Inhalt

AG Augsburg, Beschluss v. 27.03.2023 – 04 Cs 210 Js 141387/20
Titel:

Sachverständigengutachten, Dringender Tatverdacht, Unterbringung zur Beobachtung, Gemeingefährlichkeit, Eingeschränkte Schuldfähigkeit, Gefährliche Körperverletzung, Sachaufklärungspflicht, Stationäre Unterbringung, Hauptverhandlungstermin, Unerlässlichkeit, Betreuungsverfahren, Strafbefehlsantrag, Selbstbelastungsfreiheit, Gutachterliche Stellungnahme, Tateinheitliches, Gutachten nach Aktenlage, Beschlüsse des Amtsgerichts, Medizinische Voraussetzungen, Gutachtenerstellung, Hinzuverbundene Verfahren

Schlagworte:
Dringender Tatverdacht, Verfahrensverlauf, Geeignetheit, Erforderlichkeit, Angemessenheit, Verhältnismäßigkeit
Rechtsmittelinstanzen:
LG Augsburg, Beschluss vom 13.04.2023 – 14 Qs 101/23
BVerfG Karlsruhe, Beschluss vom 19.05.2023 – 2 BvR 637/23
BVerfG Karlsruhe, Beschluss vom 07.11.2023 – 2 BvR 637/23
BVerfG Karlsruhe, Beschluss vom 27.02.2024 – 2 BvR 637/23
Fundstelle:
BeckRS 2023, 11960

Tenor

1. Die Unterbringung der Angeklagten zur Vorbereitung eines Gutachtens über ihren psychischen Zustand wird für die Dauer von höchstens 6 Wochen im Bezirkskrankenhaus ... angeordnet.
2. Die Angeklagte ist zu entlassen, sobald Klarheit über ihren psychischen Zustand besteht, spätestens jedoch mit Ablauf der angeordneten Dauer.

Gründe

1
Die Voraussetzungen des § 81 StPO liegen vor. Die Angeklagte ist mehrerer Straftaten gemäß § 81 Abs. 2 Satz 1 StPO dringend verdächtig. Auch dient die Unterbringung der Vorbereitung eines Gutachtens über den psychischen Zustand der Angeklagten gemäß § 81 Abs. 1 StPO, namentlich der Klärung der Schuldfähigkeit (§§ 20, 21 StGB) und der Frage der Gemeingefährlichkeit (§ 63 StGB). Die Unterbringung ist auch verhältnismäßig, § 81 Abs. 2 Satz 2 StPO.
1. Bisheriger Verfahrensverlauf
2
Nachdem im Verfahren 04 Cs 210 Js 141387/20 am 15.12.2020 ein Strafbefehlsantrag (Bl. 38/40 d.A.) seitens der Staatsanwaltschaft ... gestellt wurde und sich aus dem Betreuungsverfahren betreffend die Angeklagte Anhaltspunkte für eine verminderte oder aufgehobene Schuldfähigkeit ergaben, wurde die Entscheidung über den Strafbefehlsantrag ausgesetzt und mit Beschluss des Amtsgerichts Augsburg vom 17.03.2021 (Bl. 46 d.A.) die Erholung eines Sachverständigengutachtens zur Frage des Vorliegens der medizinischen Voraussetzungen der §§ 20, 21 StGB angeordnet. Mit der Erstattung des Gutachtens wurde Dr. med. … beauftragt.
3
Mit Beschluss des Amtsgerichts Augsburg vom 20.08.2021 (Bl. 61 d.A.) wurde der Angeklagten Rechtsanwalt … als Pflichtverteidiger beigeordnet.
4
Die Angeklagte wurde durch den Sachverständigen zum Explorationsgespräch am 08.09.2021 geladen (Bl. 56 d.A.). Diesen Termin sagte die Angeklagte am 08.09.2021 telefonisch aufgrund Erkrankung ab (Bl. 65 d.A.). Der Sachverständige lud die Angeklagte daraufhin zum nächstmöglichen Explorationstermin am 24.02.2022 (Bl. 66 d.A.).
5
Das Amtsgericht Augsburg erließ im Verfahren 04 Cs 303 Js 131377/21 (2) am 20.10.2021 einen Strafbefehl wegen Besitzes von Betäubungsmitteln. Nachdem Einspruch eingelegt wurde, wurde das Verfahren zum Verfahren 04 Cs 210 Js 141387/20 mit Beschluss des Amtsgerichts Augsburg vom 11.11.2021 (Bl. 74 d.A.) hinzuverbunden.
6
Die Angeklagte erschien zum Explorationstermin vom 24.02.2022 trotz mehrfacher telefonischer Terminzusagen um 28 Minuten verspätet, sodass die Exploration aufgrund von Folgeterminen durch den Sachverständigen an diesem Tag nicht mehr durchgeführt werden konnte (Bl. 79 d.A.).
7
Mit Verfügung vom 22.03.2022 wurde eine Gutachtenerstellung nach Aktenlage angeordnet und mit dem Sachverständigen vereinbart, die Exploration im Rahmen der Hauptverhandlung durchzuführen (Bl. 82 d.A.).
8
Eine neue Anklage der Staatsanwaltschaft ... vom 28.03.2022 wegen gefährlicher Körperverletzung im Verfahren 04 Ds 305 Js 109739/22 sowie ein Strafbefehl des Amtsgerichts Augsburg vom 03.03.2022 wegen versuchter Körperverletzung in Tateinheit mit Bedrohung und mit Beleidigung im Verfahren 04 Cs 207 Js 107030/22 wurden mit Beschluss des Amtsgerichts Augsburg vom 21.04.2022 (Bl. 86 d.A.) hinzuverbunden.
9
Mit Beschluss vom 04.05.2022 wurden aufgrund Bedenken gem. § 408 Abs. 3 S. 2 StPO hinsichtlich des Strafbefehlsantrags vom 15.12.2020 die Hauptverhandlung anberaumt und Termin zum 12.07.2022 anberaumt (Bl. 93/94 d.A.)
10
Dieser Termin wurde am 12.07.2022 aufgrund Erkrankung der Richterin abgesetzt (Bl. 99 d.A.) und sodann der – für den Sachverständigen nächstmögliche – Termin auf den 01.02.2023 bestimmt (Bl. 110 d.A.)
11
Mit Verfügung vom 15.09.2022 wurde der Sachverständige mit einer ergänzenden gutachterlichen Stellungnahme nach Aktenlage hinsichtlich der nachträglich hinzuverbundenen Verfahren beauftragt (Bl. 114 d.A.).
12
In seinem Gutachten nach Aktenlage vom 12.04.2022, bezogen auf die Verfahren 04 Cs 210 Js 141387/20 und 04 Cs 303 Js 131377/21 (2) kam der Sachverständige zu dem Ergebnis, dass zu beiden Tatzeitpunkten jeweils eine akute Mischintoxikation und damit einhergehend eine substanzinduzierte psychotische Störung (ICD-10: F19.0, F19.5) vorgelegen haben könnte und aufgrund der Zeugenschilderungen in der Akte jeweils eine aufgehobene Einsichtsfähigkeit gem. § 20 StGB nicht ausgeschlossen werden könne (S. 29 des Gutachtens vom 12.04.2022).
13
In seiner ergänzenden gutachterlichen Stellungnahme von 20.01.2023, bezogen auf die Verfahren 04 Cs 207 Js 107030/22 und 04 Ds 305 Js 109739/22 kommt der Sachverständige zu dem Ergebnis, dass hinsichtlich der Tat vom 02.03.2022 (Vorwurf der gefährlichen Körperverletzung, Verfahren 04 Ds 305 Js 109739/22) eine substanzinduzierte psychotische Störung (ICD-10: F19.5) vorgelegen haben dürfte und aufgrund der Zeugenaussagen und der im BKH … im BKH … erhobenen Befunde eine aufgehobene Einsichtsfähigkeit gem. § 20 StGB nicht ausgeschlossen werden könne (S. 11 der gutachterlichen Stellungnahme vom 20.01.2023). Hinsichtlich der Tat in den Verfahren 04 Cs 207 Js 107030/22 läge nach Aktenlage kein Anhaltspunkt für eine verminderte oder eingeschränkte Schuldfähigkeit vor.
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Im Hauptverhandlungstermin vom 01.02.2023 teilte der Sachverständige mit, dass insbesondere angesichts der Tat vom 02.03.2022 (Angriff auf den … mit einem Cuttermesser) Anhaltspunkte für das Vorliegen der Voraussetzungen des § 63 StGB vorliegen und er hierzu nach einer bloßen Exploration in der Hauptverhandlung keine Aussage treffen könne.
15
Die Angeklagte sicherte zu, an einem weiteren Explorationsgespräch teilzunehmen, ein solches wurde mit dem Sachverständigen für den 13.02.2023 vereinbart.
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Zu diesem erschien die Angeklagte zwar pünktlich, entschied sich aber nach Belehrung dazu, keine Angaben zu machen. Der Sachverständige teilte dem Gericht mit, dass sie einen psychisch angeschlagenen Eindruck hinterließ und regte eine Unterbringung gem. § 81 StPO an (Bl. 119 d.A.).
2. Anhörungen
2.1. Stellungnahme des Sachverständigen Dr. med. …
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Gemäß Stellungnahme des Sachverständigen vom 16.02.2023 (Bl. 121/122) gebe es bei der Angeklagten nach Aktenlage Hinweise auf das Vorliegen einer substanzinduzierten psychotischen Störung, differenzialdiagnostisch einer Schizophrenie. Insbesondere beim letzten „versuchten“ Explorationstermin am 13.02.2023 habe die Angeklagte auf den Sachverständigen einen psychisch angeschlagenen Eindruck gemacht, aus dem sich weitere Hinweise auf eine psychische Beeinträchtigung der Angeklagte ergeben. Zur Beantwortung der Frage nach den medizinischen Voraussetzungen der §§ 20, 21,63 StGB sei eine Untersuchung der Angeklagten unerlässlich. Da die bereits versuchten ambulanten Termine bislang nicht erfolgreich waren, sei eine Unterbringung zur Beobachtung aus forensisch-psychiatrischer Perspektive notwendig.
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Auf Nachfrage des Gerichts nach dem konkreten Untersuchungskonzept und der Geeignetheit der Beobachtung (Bl. 129 d.A.) teilte der Sachverständige mit weiterer Stellungnahme vom 10.03.2023 (Bl. 130 d.A.) mit, dass ein Explorationsgespräch im Rahmen der Unterbringung vorgesehen sei sowie, falls ein solches weiterhin nicht zustande komme, eine mehrwöchige Beobachtung, um anhand möglicherweise erneuten Verhaltensauffälligkeiten einen diagnostischen Rückschluss zu ziehen. Bei gegebenem Einverständnis seien auch Labor chemische Untersuchungen inklusive Drogentestungen geplant.
2.2. Stellungnahme der Staatsanwaltschaft ...
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Mit Stellungnahme der Staatsanwaltschaft ... vom 21.02.2023 (Bl. 124 d.A.) sowie vom 17.03.2023 (Bl. 131 d.A.) befürwortete diese die Unterbringung zur Beobachtung gem. § 81 StPO.
2.3. Stellungnahme des Verteidigers Rechtsanwalt …
20
Mit Stellungnahme des Verteidigers vom 27.02.2023 (Bl. 127/128 d.A.) sowie vom 17.03.2023 (Bl. 133 d.A.) teilte dieser mit, dass die Unterbringung zur Beobachtung unverhältnismäßig, insbesondere angesichts der fehlenden Mitwirkungsbereitschaft ungeeignet sei sowie außer Verhältnis zu der erwartenden Strafe oder Maßregel stehe. Darüber hinaus stünde angesichts der fehlenden Kooperationsbereitschaft der Angeklagten die Unterbringung der Selbstbelastungsfreiheit entgegen.
3. Dringender Tatverdacht, § 81 Abs. 2 S. 1 StPO
21
Die Angeklagte ist folgender Taten dringend verdächtig:
3.1. 04 Cs 210 Js 141387/20 – 16.10.2020 – Diebstahl und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit tätlicher Angriff auf Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit Beleidigung in zwei tateinheitlichen Fällen, §§ 242 Abs. 1, 113 Abs. 1, 114 Abs. 1, 185, 194, 52, 53 StGB
22
Im Rahmen des Verfahrens 04 Cs 210 Js 141387/20 wird der Angeklagten im Strafbefehlsantrag vom 15.12.2020 vorgeworfen, am 16.10.2020 in dem Supermarkt … in der … in … Waren im Wert von 30,43 € entwendet zu haben und im Rahmen der anschließenden polizeilichen Maßnahme Widerstand geleistet zu haben sowie die beiden Polizeibeamten tätlich angegriffen zu haben und diese beleidigt zu haben.
23
Der dringende Tatverdacht ergibt sich aus den Zeugenaussagen (Bl. 16/18, 19/21, 24/25 d.A.).
3.2. 04 Cs 303 Js 131377/21 (2) – 04.09.2021 – Besitz von Betäubungsmitteln, § 1 Abs. 1 BtMG iVm Anl. III zum BtmG, §§ 3 Abs. 1 Nr. 1, 29 Abs. 1 Nr, 3 BtMG
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Im Rahmen des Verfahrens 04 Cs 303 Js 131377/21 (2) liegt der Angeklagten im Strafbefehl des Amtsgerichts Augsburg vom 20.10.2022 zur Last, am 04.09.2021 0,1 Gramm Amphetamin in ihrer Wohnung in … in … besessen zu haben.
25
Der dringende Tatverdacht ergibt sich aus den Angaben der Zeugin … (Bl. 2/4 d.A.) sowie aus den Lichtbildaufnahmen der aufgefundenen Betäubungsmittel (Bl. 11/12 d.A.)
3.3. 04 Cs 207 Js 107030/22 – 24.11.2021 – versuchte Körperverletzung in Tateinheit mit Bedrohung und mit Beleidigung, §§ 223 Abs. 1, Abs. 2, 230, 241 Abs. 1, 185, 194, 22, 23 Abs. 1, 52 StGB
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Im Rahmen des Verfahrens 04 Cs 207 Js 107030/22 wird der Angeklagten im Strafbefehl des Amtsgerichts Augsburg vom 03.03.2022 vorgeworfen, am 24.11.2021 in der … in … im Rahmen einer Nachbarschaftsstreitigkeit versucht zu haben, die … durch einen Faustschlag zu verletzen und die Geschädigte bedroht und beleidigt zu haben.
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Der dringende Tatverdacht ergibt sich aus den Angaben der Zeugen … (Bl. 10/12 d.A.) und … (Bl. 16/19 d.A.).
3.4. 04 Ds 305 Js 109739/22 – 02.03.2022 – gefährliche Körperverletzung, § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB
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Im Rahmen des Verfahrens 02 Ds 305 Js 109739/22 liegt der Angeklagten zur Last, am 02.03.2022 in der … in … den … verletzt zu haben, indem sie diesem ein Cuttermesser in den Bauch stieß, wobei die Klinge hierbei einfuhr, sowie den Geschädigten mit den Fäusten und ihrer Tasche geschlagen und auf diesen einen Milchshake geworfen zu haben.
29
Der dringende Tatverdacht ergibt sich aus den Aussagen der Zeugen … (Bl. 10/12 d.A.) sowie … (Bl. 16/19) und … (Bl. 20/22).
4. Unterbringung zur Vorbereitung eines Gutachtens über den psychischen Zustand der Angeklagten, § 81 Abs. 1 StPO
30
Die Unterbringung dient der Vorbereitung eines Gutachtens über den psychischen Zustand der Angeklagten gemäß § 81 Abs. 1 StPO, namentlich der Klärung der Schuldfähigkeit (§§ 20, 21 StGB) und der Frage der Gemeingefährlichkeit (§ 63 StGB). Es liegen nach den nachvollziehbaren Ausführungen des Sachverständigen für die Taten aus den Verfahren 04 Cs 210 Js 141387/20, 04 Cs 303 Js 131377/21 (2) sowie 04 Ds 305 Js 109739/22 Anhaltspunkte dafür vor, dass bei der Angeklagten zu den jeweiligen Tatzeitpunkten jeweils eine akute Mischintoxikation und damit einhergehend eine substanzinduzierte psychotische Störung (ICD-10: F19.0, F19.5) vorgelegen haben könnte und aufgrund der Zeugenschilderungen in der Akte und der beigezogenen ärztlichen Unterlagen jeweils eine aufgehobene Einsichtsfähigkeit gem. § 20 StGB nicht ausgeschlossen werden kann.
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Nach Aussage des Sachverständigen liegen überdies Anhaltspunkte für die Voraussetzungen des § 63 StGB vor. Das Gericht schließt sich dem an, insbesondere erscheint eine derartige Anordnung nicht ausgeschlossen, sodass eine entsprechende Untersuchung der Gemeingefährlichkeit erforderlich und angesichts der Sachaufklärungspflicht des Gerichts geboten ist. Insbesondere liegen angesichts der angeklagten Gewaltdelikte, die ohne Weiteres die Grenze der Bagatellkriminalität überschritten haben, Anhaltspunkte für erhebliche zu erwartende rechtswidrige Taten gem. § 63 StGB vor.
5. Verhältnismäßigkeit, § 81 Abs. 2 S. 2 StPO
5.1. Geeignetheit
32
Die Unterbringung zur Beobachtung ist zur Erreichung des Ziels der Vorbereitung eines Gutachtens über den psychischen Zustand der Angeklagten, namentlich zur Klärung der Schuldfähigkeit (§§ 20, 21 StGB) und der Frage der Gemeingefährlichkeit (§ 63 StGB) geeignet. Zwar nahm die Angeklagte bislang entweder an ambulanten, freiwilligen Explorationsgesprächen nicht teil oder verweigerte vor Ort die Mitwirkung. Bei fehlender Bereitschaft des Beschuldigten zur Mitwirkung ist die Unterbringung nur zulässig, wenn gleichwohl ein verwertbares Ergebnis zu erwarten ist (KK-StPO/Hadamitzky, 9. Aufl. 2023, StPO § 81 Rn. 5).
33
Der Sachverständige legte dar, dass er im Rahmen der Unterbringung ein weiteres Explorationsgespräch versuchen wolle und im Rahmen einer Beobachtung etwaige Verhaltensauffälligkeiten untersuchen wolle. Insbesondere zur Frage der Gemeingefährlichkeit verspricht die Beobachtung der Angeklagten, vor allem im Kontakt mit anderen Menschen, Erfolg. Auch ist nicht ausgeschlossen, dass die Angeklagte im Rahmen der Unterbringung zu Explorationsgesprächen bereit sein wird, nachdem sie im Hauptverhandlungstermin vom 01.02.2023 ihre Mitwirkung zusagte. Darüber hinaus können mittels freiwilliger laborchemischer Untersuchungen Rückschlüsse auf eine Suchterkrankung gezogen werden.
34
Schon im Betreuungsverfahren wurde ausweislich des Gutachtens vom 27.12.2019 im Verfahren 2 XVII 2824/19 ein verwertbares Ergebnis aufgrund der Beobachtungen und Untersuchungen im Rahmen der stationären Unterbringung erlangt, wobei die Angeklagte dort im Rahmen der Unterbringung an den Untersuchungen freiwillig mitwirkte.
35
Zwar darf die Anordnung der Unterbringung nicht die Selbstbelastungsfreiheit umgehen, andererseits darf und muss nicht jegliche Weigerungshaltung der Angeklagten hingenommen werden ((MüKoStPO/Trück, 2. Aufl. 2023, StPO § 81 Rn. 11; BGH, Beschluss vom 10. 9. 2002 – 1 StR 169/02, NJW 2002, 3484, beck-online). Vielmehr hat das Gericht seiner Amtsaufklärungspflicht gem. § 244 Abs. 1 StPO nachzukommen und rechtlich und tatsächlich erhebliche Umstände für die Bewertung der Taten – wozu die medizinischen bzw. forensisch-psychiatrischen Voraussetzungen der §§ 20, 21 und 63 StGB gehören – zu ermitteln und aufzuklären.
5.2. Erforderlichkeit
36
Die Unterbringung ist vorliegend auch erforderlich, da kein milderes, gleich wirksames Mittel vorliegt. Die Unterbringung muss unerlässlich sein, d.h. ohne sie müsste die zu klärende Frage über dem psychischen Zustand nicht beurteilt werden können (BVerfG (3. Kammer des 2. Senats), Beschluss vom 9. 10. 2001 – 2 BvR 1523/01, NStZ 2002, 98 Rn. 5, beck-online; Krause in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl. 2017, § 81 Unterbringung des Beschuldigten zur Vorbereitung eines Gutachtens). Demnach müssen vor Anwendung des § 81 StPO alle anderen Mittel ausgeschöpft sein, um zu einer Beurteilung der Frage zu kommen.
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Vorliegend wurden bereits drei ambulante Explorationsgespräche erfolglos versucht. Darüber hinaus wurde versucht, mittels eines Gutachtens nach Aktenlage – auch unter Erschöpfung der Erkenntnisse aus dem Betreuungsverfahren und der dortigen Begutachtung und durch den Sachverständigen beigezogenen Unterlagen des …, des Bezirkskrankenhauses …, des Ärztehauses … und der … – in Verbindung mit einer Exploration im Hauptverhandlungstermin ein verwertbares Ergebnis zu erzielen. Zwar wäre nach Angaben des Sachverständigen eine Beurteilung nach einer Exploration in der Hauptverhandlung zur Frage des § 20 StGB möglich, zur Frage der Gemeingefährlichkeit gem. § 63 StGB sei jedoch eine Untersuchung erforderlich, die nicht durch die genannten anderweitigen Erhebungen ersetzt werden kann.
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Auch eine polizeiliche Vorführung ist nicht gleich wirksam, da die Angeklagte in der Vergangenheit zwar einmal zur Exploration erschien, sich jedoch dann vor Ort entschied, nicht mitzuwirken.
5.3. Angemessenheit bzw. Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne, § 81 Abs. 2 S. 2 StPO
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Die Anordnung der Unterbringung steht zur Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung nicht außer Verhältnis. Vorliegend sind 5 Taten angeklagt, von denen 4 Taten die Schwelle der Bagatellkriminalität zum Teil deutlich überschreiten. Sofern die medizinischen Voraussetzungen des § 20 StGB verneint würden, sähe grundsätzlich bereits der vorgeworfene Tatbestand des § 224 StGB (04 Ds 305 Js 109739/22) eine Freiheitsstrafe von mindestens 6 Monaten, der Tatbestand des § 114 StGB (04 Cs 210 Js 141387/20) eine Freiheitsstrafe von mindestens 3 Monaten vor. Angesichts der zahlreichen Taten mit hoher Gefährlichkeit wäre eine Gesamtfreiheitsstrafe zu erwarten.