich. Aus dem ursprünglichen Vorbescheid bzw. den Verlängerungsbescheiden folge kein Anspruch auf Erteilung der Baugenehmigung. Es könne offenbleiben, welchen Regelungsgehalt der ursprüngliche Vorbescheid gehabt habe, da sich aus dem maßgeblichen Verlängerungsbescheid ergebe, dass eine positive Zulassungsentscheidung zur Anzahl der Wohneinheiten nicht erfolgt sei.
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Der Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. Der allein geltend gemachte Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) liegt nicht vor bzw. ist nicht dargelegt (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO).
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Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils, die die Zulassung der Berufung rechtfertigen, sind zu bejahen, wenn ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Verwaltungsgerichts mit schlüssigen Argumenten in Frage gestellt wird (vgl. BVerfG, B.v. 8.5.2019 – 2 BvR 657/19 – juris Rn. 33; B.v. 20.12.2010 – 1 BvR 2011/10 – NVwZ 2011, 546) und die Zweifel an der Richtigkeit einzelner Begründungselemente auf das Ergebnis durchschlagen (vgl. BVerwG, B.v. 10.3.2004 – 7 AV 4.03 – DVBl 2004, 838). Das ist nicht der Fall.
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1. Die Klägerin zeigt keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der Annahme des Verwaltungsgerichts auf, dass sich aus dem Vorbescheid bzw. den Verlängerungsbescheiden kein Anspruch auf Erteilung der Baugenehmigung ergibt.
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Es kann hier offenbleiben, ob der ursprüngliche Vorbescheid auch die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit von zehn Wohneinheiten zum Inhalt hatte. Denn der ursprüngliche Vorbescheid ist nach drei Jahren erloschen. Die Entscheidung über die Verlängerung eines Vorbescheids ist ein eigenständiger Verwaltungsakt unter erleichterten Verfahrensbedingungen, in dessen Rahmen die materiell-rechtlichen Voraussetzungen erneut zu prüfen sind (vgl. Laser in Schwarzer/König BayBO, 5. Auflage 2022, Art. 71 Rn. 2), sodass für die Bindungswirkung allein auf den Regelungsgehalt des zuletzt ergangenen Verlängerungsbescheids vom 19. Juni 2020 abzustellen ist. Anhand des in diesem Bescheid enthaltenen Hinweises ergibt sich nach dem maßgeblichen objektiven Empfängerhorizont unzweifelhaft, dass die Frage der Anzahl der zulässigen Wohneinheiten nicht an der Regelungswirkung des Verlängerungsbescheids teilnimmt. Auf Grund der Bestandskraft des Verlängerungsbescheids ist die von der Klägerin aufgeworfene Frage, ob die Behörde befugt gewesen sei, einen Verlängerungsbescheid mit einem „eingeschränkten“ Regelungsinhalt zu erlassen, der von der gestellten Vorbescheidsfrage abweiche, nicht entscheidungserheblich. Im Übrigen könnte die geltend gemachte „Einschränkung“ nur dahingehend ausgelegt werden, dass die Verlängerung des Vorbescheids insoweit abgelehnt wurde.
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2. Soweit die Klägerin rügt, das Verwaltungsgericht sei zu Unrecht im Rahmen seiner Inzidentprüfung von der Wirksamkeit des Bebauungsplans und der darin enthaltenen Festsetzung zur Beschränkung der Anzahl der Wohneinheiten ausgegangen, werden ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils nicht dargelegt.
9
Mit dem innerhalb der Begründungsfrist des Zulassungsantrags erfolgten Vortrag macht die Klägerin – unter weitgehender Wiederholung des erstinstanzlichen Vortrags – gegen den Bebauungsplan im Wesentlichen Ermittlungs- bzw. Bewertungsdefizite im Rahmen des Abwägungsvorgangs geltend. Nach den unwidersprochen gebliebenen Ausführungen der Landesanwaltschaft in der Antragserwiderung sind bei der Beigeladenen innerhalb der Rügefrist des § 215 Abs. 1 BauGB keine Rügeschreiben eingegangen, sodass etwaige Ermittlungs- und Bewertungsdefizite im Rahmen des Abwägungsvorgangs unbeachtlich geworden sind (§ 215 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und 3, § 214 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BauGB. Ein beachtlicher Mangel im Abwägungsergebnis, der als „Ewigkeitsfehler“ nicht der Präklusion des § 215 Abs. 1 BauGB unterfällt und damit Gegenstand der gerichtlichen Inzidentprüfung ist, ist nicht dargetan. Ein solcher Mangel im Abwägungsergebnis ist – ausnahmsweise – nur anzunehmen, wenn die Grenzen der planerischen Gestaltungsfreiheit überschritten sind, wenn also eine fehlerfreie Nachholung der erforderlichen Abwägung schlechterdings nicht zum selben Ergebnis führen könnte, weil anderenfalls der Ausgleich zwischen den von der Planung berührten öffentlichen Belangen in einer Weise vorgenommen würde, der zur objektiven Gewichtigkeit einzelner Belange außer Verhältnis steht, und deshalb ohne die Möglichkeit eines „Wegwägens“ die Grenzen der planerischen Gestaltungsfreiheit überschritten sind (vgl. BVerwG, U.v. 5.5.2015 – 4 CN 4.14 – NVwZ 2015, 1537; U.v. 22.9.2010 – 4 CN 2.10 – BVerwGE 138, 12; BayVGH, B.v. 20.9.2022 – 15 ZB 21.2855 – juris Rn. 38). Ist ein angegriffener Bebauungsplan bzw. eine angegriffene Festsetzung trotz eines eventuellen Abwägungsfehlers städtebaulich vertretbar, liegt kein „Ewigkeitsfehler“ im Abwägungsergebnis, sondern nur ein der Präklusion unterfallender Fehler im Abwägungsvorgang vor. Das gilt selbst dann, wenn ein vollständiger Abwägungsausfall gegeben ist (BVerwG, U.v. 22.9.2010 a.a.O.).
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Hieran gemessen sind beachtliche Mängel im Abwägungsergebnis nicht dargelegt. Soweit die Klägerin meint, dass das planerische Ziel der Gemeinde, eine weitere Verschärfung der Verkehrssituation in der E. straße zu vermeiden, durch den Bebauungsplan nicht erreicht werden könne, da auch durch die im Bebauungsplan zugelassene Bebauung eine Verdoppelung der Wohneinheiten gegenüber der Bestandsbebauung erfolge und dies zu einer Verschärfung bzw. einem Kollaps der jetzt schon an ihre Kapazitätsgrenzen stoßenden E. straße führe, erschöpft sich das Zulassungsvorbringen im Wesentlichen in der Wiederholung der erstinstanzlichen Ausführungen. Das Zulassungsvorbringen setzt sich mit den tragenden Ausführungen des Verwaltungsgerichts hierzu, wonach sich anhand der Begründung des Bebauungsplans ergebe, dass die Beigeladene eine durch die Zulassung weiterer Wohneinheiten ausgelöste Zunahme des Verkehrs in der E. straße in gewissem Umfang für hinnehmbar gehalten habe, nicht auseinander. Selbiges gilt für den Vortrag, wonach sich auf Grund der Lage des Vorhabengrundstücks eine Erschließung über die P. straße aufdrängen würde. Unabhängig davon, dass die Frage der Alternativenprüfung grundsätzlich dem Abwägungsvorgang zuzurechnen ist und etwaige Mängel hierzu unbeachtlich geworden sind, fehlt es an einer Auseinandersetzung mit den auf dem Ergebnis eines Augenscheins beruhenden Ausführungen des Verwaltungsgerichts, dass auf Grund der straßenverkehrsrechtlichen Situation in der an das Vorhabengrundstück angrenzenden Bäckergasse vor dem Vorhabengrundstück (Einbahnstraße in Gegenrichtung zur P. straße) die von der Klägerin gewünschte Alternative nicht nahe gelegen hätte.
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Die Klägerin hat die Kosten des Zulassungsverfahrens zu tragen, weil ihr Rechtsmittel erfolglos geblieben ist (§ 154 Abs. 2 VwGO). Es entspricht der Billigkeit, dass die Beigeladene ihre außergerichtlichen Kosten selbst trägt (§ 162 Abs. 3 VwGO).
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Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG und entspricht dem vom Verwaltungsgericht festgesetzten Betrag.
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Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).