Titel:
Vorläufiger Rechtsschutz gegen beabsichtigte Herausgabe eines rechtskräftigen Strafbefehls an einen Redakteur
Normenkette:
BayPrG Art. 4 Abs. 1
Leitsätze:
1. Die für Gerichtsentscheidungen geltende Publikationspflicht erstreckt sich auch auf Gerichtsentscheidungen, die ohne Hauptverhandlung/mündliche Verhandlung ergehen. Die Publikation derartiger Entscheidungen ist, sofern sie veröffentlichungswürdig sind, wegen des Rechtsstaatsprinzips, des Demokratiegebots und des Grundsatzes der Gewaltenteilung ebenso grds. gerechtfertigt. Dies gilt auch für einen Strafbefehl. (Rn. 28 – 29) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Gedanken, dass durch eine Veröffentlichung des Strafbefehls der Rechtsfortbildung sowie der Transparenz der Rechtsprechung gedient und öffentliche Kritik ermöglicht werden kann, greifen grds. bei einem Strafbefehl. Ansonsten wären Strafbefehle generell dem öffentlichen Diskurs entzogen. Der Sinn und Zweck des presserechtlichen Auskunftsanspruchs, der Presse Informationen über ein Strafverfahren zu gewähren, ist auch bei einem Strafbefehl einschlägig. (Rn. 29) (redaktioneller Leitsatz)
3. Ein Strafbefehl ist – auch wenn er einen schriftlichen Antrag der Staatsanwaltschaft voraussetzt – eine gerichtliche Entscheidung. Die summarische rechtliche Prüfung des von der Staatsanwaltschaft mit dem Strafbefehlsentwurf vorgelegten Akteninhalts ist eine originär richterliche Aufgabe. (Rn. 31) (redaktioneller Leitsatz)
4. Aus dem Umstand, dass ein Angeklagter auf einen Einspruch (§ 410 Abs. 1 S. 1 StPO) gegen den ihn betreffenden Strafbefehl bewusst verzichtet hat, kann er nicht ein abwägungsfestes Recht auf Geheimhaltung (der Hintergründe) dieser Entscheidung vor der Öffentlichkeit für sich ableiten. (Rn. 38) (redaktioneller Leitsatz)
5. Wer den Rechtsfrieden bricht, durch diese Tat und ihre Folgen Mitmenschen angreift oder verletzt, muss sich nicht nur den hierfür verhängten strafrechtlichen Sanktionen beugen, sondern er muss auch dulden, dass das von ihm selbst erregte Informationsinteresse der Öffentlichkeit auf den dafür üblichen Wegen befriedigt wird. (Rn. 23) (redaktioneller Leitsatz)
6. Der Vorrang des Berichtsinteresses gilt jedoch nicht schrankenlos. Die Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts muss im angemessenen Verhältnis zur Schwere des Fehlverhaltens und seiner sonstigen Bedeutung für die Öffentlichkeit stehen. Für die Intensität der Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts kommt es auch auf die Art und Weise der Darstellung, insbesondere auf den Grad der Verbreitung des Mediums an. Die genaue Grenze einer verantwortungsvollen Berichterstattung mit Blick auf eine mögliche Prangerwirkung lässt sich nur im Einzelfall bestimmen. (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)
7. Ein presserechtlicher Rechtssatz, dass Strafbefehle für sich genommen bereits nicht als veröffentlichungswürdige Gerichtsentscheidungen angesehen werden können, existiert nicht. (Rn. 31) (redaktioneller Leitsatz)
8. Auch aus dem Umstand, dass auf einen Einspruch gegen den Strafbefehl bewusst verzichtet worden ist, folgt nicht, dass sich ein abwägungsfestes Recht auf Geheimhaltung (der Hintergründe) dieser Entscheidung vor der Öffentlichkeit ableiten lässt. Generell gilt, dass auch der Inhalt gerichtlicher Entscheidungen, die nicht in öffentlicher Verhandlung getroffen wurden, der Öffentlichkeit nicht prinzipiell entzogen sind. (Rn. 38) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Einstweilige Anordnung, Anspruch auf Unterlassung der Herausgabe eines rechtskräftigen anonymisierten Strafbefehls an einen Redakteur (hier verneint), Allgemeines Persönlichkeitsrecht, Pressefreiheit, Presserechtlicher Auskunftsanspruch des Beigeladenen (hier bejaht), Presserecht
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 29.06.2023 – 7 CE 23.820
Fundstellen:
ZGI 2023, 193
LSK 2023, 11605
BeckRS 2023, 11605
Tenor
I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Der Beigeladene trägt seine außergerichtlichen Kosten selbst.
III. Der Streitwert wird auf 5.000 Euro festgesetzt.
Gründe
1
Der Antragsteller wendet sich im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes gegen die beabsichtigte Herausgabe eines rechtskräftigen Strafbefehls durch den Antragsgegner an den Beigeladenen.
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Der Antragsteller ist Geschäftsführer der … … GmbH. Gegen ihn wurde am … Mai 2020 durch das Amtsgericht München ein Strafbefehl erlassen (Az.: 1123 Js 313 Js 142804/20), der rechtskräftig wurde. Der im Strafbefehl dem Antragsteller zur Last gelegte Sachverhalt bezieht sich in zeitlicher Hinsicht auf Taten aus den Jahren 2013 bis 2016. Der Beigeladene, ein Redakteur des Handelsblatts, hat vom Antragsgegner – vertreten durch das Amtsgericht München – mit E-Mail vom 11. Januar 2023 die Übersendung einer anonymisierten Kopie dieses Strafbefehls erbeten.
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Der Antragsgegner hat die Herausgabe des vom Beigeladenen erbetenen Strafbefehls mit E-Mail vom 12. Januar 2023 zunächst abgelehnt. Eine Herausgabe rechtskräftiger Strafbefehle erfolge durch das Amtsgericht München grundsätzlich nicht. Vor dem Hintergrund der Persönlichkeitsrechte des Verurteilten verbiete sich eine Gleichstellung von Urteilen und rechtskräftigen Strafbefehlen. Bei einem Strafbefehl sei der Sachverhalt gerade nicht in einer öffentlichen Hauptverhandlung behandelt worden. Die Rechtskraft des angefragten Strafbefehls sei bereits im Juni 2020 eingetreten.
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Der Beigeladene verwies den Antragsgegner mit E-Mail vom 17. Januar 2023 auf weitere Veröffentlichungen des Handelsblatts, welche die Auswirkungen des strafgerichtlichen Verfahrens bis in die Gegenwart thematisierten. Mit weiterer E-Mail vom 21. März 2023 wies der Beigeladene den Antragsgegner auf den Beschluss der Kammer vom 14. März 2023 hin (VG München, B.v. 14.3.2023 – M 10 E 22.6192 – juris).
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Nach Anhörung des Antragstellers teilte das Amtsgericht München den Bevollmächtigten des Antragstellers mit Schreiben vom 19. April 2023 mit, dass die Herausgabe einer anonymisierten Abschrift des gegen den Antragsteller ergangenen Strafbefehls an den Beigeladenen erfolge, sollte nicht bis 21. April 2023, 13:00 Uhr, eine gerichtliche Untersagung bekannt werden. Auf die Begründung des Schreibens des Amtsgerichts Münchens vom 19. April 2023 wird Bezug genommen.
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Mit am 20. April 2023 beim Verwaltungsgericht München eingegangenem Schriftsatz beantragt der Antragsteller (sinngemäß),
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dem Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache, hilfsweise bis zur Rechtskraft eines ergehenden Beschlusses in diesem Verfahren, zu untersagen, dem Beigeladenen Auskunft durch Herausgabe einer vollständigen oder einer anonymisierten Kopie des Strafbefehls vom 19. Mai 2020 gegen den Antragsteller im Verfahren 1123 Js 313 Js 142804/20 zu erteilen.
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Zur Begründung wird in rechtlicher Hinsicht insbesondere ausgeführt, dass dem Antragsteller ein Anordnungsanspruch zur Seite stehe. Nach § 4 Bayerisches Pressegesetz (BayPrG) dürfte Auskunft nur erteilt werden, wenn keine gesetzlichen Verschwiegenheitspflichten entgegenstünden. Vorliegend müsse das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Antragstellers aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 Grundgesetz (GG) mit der für die Auskunft streitenden Pressefreiheit abgewogen werden. Der Auskunftsanspruch richte sich grundsätzlich nur auf die abstrakte Beantwortung konkreter Fragen, wobei die Form der Beantwortung im Ermessen der auskunftsverpflichteten Stelle liege. Im Einzelfall könne sich dieses Ermessen so reduzieren, dass der Anspruch nur durch Einsicht erfüllt werden könne. Dies werde von der Rechtsprechung für veröffentlichungswürdige Gerichtsentscheidungen angenommen. Es liege auf der Hand, dass ein Strafbefehl, der lediglich einen Sachverhalt und keine ausführliche rechtliche Begründung enthalte, diesen Zweck nicht erfüllen könne. Er trage weder zur materiell-rechtlichen noch prozessualen Weiterentwicklung des Rechts bei. Selbst wenn man von der Herausgabepflicht nicht schon deshalb Strafbefehle ausnehmen wollte, sei zumindest bei der Abwägung zu Gunsten des Antragstellers zu berücksichtigen, dass die gesetzliche Wertung, dass Strafbefehle nicht in öffentlicher Verhandlung erörtert und von der Justizverwaltung auch nicht von Amts wegen veröffentlicht würden, der Veröffentlichungswürdigkeit hohe Hürden setze. Schließlich sei auch nicht erkennbar, weshalb die länger als fünf Jahre zurückliegenden Vorwürfe für das öffentliche Interesse von Bedeutung sein sollten.
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Mit weiterem Schriftsatz vom 25. April 2023, auf dessen Inhalt Bezug genommen wird, hat der Antragsteller sein Vorbringen bekräftigt und vertieft. Über den Inhalt der Antragsbegründung vom 20. April 2023 hinaus wird insbesondere ausgeführt, dass in Bezug auf die im Strafbefehl wiedergegebene Sachverhaltsdarstellung der Staatsanwaltschaft ein überwiegendes Informationsinteresse ausgeschlossen sei. Bei einem Strafbefehl handele es sich nicht um eine gerichtliche Entscheidung, sondern um die Darstellung der Ermittlungsbehörde, deren Richtigkeit das Strafgericht mangels eigener Erkenntnisquellen ohne Hauptverhandlung schlicht nicht beurteilen könne. Der Einwand, der Angeschuldigte könne Einspruch erheben, wenn der Sachverhalt Fehler enthalte, gehe indessen weit an der praktischen Realität (und damit an der Gewährung effektiven Rechtsschutzes) vorbei: Das gebräuchlichste und insbesondere auch von den Staatsanwaltschaften im Freistaat Bayern vorgebrachte Argument für die Annahme eines Strafbefehls sei, dass die Angeschuldigten und gegebenenfalls die hinter ihnen stehenden Unternehmen auf diese Weise eine reputationsschädigende Hauptverhandlung vermeiden könnten. Der Grund für den Verzicht auf den Einspruch gegen einen Strafbefehl sei daher regelmäßig nicht die Fehlerfreiheit des von der Staatsanwaltschaft behaupteten Sachverhalts, sondern das Ergebnis einer Abwägung mit den drohenden Reputationsrisiken für sich und Dritte. Der Angeschuldigte akzeptiere mit dem Strafbefehl nicht die Sachverhaltsdarstellung, sondern allein die festgesetzte Strafe.
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Anders als in dem vom Beigeladenen genannten Verfahren der Kammer (Beschluss vom 14. Mai 2023 – M 10 E 22.6192) diene das streitige Auskunftsverfahren nicht als Hintergrundinformation für weitere Recherchen, sondern lediglich als Informationsquelle für weitere belastende und identifizierende Berichterstattung über den Antragsteller. Dem Beigeladenen seien von der Staatsanwaltschaft München I bereits auskunftsweise Eckdaten des Strafbefehls einschließlich des Strafmaßes mitgeteilt worden. Der Beigeladene werde die begehrte Vorlage des Strafbefehls publizistisch ausschlachten.
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Ein zu berücksichtigender Abwägungsfaktor sei zudem die Zeitspanne, die inzwischen verstrichen sei. Bei Presseberichten über Straftaten verändere sich das Interesse an der öffentlichen Berichterstattung mit zunehmendem zeitlichem Abstand zum Ereignis. Das Recht des Betroffenen, „alleine gelassen zu werden“, gewinne mit zunehmenden zeitlichem Abstand an Bedeutung (unter Verweis auf BVerfG, B.v. 6.11.2019 – 1 BvR 16/13 – BVerfGE 152, 152 = juris Rn. 98 m.w.N. [„Recht auf Vergessen I“]). Ferner werde vorsorglich darauf hingewiesen, dass die in der Entscheidung der Kammer vom 14. März 2023 in die Abwägung eingestellte Argumentation, der Betroffene könne sich gegen etwaige rechtsverletzende Berichterstattungen nachträglich zur Wehr setzen, an der Rechtswirklichkeit vorbeigehe. Ein zivilrechtlicher äußerungsrechtlicher Rechtsschutz nehme auch im Eilverfahren (nicht zuletzt aufgrund der erforderlichen Stellungnahmefristen der Antragsgegner) meist mehrere Wochen in Anspruch und dauere somit stets erheblich länger, als der zu verhindernde Artikel aktuell und wahrnehmbar sei. Der vom Antragsteller begehrte Schutz seines allgemeinen Persönlichkeitsrechts müsse also vom erkennenden Gericht selbst gewährt werden.
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Der Antragsgegner beantragt mit Schriftsatz vom 21. April 2023,
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den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung vom 20. April 2023 zurückzuweisen.
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Zur Begründung wird vorgetragen, dass ein Anordnungsanspruch nicht vorliege. Dem Beigeladenen stehe ein Anspruch auf Herausgabe eines anonymisierten Strafbefehls zu. Ebenso sei ein Anordnungsgrund nicht gegeben.
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Der Beigeladene hat sich mit Schriftsatz vom 27. April 2023 geäußert, ohne einen Antrag zu stellen. Er führt zusammengefasst aus, dass nach Recherchen des Handelsblatts die … … GmbH offenbar in einen umfassenden Datenskandal in der Reisebranche verwickelt sei, der von 2015 bis März 2023 angedauert habe und der die Vorgänge aus den Jahren 2018-2020 um den Antragsteller noch einmal aktualisiere. Das Handelsblatt habe dazu mehrere Artikel verfasst. Die Recherchen des Beigeladenen gäben Anlass zum Zweifel, ob die internen Compliance-Strukturen der … … GmbH tatsächlich so aufgestellt worden seien, wie man nach dem rechtskräftigen Abschluss der strafrechtlichen Verfahren gegen den Antragsteller und anderen angekündigt habe. Insbesondere hätten er und seine Kollegen Zweifel daran, dass die … … GmbH tatsächlich „höchste Standards“ in Bezug auf Governance, Compliance und ESG umgesetzt habe und diese einhalte. In diesem Zusammenhang wäre es für ihn auch wichtig zu wissen, auf welche Grundlage der Strafbefehl gestützt worden und was dessen Inhalt sei. Der Erhalt des Strafbefehls sei für ihn von eminenter Bedeutung, da er nur dann beurteilen könne, ob er seine Recherchen in diese Richtung fortsetzen solle oder ob der Strafbefehl gar keinen Bezug zu den aktuellen Vorwürfen habe.
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Der Antragsteller hat mit Schriftsatz vom 28. April 2023, auf den Bezug genommen wird, auf den Schriftsatz des Beigeladenen vom 27. April 2023 erwidert. Entgegen der Darstellung des Beigeladenen bestehe weder ein zeitlicher noch ein inhaltlicher Zusammenhang zwischen den im Strafbefehl dargelegten Inhalten und der sog. „Datenaffaire“, die eine Herausgabe des Strafbefehls verhältnismäßig, geschweige denn eilbedürftig machen würden. Tatsächlich liege der im Strafbefehl zugrundeliegende Sachverhalt noch erheblich weiter als dessen Erlass zurück und reiche bis ins Jahr 2013, also lange bevor der Antragsteller im April 2021 CEO der … … GmbH geworden sei. Der dem Strafbefehl zugrundeliegende Vorwurf betreffe einen Unternehmensbereich, der nicht in die damalige Zuständigkeit des Antragstellers gefallen sei, von der Staatsanwaltschaft aber auch (ohne deren angebliche Mitwirkung zu konkretisieren) gegenüber allen damaligen Geschäftsführern erhoben worden sei. Der Antragsteller und sein Strafverteidiger hätten sich damals entschieden gegen den Vorwurf verteidigt, wenn nicht im Wege einer Gesamtverständigung mit der Staatsanwaltschaft eine Bestrafung aller Geschäftsführer per Strafbefehl vereinbart worden wäre, um eine für die … … GmbH schädliche öffentliche Hauptverhandlung zu verhindern. Dieser Umstand bestätige die Bedeutung des im Schriftsatz vom 25. April 2023 vorgetragenen Arguments, dass ein Strafbefehl keine gerichtliche Entscheidung im Sinne der Rechtsprechung zur Veröffentlichungspflicht von Gerichtsentscheidungen sei. Der im Strafbefehl festgestellte Sachverhalt sei keine in einem „fair trial“ waffengleich ermittelte prozessuale Wahrheit, sondern eine einseitige Darstellung der Staatsanwaltschaft. In presserechtlicher, also auf Grundrechtsebene festzustellender Hinsicht könne daher von Gleichwertigkeit im Sinne des § 410 Abs. 3 Strafprozessordnung (StPO) keine Rede sein. Zusammengefasst sei ausgeschlossen, dass die Kenntnis des Beigeladenen vom anonymisierten Strafbefehl irgendetwas Relevantes zur Recherche des Beigeladenen zu der „Datenaffaire“ oder den im Nachgang des Strafbefehls angekündigten Compliance-Maßnahmen beitragen könne. Der Beigeladene habe nicht darlegen können, dass der Zugang zu dem anonymisierten Strafbefehl auch aktuell erforderlich sei.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte sowie die beigezogenen Vorgänge des Amtsgerichts München Bezug genommen.
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Der zulässige Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung bleibt ohne Erfolg.
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1. Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht auch schon vor Klageerhebung auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte, oder auch nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO zur Regelung eines vorläufigen Zustandes, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, wenn dies nötig erscheint, um wesentliche Nachteile für den Antragsteller abzuwenden. Dabei hat ein Antragsteller sowohl die Dringlichkeit einer Regelung (Anordnungsgrund) als auch das Bestehen eines zu sichernden Rechts (Anordnungsanspruch) glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2, § 294 ZPO). Maßgebend hierfür sind die rechtlichen und tatsächlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts.
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2. Der Antragsteller hat einen Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht. Nach summarischer Prüfung steht ihm gegenüber dem Antragsgegner kein Anspruch auf Unterlassung zu, dass dieser dem Beigeladenen gem. Art. 4 Abs. 1 Satz 1 BayPrG eine anonymisierte Abschrift des Strafbefehls vom 19. Mai 2020 im Verfahren 1123 Js 313 Js 142804/20 übermittelt. Die Grundvoraussetzung des von der Rechtsprechung im Wesentlichen aus einer Analogie zu § 1004 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 GG entwickelten öffentlich-rechtlichen Unterlassungsanspruchs (vgl. dazu auch: BayVGH, B.v. 8.11.2021 – 7 CE 21.1531 – juris Rn. 10 ff.) liegt nicht vor, nämlich die objektive Rechtswidrigkeit der konkreten Form der beabsichtigten presserechtlichen Auskunftserteilung an den Beigeladenen.
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a) Gemäß Art. 4 Abs. 1 Satz 1 BayPrG hat die Presse gegenüber Behörden ein Recht auf Auskunft. Die Auskunft darf nur verweigert werden, soweit aufgrund beamtenrechtlicher oder sonstiger gesetzlicher Vorschriften eine Verschwiegenheitspflicht besteht (Art. 4 Abs. 1 Satz 2 BayPrG). Verschwiegenheitspflichten können nicht nur aus (generellen) „Geheimhaltungsvorschriften“ folgen. Grenzen des presserechtlichen Auskunftsanspruchs können sich auch ergeben, wenn die Beantwortung einer Anfrage Grundrechte Dritter, etwa das allgemeine Persönlichkeitsrecht, berührt. In einem solchen Fall sind die widerstreitenden Grundrechtspositionen in einen angemessenen Ausgleich zu bringen und abzuwägen, ob dem verfassungsrechtlich aufgrund der Pressefreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG) gewährleisteten Informationsinteresse oder dem ebenfalls verfassungsrechtlich geschützten Persönlichkeitsrecht der Vorzug zu geben ist (vgl. BayVGH, B.v. 8.11.2021 – 7 CE 21.1531 – juris Rn. 11 m.w.N.).
22
b) Unter Berücksichtigung der einfach- und verfassungsrechtlichen Maßgaben hat der Antragsgegner die Herausgabe einer anonymisierten Version des Strafbefehls vom 19. Mai 2020 an den Beigeladenen nicht zu unterlassen. Der Beigeladene ist als Redakteur aktivlegitimiert im Hinblick auf den presserechtlichen Auskunftsanspruch, § 4 Abs. 1 Satz 2 BayPrG. Er hat den presserechtlichen Auskunftsanspruch jedenfalls auch gegenüber der Direktorin des Amtsgerichts München und damit der Behördenleitung im Sinne von Art. 4 Abs. 2 Satz 1 BayPrG geltend gemacht. Die Frage der Veröffentlichung und Herausgabe einer Entscheidung ist Verwaltungsaufgabe, insoweit handelt das Gericht als Behörde (vgl.: OVG NW, B.v. 11.1.2023 – 15 E 599/22 – juris Rn. 7 f.). Die Herausgabe des Strafbefehls an den Beigeladenen hat auch nicht gem. § 4 Abs. 2 Satz 2 BayPrG bzw. unter Berücksichtigung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts des Antragstellers zu unterbleiben.
23
aa) Eine Berichterstattung über Entstehung, Ausführung und Verfolgung einer Straftat unter Namensnennung, Abbildung und Darstellung des Straftäters greift zwangsläufig in dessen allgemeines Persönlichkeitsrecht ein, weil sie sein Fehlverhalten öffentlich bekanntmacht und seine Person in den Augen der Adressaten von vornherein negativ qualifiziert (BVerfG, B.v. 10.6.2009 – 1 BvR 1107/09 – juris, Rn. 15 m.w.N.). Wägt man das Öffentlichkeitsinteresse an einer Berichterstattung mit der Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts, die mit der identifizierenden Berichterstattung über Verfehlungen des Betroffenen verbunden ist, ab, verdient für die tagesaktuelle Berichterstattung über Straftaten regelmäßig das Informationsinteresse den Vorrang. Wer den Rechtsfrieden bricht, durch diese Tat und ihre Folgen Mitmenschen angreift oder verletzt, muss sich nicht nur den hierfür verhängten strafrechtlichen Sanktionen beugen, sondern er muss auch dulden, dass das von ihm selbst erregte Informationsinteresse der Öffentlichkeit auf den dafür üblichen Wegen befriedigt wird (BVerfG, B.v. 10.6.2009 – a.a.O., Rn. 15, 19).
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bb) Der Vorrang des Berichtsinteresses gilt jedoch nicht schrankenlos. So ist auf den unantastbaren innersten Lebensbereich Rücksicht zu nehmen. Die Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts muss ferner im angemessenen Verhältnis zur Schwere des Fehlverhaltens und seiner sonstigen Bedeutung für die Öffentlichkeit stehen. Danach ist die Namensnennung, Abbildung oder sonstige Identifizierung des Täters keineswegs immer zulässig. Das Persönlichkeitsrecht bietet Schutz vor einer zeitlich uneingeschränkten Befassung der Medien mit der Person des Straftäters und seiner Privatsphäre. Hat die das öffentliche Interesse veranlassende Tat mit der Strafverfolgung und Verurteilung die gebotene rechtliche Sanktion erfahren und ist die Öffentlichkeit hierüber hinreichend informiert worden, so lassen sich fortgesetzte oder wiederholte Eingriffe in den Persönlichkeitsbereich des Täters mit Blick auf sein Interesse an der Wiedereingliederung in die Gemeinschaft nicht ohne Weiteres rechtfertigen. Eine vollständige Immunisierung vor der ungewollten Darstellung persönlichkeitsrelevanter Geschehnisse ist damit jedoch nicht gemeint. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht vermittelt Straftätern keinen Anspruch darauf, in der Öffentlichkeit überhaupt nicht mit ihrer Tat konfrontiert zu werden. Selbst die Verbüßung der Straftat führt nicht dazu, dass ein Täter den uneingeschränkten Anspruch erwirbt, mit der Tat „allein gelassen zu werden“. Maßgeblich ist vielmehr stets, in welchem Ausmaß das Persönlichkeitsrecht – einschließlich des Resozialisierungsinteresses – des Straftäters von der Berichterstattung unter den konkreten Umständen beeinträchtigt wird. Für die Intensität der Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts kommt es auch auf die Art und Weise der Darstellung, insbesondere auf den Grad der Verbreitung des Mediums an. Die genaue Grenze einer verantwortungsvollen Berichterstattung mit Blick auf eine mögliche Prangerwirkung lässt sich nur im Einzelfall bestimmen (vgl. zum Ganzen BVerfG, B.v. 23.6.2020 – 1 BvR 1240/14 – juris Rn. 16 ff. m.w.N.; B.v. 10.6.2009 – a.a.O., Rn. 20-22).
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cc) Entgegen der Rechtsmeinung des Antragstellers führt die Tatsache, dass es vorliegend um die Herausgabe eines Strafbefehls geht, für sich genommen weder zur Unbegründetheit des presserechtlichen Auskunftsanspruchs des Beigeladenen noch zu einer Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts des Antragstellers. Die Kammer hält an folgenden grundsätzlichen rechtlichen Erwägungen im Beschluss vom 14. März 2023 (M 10 E 22.6192 – juris Rn. 38-42) fest:
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Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, B.v. 14.9.2015 – 1 BvR 857/15 – juris Rn. 16 ff.), die auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, U.v. 26.2.1997 – 6 C 3/96 – juris) Bezug nimmt, ist eine Rechtspflicht zur Publikation veröffentlichungswürdiger Gerichtsentscheidungen allgemein anerkannt. Erst der prinzipiell ungehinderte Zugang zu Informationen versetzt die Presse in den Stand, die ihr in der freiheitlichen Demokratie zukommenden Funktionen wirksam wahrzunehmen. Der Presse kommt neben einer Informationsinsbesondere eine Kontrollfunktion zu. Beide Funktionen sind berührt, wenn ein Pressevertreter zum Zwecke der Berichterstattung über ein gerichtliches Strafverfahren recherchiert. Die grundsätzliche Rechtspflicht zur Publikation veröffentlichungswürdiger Gerichtsentscheidungen folgt aus dem Rechtsstaatsgebot einschließlich der Justizgewährungspflicht, dem Demokratiegebot und dem Grundsatz der Gewaltenteilung. Diese Veröffentlichungspflicht erstreckt sich nicht nur auf rechtskräftige Entscheidungen, sondern kann bereits vor Rechtskraft greifen. Sie bezieht sich auf die Entscheidungen als solche in ihrem amtlichen Wortlaut. Hiermit korrespondiert ein presserechtlicher Auskunftsanspruch von Medienvertretern.
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Für die Frage der Veröffentlichungswürdigkeit ist gemäß der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, U.v. 26.2.1997, a.a.O., Rn. 27, 29) insbesondere das tatsächliche oder mutmaßliche Interesse der Öffentlichkeit und das Interesse derjenigen, die in entsprechenden Angelegenheiten um Rechtsschutz nachsuchen wollen, maßgeblich. Ein öffentliches Interesse besteht in der Regel bei entsprechenden Anfragen aus der Öffentlichkeit.
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Nach Auffassung der Kammer ist der zitierten Rechtsprechung des Bundesverfassungs- und des Bundesverwaltungsgerichts gerade keine Beschränkung der Publikationspflicht auf Urteile zu entnehmen. Das Bundesverfassungsgericht hat im Hinblick auf die Publikationspflicht, mit der ein presserechtlicher Auskunftsanspruch von Medienvertretern korrespondiert, terminologisch gerade allgemein auf Gerichtsentscheidungen abgestellt, obwohl es im konkret entschiedenen Fall um ein Strafurteil ging. Wenn das Bundesverfassungsgericht eine Publikationspflicht nur für Urteile hätte statuieren wollen, hätte es dies so formuliert und nicht den Oberbegriff „Entscheidungen“ gewählt. Das Bundesverwaltungsgericht hat ebenso den allgemeineren Begriff „Gerichtsentscheidungen“ verwendet und nicht lediglich auf Urteile rekurriert. Auch nach Sinn und Zweck der Publikationspflicht lässt sich aus der zitierten Rechtsprechung keine Beschränkung auf Urteile folgern. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts besteht eine Rechtspflicht zur Publikation veröffentlichungswürdiger Gerichtsentscheidungen wegen des Rechtsstaatsprinzips, des Demokratiegebots und des Grundsatzes der Gewaltenteilung (BVerfG, B.v. 14.9.2015, a.a.O., Rn. 20). Diese Pflicht hat das Bundesverfassungsgericht „gerade“ in dem dort entschiedenen Fall – der Herausgabe einer anonymisierten Kopie eines Strafurteils – wegen des Öffentlichkeitsgrundsatzes des gerichtlichen Verfahrens angenommen (BVerfG, B.v. 14.9.2015, a.a.O., Rn. 25). Insoweit ist der Öffentlichkeitsgrundsatz des gerichtlichen Verfahrens jedoch als zusätzliches weiteres (und auch konkretisierendes) Argument für eine Publikationspflicht zu verstehen (so explizit: BVerwG, U.v. 26.2.1997, a.a.O., Rn. 26; VG Aachen, U.v. 11.2.2020 – 8 K 276/16 – juris Rn. 45). Dies bedeutet damit nicht, dass die Publikationspflicht bei Gerichtsentscheidungen, die ohne Hauptverhandlung/mündliche Verhandlung ergehen, nicht gilt. Sondern die Publikation derartiger Entscheidungen ist, sofern sie veröffentlichungswürdig sind, wegen des Rechtsstaatsprinzips, des Demokratiegebots und des Grundsatzes der Gewaltenteilung ebenso grundsätzlich gerechtfertigt (so zur Herausgabe eines Strafbefehls explizit unter Berufung auf diese Rechtsprechung: VG Aachen, U.v. 11.2.2020, a.a.O.; beanstandet (nur) im Hinblick auf die angewandte Anspruchsgrundlage durch OVG NRW, B.v. 11.1.2023 – 15 E 599/22 – juris: § 4 Abs. 1 IFG NRW stellt keine Anspruchsgrundlage für die Veröffentlichung einer anonymisierten Gerichtsentscheidung dar; s. auch LG München I, B.v. 19.1.2015 – 6 AR 5/15 – juris zum gegen das LG München I gerichteten presserechtlichen Auskunftsanspruch auf Herausgabe u.a. eines anonymisierten Bußgeldbescheids).
29
Auch die Gedanken, dass durch eine Veröffentlichung des Strafbefehls der Rechtsfortbildung sowie der Transparenz der Rechtsprechung gedient und öffentliche Kritik ermöglicht werden kann, greifen grundsätzlich bei einem Strafbefehl. Ansonsten wären Strafbefehle generell dem öffentlichen Diskurs entzogen, was im Hinblick auf das Rechtsstaatsprinzip bedenklich erscheint. Dies gilt gerade im konkreten Fall der dem Strafbefehl zugrundeliegenden Absprache. Ferner ist Sinn und Zweck des presserechtlichen Auskunftsanspruchs, der Presse Informationen über ein Strafverfahren zu gewähren, auch bei einem Strafbefehl einschlägig. Im Übrigen ist die Herausgabe eines anonymisierten (rechtskräftigen) Strafbefehls für den Verurteilten regelmäßig weniger belastend als die Herausgabe eines anonymisierten (rechtskräftigen) Strafurteils, da der Strafbefehl keine Angaben zu den persönlichen Verhältnissen des Verurteilten enthält. Hinzu kommt, dass es dem Angeklagten freisteht, gegen einen ihm gegenüber erlassenen Strafbefehl Einspruch einzulegen (§ 410 Abs. 1 Satz 1 StPO), wenn er mit dessen Inhalt nicht einverstanden ist. Für eine Publikationspflicht von Strafbefehlen streitet zudem, dass der Anklagesatz nach Angaben des Antragsgegners in ständiger Praxis an die Presse herausgegeben wird, wie sich auch aus Nr. 3.2.1 Presserichtlinie (Richtlinien für die Zusammenarbeit der bayerischen Justiz mit der Presse, Bekanntmachung des Bayerischen Staatsministeriums der Justiz vom 26. Mai 2014, Az. 1271 – X – 1/2014, JMBl. S. 67) ergibt. Der Inhalt des Anklagesatzes nach § 200 StPO entspricht aber mit Ausnahme des Rechtsfolgenausspruchs (und der Belehrungen) dem Inhalt des Strafbefehls nach § 409 Abs. 1 StPO (Maur in Karlsruher Kommentar zur StPO, 9. Aufl. 2023, § 409 StPO Rn. 1).
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(1) Die Ausführungen des Antragstellers in seinen Schriftsätzen vom 25. und 28. April 2023 geben keinen Anlass, von diesen grundsätzlichen rechtlichen Erwägungen abzurücken. Die Kammer hält daran fest, dass sich die presserechtliche Zulässigkeit der Herausgabe eines Strafbefehls an einen Redakteur regelmäßig erst anhand der Umstände des Einzelfalles beurteilen lässt. Entgegen der Auffassung des Antragstellers gibt es keinen (presserechtlichen) Rechtssatz, dass die Herausgabe eines Strafbefehls an einen Redakteur bereits allgemein unzulässig ist.
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(2) Insbesondere die (zugespitzte) Argumentation des Antragstellers, dass Strafbefehle keine gerichtlichen Entscheidungen seien, ist rechtlich unzutreffend. Das Strafbefehlsverfahren ist ein schriftliches Verfahren, das auch als summarisches Verfahren bezeichnet wird (vgl. Temming in BeckOK StPO, Stand 1.1.2023, § 407 Rn. 1). Das Erfordernis eines schriftlichen Antrags der Staatsanwaltschaft (§ 407 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 3 StPO), welches in der Praxis damit einhergeht, dass der Staatsanwalt einen Entwurf mit der nötigen Zahl der Ausfertigungen einreicht und beantragt, einen Strafbefehl dieses Inhalts zu erlassen (vgl. Nr. 176 RiStBV, s. auch Eckstein in Münchener Kommentar zur StPO, 1. Aufl. 2019, § 407 Rn. 66), bedeutet nicht, dass einem (erlassenen) Strafbefehl der Charakter als „gerichtliche Entscheidung“ fehlt. Denn wie aus § 408 Abs. 3 Satz 1 StPO hervorgeht, darf der Amtsrichter einen Strafbefehl mit den nach § 407 Abs. 2 StPO bezeichneten Rechtsfolgen nach Prüfung des Akteninhalts nur erlassen, wenn diesem keine Bedenken entgegenstehen; ansonsten lehnt er den Erlass des Strafbefehls ab (vgl. § 408 Abs. 2 Satz 1 StPO) oder beraumt die Hauptverhandlung an (§ 408 Abs. 3 Satz 2 StPO). Diese summarische rechtliche Prüfung des von der Staatsanwaltschaft mit dem Strafbefehlsentwurf vorgelegten Akteninhalts mit den Reaktionsmöglichkeiten nach § 408 Abs. 2 Satz 1, § 408 Abs. 3 Satz 1 und § 408 Abs. 3 Satz 2 StPO ist eine originär richterliche Aufgabe, woran auch die vom Antragsteller angenommene „fehlende Waffengleichheit“ in diesem Verfahrensstadium nichts ändert (vgl. zur Vereinbarkeit des Strafbefehlsverfahrens mit Art. 6 Abs. 1 EMRK: EGMR, U.v. 16.12.1992 – Hennings/Deutschland, Nr. 12129/86 – HUDOC Rn. 26 f. = NJW 1993, 717). Letztendlich geht es dem Antragsteller mit seiner Argumentation darum, mit von ihm postulierten praktischen Erfahrungssätzen hinsichtlich des Strafbefehlsverfahrens abstrakte Rechtssätze aufzustellen, die so nicht mit den einschlägigen Vorschriften der Strafprozessordnung in Einklang zu bringen sind. Es vermag daher schon methodisch nicht zu überzeugen, dass der Antragsteller unter Zugrundelegung der von ihm postulierten Erfahrungssätze zum Strafbefehlsverfahren in einem zweiten Schritt abstrakte presserechtliche Rechtssätze dergestalt aufstellt, dass Strafbefehle für sich genommen bereits nicht als veröffentlichungswürdige Gerichtsentscheidungen angesehen werden könnten. Ein derartiger presserechtlicher Rechtssatz lässt sich, wie die Kammer bereits in ihrem Beschluss vom 14. März 2023 dargestellt hat, der einschlägigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sowie des Bundesverwaltungsgerichts nicht entnehmen.
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(3) Im Übrigen trifft es nicht zu, dass die Wahl des Strafbefehlsverfahrens durch die Staatsanwaltschaft stets auf Vereinbarungen mit betroffenen Angeschuldigten zurückgehe, damit diese eine „reputationsschädigende Hauptverhandlung“ vermeiden könnten. Es mag sein, dass das Strafbefehlsverfahren aus Verteidiger- bzw. Angeschuldigtenperspektive in bestimmten Fällen vorzugswürdig sein kann, um eine öffentliche Hauptverhandlung mit allen damit verbundenen negativen Risiken zu vermeiden (vgl. Temming in BeckOK StPO, § 407 Rn. 3 und 5). Aus staatsanwaltlicher Praxisperspektive dürfte das Strafbefehlsverfahren jedoch eher dem Zweck dienen, Ermittlungsverfahren vereinfacht und zügig abzuschließen zu können (vgl. Eckstein in Münchener Kommentar zur StPO, 1. Aufl. 2019, § 407 Rn. 8). Insofern liegt auf der Hand, dass eine strafgerichtliche Hauptverhandlung erhebliche Arbeitsressourcen sowohl auf Gerichts- als auch auf Staatsanwaltschaftsseite binden kann und das Absehen hiervon (vgl. hier den staatsanwaltlichen Ermessensspielraum nach § 407 Abs. 1 Satz 2 StPO) auch der Entlastung von Gericht und Staatsanwaltschaft dient. Das Strafbefehlsverfahren stellt insofern die am häufigsten angewandte Verfahrensart dar, ohne die die Strafgerichtsbarkeit nicht mehr funktionieren würde (Temming in BeckOK StPO, Stand 1.1.2023, § 407 Rn. 3).
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(4) Ebenso geht der Einwand des Antragstellers fehl, dass Strafbefehle generell nicht veröffentlichungswürdig seien. Unabhängig davon, dass es rechtsstaatlich bedenklich wäre, wenn Strafbefehle grundsätzlich dem öffentlichen Diskurs entzogen wären (vgl. VG München, B.v. 14.3.2023 – M 10 E 22.6192 – juris Rn. 42), ist die abstrakte Charakterisierung von Strafbefehlen als nicht veröffentlichungswürdig rechtlich unzutreffend. Denn die „Veröffentlichungswürdigkeit“ einer gerichtlichen Entscheidung lässt sich nicht ausschließlich anhand abstrakter (rechtlicher) Kriterien, sondern oftmals nur anhand der konkreten Umstände des Einzelfalls bestimmen und dürfte sich regelmäßig mit dem Begriff des öffentlichen Interesses an einer gerichtlichen Entscheidung überschneiden (so zutreffend VG Aachen, U.v. 11.2.2020 – 8 K 276/16 – juris Rn. 59; vgl. auch VG München, B.v. 14.3.2022 – M 10 E 22.6192 – juris Rn. 42). Die vom Antragsteller herangezogene Entscheidung des Verwaltungsgerichts Ansbach vom 20. Februar 2019 (VG Ansbach, U.v. 20.2.2019 – AN 14 K 16.01572 – juris) ändert an dieser rechtlichen Einschätzung nichts, da die dort entschiedene Fallkonstellation schon in tatsächlicher Hinsicht nicht mit der Vorliegenden vergleichbar ist bzw. die vom Antragsteller zitierte Entscheidungspassage gerade nicht im presserechtlichen Rechtskontext zu verstehen ist.
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dd) Auch die konkreten Einwände des Antragstellers gegen die Herausgabe des Strafbefehls vom 19. Mai 2020 an den Beigeladenen greifen nicht durch bzw. zeigen keine Verletzung seines allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG auf.
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(1) Soweit der Antragsteller in seinem Schriftsatz vom 28. April 2023 vorträgt, dass der Beigeladene weder in sachlicher noch zeitlicher Hinsicht einen Zusammenhang zwischen dem gegen den Antragsteller ergangenen Strafbefehl und der aktuell über die … … GmbH berichteten „Datenaffaire“ nachgewiesen habe, übersieht er, dass dem Gericht eine dezidierte journalistische Relevanzprüfung verwehrt ist. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entscheidet die Presse in den Grenzen des Rechts selbst, ob und wie sie über ein bestimmtes Thema berichtet. Das „Ob“ und „Wie“ der Berichterstattung ist Teil des Selbstbestimmungsrechts der Presse, das auch die Art und Weise ihrer hierauf gerichteten Informationsbeschaffungen grundrechtlich schützt. Unter das Selbstbestimmungsrecht in zeitlicher Hinsicht fällt auch die Freiheit der Presse, zu entscheiden, ob eine Berichterstattung zeitnah erfolgen soll. Grundsätzlich genügt es, wenn Eilrechtsschutz nur gewährt wird, wo ein gesteigertes öffentliches Interesse und ein starker Gegenwartsbezug der Berichterstattung vorliegen. Dies kann jedoch nicht deshalb verneint werden, weil die Berichterstattung nicht auf unaufschiebbare Berichte ziele und sie auch später möglich bleibe. Denn dies ist angesichts der Fähigkeit der Presse, selbst Themen zu setzen, immer denkbar. Vielmehr kann die Presse ihre Kontroll- und Vermittlungsfunktion nur wahrnehmen, wenn an den Eilrechtsschutz in Auskunftsverfahren auch hinsichtlich der Aktualität einer Berichterstattung keine überhöhten Anforderungen gestellt werden (vgl. hierzu auch: BVerwG, B.v. 23.3.2021 – 6 VR 1/21 – juris Rn. 12; BayVGH, B.v. 24.1.2017 – 7 CE 16.2056 – juris Rn. 10). Dabei ist zu berücksichtigen, dass es Sache der Presse ist, zu beurteilen, welche Informationen für sie vonnöten sind, um ein bestimmtes Thema zum Zweck einer möglichen Berichterstattung im Recherchewege aufzubereiten. Die Bedeutung einer Information kann vielfach im Stadium vor ihrer Erhebung und zuweilen selbst im unmittelbaren Anschluss hieran noch nicht abschließend bewertet werden. Es liegt im Wesen der journalistischen Recherche, dass sie teilweise von unbewiesenen Hypothesen ausgeht und sich so ihr Zweck auch in der Falsifizierung bzw. darin erfüllen kann, dass von einer Publikation Abstand genommen wird. Hieraus ergibt sich bei Auskunftsanträgen die Notwendigkeit journalistischer Freiräume insbesondere bei der Beurteilung der sachlichen Notwendigkeit angefragter Informationen. Der Komplexität und möglichen Zweckfülle von Rechercheprozessen wird es nicht gerecht, wenn das Gewicht eines geltend gemachten Auskunftsinteresses von einer journalistischen Relevanzprüfung abhängig gemacht würde (vgl. BVerwG, B.v. 23.3.2021, a.a.O., Rn. 13).
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Die Anforderungen des Antragstellers in seinem Schriftsatz vom 28. April 2023, die er an den Rechercheansatz des Beigeladenen stellt, überspannen die oben dargestellten höchstrichterlichen Maßstäbe zum Selbstbestimmungsrecht der Presse. Der Kammer erscheint der vom Beigeladenen verfolgte Rechercheansatz bezüglich der praktischen Umsetzung der Compliance-Maßnahmen in der … … GmbH nach dem Strafbefehl vom 19. Mai 2020 hinreichend plausibel; er ist nicht lediglich spekulativ. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass der Antragsteller in diesem Bereich gegenüber dem Beigeladenen über einen Wissensvorsprung verfügen dürfte, was aber gerade nicht dazu führen darf, dass beim Beigeladenen die Substantiierungslast für seinen Rechercheansatz entsprechend erhöht wird. Das Gericht versteht den vom Beigeladenen geschilderten Rechercheansatz zum „Datenskandal“ so, dass es im weitesten Sinn um die Verlässlichkeit und Vertrauenswürdigkeit der … … GmbH im Kontext von (internationalen) Vertragsbeziehungen geht, und in diesem Zusammenhang insbesondere auch die Rolle der Unternehmensspitze sowie die Compliance-Kultur untersucht werden soll. Dass sich der Beigeladene für seine Recherchen in diesem Zusammenhang weitere Erkenntnisse aus einem rechtskräftigen Strafbefehl gegenüber dem Antragsteller als Vorstand der … … GmbH verspricht, erscheint jedenfalls plausibel und ist nicht spekulativ.
37
(2) Entgegen der Ausführungen des Antragstellers ist vorliegend nicht erkennbar, dass in der vorzunehmenden Rechtsgüterabwägung das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Antragstellers aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG der Vorrang vor der Pressefreiheit des Beigeladenen aus Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG einzuräumen wäre. Dabei ist zunächst im Ausgangspunkt anzuführen, dass hinsichtlich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts des Antragstellers lediglich die Sozialsphäre betroffen ist, da es ihm vordergründig darum geht, dass die Hintergründe des strafgerichtlichen Verfahrens um den ergangenen Strafbefehl vom 19. Mai 2020 nicht in die Öffentlichkeit gelangen und er so eine (etwaige) Herabsetzung seines allgemeinen Ansehens vermeiden möchte. Dieses Interesse ist jedoch nicht sehr gewichtig, da das allgemeine Persönlichkeitsrecht kein Recht vermittelt, in der Öffentlichkeit so dargestellt zu werden, wie es dem eigenen Selbstbild und der beabsichtigten öffentlichen Wirkung entspricht (BVerfG, B.v. 23.6.2020 – 1 BvR 1240/14 – juris Rn. 16 m.w.N.). Wer den Rechtsfrieden bricht, muss sich nicht nur den hierfür verhängten strafrechtlichen Sanktionen beugen, sondern muss auch dulden, dass das von ihm selbst erregte Informationsinteresse der Öffentlichkeit auf den dafür üblichen Wegen befriedigt wird. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht vermittelt Straftätern keinen Anspruch darauf, in der Öffentlichkeit überhaupt nicht mit ihrer Tat konfrontiert zu werden, sobald die Tagesaktualität der Verurteilung entfallen ist. Entscheidend bliebt vielmehr stets, in welchem Maße eine Berichterstattung die Persönlichkeitsentfaltung beeinträchtigen kann (BVerfG, B.v. 10.6.2009 – a.a.O., Rn. 15, 19; BVerfG, B.v. 20.8.2007 – 1 BvR 1913/07, 1 BvR 2024/07 – juris Rn. 29).
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(a) Aus dem Umstand, dass der Antragsteller damals auf einen Einspruch (§ 410 Abs. 1 Satz 1 StPO) gegen den Strafbefehl vom 19. Mai 2020 bewusst verzichtet hat, folgt nicht, dass der Antragsteller hieraus ein abwägungsfestes Recht auf Geheimhaltung (der Hintergründe) dieser Entscheidung vor der Öffentlichkeit für sich ableiten kann. Generell gilt, dass auch der Inhalt gerichtlicher Entscheidungen, die nicht in öffentlicher Verhandlung getroffen wurden (vgl. § 169 Abs. 1 Satz 1 GVG), der Öffentlichkeit nicht prinzipiell entzogen sind. Wäre dies anders, hätte dies die Konsequenz, dass beispielsweise auch verwaltungsgerichtliche Gerichtsbescheide (§ 84 Abs. 1 Satz 1 VwGO) oder Beschlüsse (vgl. § 122, § 124a Abs. 5 Satz 1, § 133 Abs. 5 Satz 1 VwGO) generell nicht veröffentlicht oder herausgegeben werden könnten, was offensichtlich unrichtig erschiene und auch in keiner Weise der Rechtswirklichkeit entspricht. Letztendlich spiegelt sich in der damaligen verfahrenstaktischen Entscheidung des Antragstellers, keinen Einspruch gegen den Strafbefehl einzulegen, lediglich sein Interesse wieder, dass keine Hintergründe zu den Straftaten in der Öffentlichkeit bekannt werden, was aber nichts daran ändert, dass die genannte gerichtliche Entscheidung aufgrund anderer Umstände in den öffentlichen Fokus bzw. in das öffentliche Interesse rücken kann. Inwiefern der damalige Verzicht auf Einlegung eines Einspruchs gegen den Strafbefehl nun aktuell die Eingriffsqualität in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Antragstellers erhöhen soll, sollte der Strafbefehl an den Beigeladenen herausgegeben werden, legt der Antragsteller nicht dar und ist für das Gericht auch nicht ersichtlich. Damit verbleibt es dabei, dass das Gericht hinsichtlich der Eingriffsqualität in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Antragstellers darauf abstellt, dass lediglich das Interesse des Antragstellers berührt ist, keine tatsächlichen Hintergründe der im Strafbefehl abgeurteilten Taten bekanntwerden zu lassen.
39
(b) Ebenso kann der Antragsteller nicht mit dem Argument durchdringen, dass die im Strafbefehl vom 19. Mai 2020 abgeurteilten Straftaten zum Teil bis zu 10 Jahre zurückliegen. Mit zeitlicher Distanz zur Straftat gewinnt zwar das Interesse des Täters, vor einer Reaktualisierung seiner Verfehlung verschont zu bleiben, zunehmende Bedeutung, wobei es aber nicht möglich ist, den Schutzanspruch unter schematischer Übernahme anderweitig geregelter Verwendungs-, Veröffentlichungs- oder Löschungsfristen zu bestimmen (BVerfG, B.v. 6.11.2019 – 1 BvR 16/13 – BVerfGE 152, 152 = juris Rn. 98, 126; BVerfG, B.v. 10.6.2009 – a.a.O., Rn. 15, 19). Dieses Abflauen des Berichterstattungsinteresses in der Zeit lässt sich jedoch nicht aus dem zeitlichen Abstand des zu berichtenden Ereignisses als solchem ableiten, sondern ist bei einer neuerlichen Berichterstattung anhand des Anlasses der jeweiligen Berichterstattung zu bemessen, der neu entstehen und aktualisiert werden kann (vgl. BVerfG, B.v. 23.6.2020 – 1 BvR 1240/14 – juris Rn. 19 m.w.N.). Ein derartiger neu entstandener Anlass ist vorliegend gegeben im Hinblick auf die vom Beigeladenen vorgelegten Presseartikel „Während Fusionsgesprächen mit … Touristik: Vorstrafe wegen Betrugs holt …-Chef ein“ sowie zum genannten „Datenskandal“. Die vom Beigeladenen geschilderten Rechercheansätze zeigen unter Berücksichtigung der vorgenannten aktuellen Presseberichterstattung, dass die damalige strafrechtliche Verurteilung des Antragstellers vor fast drei Jahren nicht für sich als völlig isolierbares Ereignis betrachtet werden kann, dem jegliche Berührungspunkte zum aktuellen Sachverhaltsgeschehen fehlen würden. Der neu entstandene Gegenwartsbezug der damaligen strafgerichtlichen Verurteilung ergibt sich jedenfalls im Hinblick auf den späteren Karrieresprung des Antragstellers in der … … GmbH im April 2021, der im Hinblick auf die Compliance-Kultur und aktuell auch allgemein die Unternehmensführung der … … GmbH hinsichtlich des „Datenskandals“ Fragen aufwirft, deren Aufklärung im öffentlichen Interesse ist (vgl. auch jüngst touristik aktuell vom 2.5.2023: „Neue ta: beim Datenskandal macht auch … Druck“, abrufbar unter https://www.touristik-aktuell.de/nachrichten/news/datum/neue-ta-beim-datenskandal-macht-auch-tui-druck/ [abgerufen 2.5.2023]).
40
(c) Soweit der Antragsteller vorträgt, der Beigeladene werde den Strafbefehl „publizistisch ausschlachten“, ist ebenfalls nicht hinreichend nachvollziehbar vorgetragen, inwieweit sein Schutz vor Reaktualisierung der zurückliegenden Verurteilung in unzulässiger Weise berührt wird. So setzt sich der Antragsteller bereits nicht mit der Tatsache auseinander, dass der Umstand des Bestehens des Strafbefehls vom 19. Mai 2020 bereits Gegenstand der Presseberichterstattung war und dort auch gerade ausgeführt wurde, dass der Antragsteller wegen Betruges zu einer mehrmonatigen Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt wurde. Insofern ist nicht erkennbar, dass mit der Überlassung einer anonymisierten Abschrift des Strafbefehls vom 19. Mai 2020 an den Beigeladenen eine bereits länger zurückliegende Verurteilung als solche ohne konkreten Anlass reaktualisiert wird. Es geht also mit der Überlassung einer anonymisierten Abschrift des Strafbefehls vom 19. Mai 2020 an den Beigeladenen gerade nicht darum, dass der Antragsteller im Sinne einer „Prangerwirkung“ in die Öffentlichkeit gezogen wird (vgl. dazu BVerfG, B.v. 23.6.2020 – 1 BvR 1240/14 – juris Rn. 18), zumal derzeit offen ist, ob die Sachverhaltsdarstellung im Strafbefehl die Hypothesen des Beigeladenen für seinen Rechercheansatz bestätigen werden bzw. ob es zu einer entsprechenden Berichterstattung kommen wird, oder nicht. Ungeachtet des Erhalts einer anonymisierten Abschrift des Strafbefehls vom 19. Mai 2020 ist der Beigeladene hinsichtlich der Verwendung und Verarbeitung der sich für ihn ergebenden Erkenntnisse ohnehin an gesteigerte journalistische Sorgfaltspflichten gebunden (vgl. BVerfG, B.v. 14.9.2015 – 1 BvR 857/15 – juris Rn. 22). Dass vorliegend etwa eine unzumutbar anprangernde Berichterstattung gegenüber dem Antragsteller im Raum steht, wurde nicht hinreichend nachvollziehbar vorgetragen bzw. ist für das Gericht vorliegend nicht erkennbar (vgl. dazu BVerfG, B.v. 23.6.2020 – 1 BvR 1240/14 – juris Rn. 18).
41
(d) Nicht durchgreifend ist auch die Kritik des Antragstellers an der Rechtsprechung der Kammer, dass es einem Betroffenen freistünde, im Falle rechtswidriger Presseberichterstattung um äußerungsrechtlichen Eilrechtsschutz vor den Zivilgerichten nachzusuchen (vgl. dazu VG München, B.v. 14.3.2023 – M 10 S 22.6192 – juris Rn. 47). Abgesehen davon, dass die Behauptung des Antragstellers hinsichtlich der Dauer mehrwöchiger äußerungsrechtlicher Eilverfahren vor den Zivilgerichten nicht belegt ist, und dies wohl je nach Fallkonstellation sowie abhängig vom Gerichtsstandort bzw. der dortigen jeweiligen Praxis eher unterschiedlich sein dürfte, wäre es dem zuständigen Zivilgericht ungeachtet des Grundrechts auf prozessuale Waffengleichheit grundsätzlich nicht verwehrt, bei besonderer Dringlichkeit gem. § 937 Abs. 2 ZPO ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden (vgl. aus der mittlerweile zahlreichen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur „prozessualen Waffengleichheit“ in äußerungsrechtlichen zivilgerichtlichen Eilverfahren: BVerfG, B.v. 21.4.2022 – 1 BvR 812/22 – juris Rn. 20 f. m.w.N.; BVerfG, B.v. 6.2.2021 – 1 BvR 249/21 – juris Rn. 20 ff. m.w.N.; BVerfG, B.v. 11.1.2021 – 1 BvR 2681/20 – juris Rn. 29 ff. m.w.N.). Das Bundesverfassungsgericht erkennt hierbei ausdrücklich an, dass eine stattgebende Entscheidung über einen Verfügungsantrag ohne Einbeziehung der Gegenseite in Betracht kommen kann, wenn die Gegenseite vorgerichtlich die Möglichkeit hatte, auf das mit dem Antrag geltend gemachte Vorbringen zu erwidern und Verfügungsantrag und vorgerichtliche Abmahnung inhaltlich identisch sind (BVerfG, B.v. 21.4.2022 – 1 BvR 812/22 – juris Rn. 22 f.). Vor diesen rechtlichen Hintergründen ist für die Kammer nicht nachvollziehbar, weshalb es für den Antragsteller im Falle einer (greifbar) rechtswidrigen Berichterstattung durch den Beigeladenen (für die vorliegend keine Anhaltspunkte vorliegen) unzumutbar sein sollte, ggf. unter Geltendmachung besonderer Dringlichkeit gem. § 937 Abs. 2 ZPO und entsprechender eigener Verfahrensführung seine Rechte zivilgerichtlich durchzusetzen, so wie dies auch in vielen anderen vergleichbaren Fällen in der Rechtspraxis geschieht.
42
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Der Beigeladene trägt seine außergerichtlichen Kosten billigerweise selbst; er hat keinen Sachantrag gestellt und sich mithin keinem Kostenrisiko ausgesetzt (§ 154 Abs. 3, § 162 Abs. 3 VwGO). Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 2 GKG i.V.m. Nr. 1.5 Satz 2 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit von 2013. Da mit der Entscheidung eine Vorwegnahme der Hauptsache verbunden ist, wird der Streitwert auf die Höhe des für das Hauptsachverfahren anzunehmenden Streitwerts angehoben.