Inhalt

VG Ansbach, Urteil v. 01.02.2023 – AN 17 K 17.34351
Titel:

erfolgreiche Klage auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Einzelfall - Iran)

Normenkette:
AsylG § 3 Abs. 1 Nr. 4, § 28 Abs. 1a
Leitsätze:
1. Angesichts des sensiblen Charakters von Informationen, die die persönliche Intimsphäre einer Person, insbesondere ihrer Sexualität, betreffen, kann nicht allein daraus, dass diese Person, weil sie etwa zögert, intime Aspekte ihres Lebens zu offenbaren, geschlossen werden kann, dass sie deshalb unglaubwürdig ist. (Rn. 23) (redaktioneller Leitsatz)
2. Homosexuelle und bisexuelle Menschen stellen im Iran eine soziale Gruppe iSd § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG dar. (Rn. 26) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
erfolgreiche Klage auf Flüchtlingszuerkennung, Nachfluchtgrund Bisexualität, eine Prognose, inwiefern die sexuelle Neigung im Heimatland ausgelebt wird, ist nicht anzustellen, Flüchtlingseigenschaft, iranische Staatsangehörige, Nachfluchtgrund, Bisexualität
Fundstelle:
BeckRS 2023, 11231

Tenor

1. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 2. Juni 2017 wird in den Ziffern 1 und 3 bis 6 aufgehoben.
2.    Die Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft  zuzuerkennen.
3.    Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens. Insoweit ist das Urteil  vorläufig vollstreckbar. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
4. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der festgesetzten Kosten abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

1
Die Klägerin begehrt unter Aufhebung des ablehnenden Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise subsidiären Schutz und weiter hilfsweise die Feststellung von Abschiebungsverboten in Bezug auf den Iran.
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Die 1992 geborene Klägerin, iranische Staatsangehörige, reiste nach eigenen Angaben Anfang 2016 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 25. Juli 2016 einen förmlichen Asylantrag. Für die Klägerin gibt es einen EURODAC-Treffer der Kategorie 2 für Griechenland vom 28. Januar 2016.
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Bei ihrer Anhörung vor dem Bundesamt am 29. November 2016 gab die Klägerin im Wesentlichen an, dass sie die letzten vier oder fünf Jahre vor ihrer Ausreise mal im Park, mal bei Leuten gewohnt habe, die sie benutzt hätten. Dies sei in der Stadt … gewesen. Vorher habe sie zunächst bei ihrem Vater gewohnt. Als der geheiratet habe und sie sich mit der neuen Frau nicht vertragen habe, sei sie zur Mutter gezogen. Ihre Mutter habe einen jungen Mann geheiratet, der von ihr Sex gewollt habe. Deshalb sei sie ausgezogen. Sie habe ihrer Mutter nichts davon erzählt, da diese ein Kind von dem neuen Mann bekommen und die Klägerin nicht gewollt habe, dass dessen Leben so werde wie ihr eigenes. Ihre Eltern hätten sich getrennt, als sie zehn oder zwölf Jahre alt gewesen sei. Sie habe eine große Schwester sowie Tanten und Onkel im Iran, welche aber nach der Trennung der Eltern nichts mehr mit ihr zu tun haben wollten. Die Klägerin gab weiter an, dass sie neun Jahre die Mittelschule besucht habe, dann drei Jahre FOS. Sie habe Fachabitur und habe als Verkäuferin in Bekleidungsgeschäften gearbeitet. Sie sei Anfang 2016 aus dem Iran ausgereist, mit dem Flugzeug in die Türkei und von dort mit dem Schlauchboot nach Griechenland. Sie sei drei Wochen unterwegs gewesen.
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Zur ihrem Verfolgungsschicksal befragt führte die Klägerin aus, dass sie nach der Trennung der Eltern zunächst bei dem Vater gelebt habe. Der habe sie aber hinausgeworfen, da er nicht gewollt habe, dass sein Leben so werde wie das ihrer Mutter. Die Klägerin gab weiter an, dass der neue Mann ihrer Mutter sie später mehrfach vergewaltigt habe. Die beiden hätten eine Tochter im Alter von fünf oder sechs Jahren. Die Klägerin sei zu ihrer Freundin und deren Eltern gezogen. Letztere seien abhängig von Chrystal Meth gewesen. Sie habe die Droge dann auch genommen, da es ihr psychisch schlecht gegangen sei. Die Eltern der Freundin hätten kein Einkommen gehabt um die Drogen zu bezahlen. Sie sei dann öfters zu dem Dealer mitgegangen, der sie gemocht habe. Da dieser aber Halluzinationen gehabt und sie angegriffen habe, sei sie aus der Wohnung geflüchtet und habe in einem Park namens … übernachtet. Als sie mit Freunden bei einer Party gewesen sei, sei die Polizei gekommen und habe alle verhaftet. Sie seien dann wegen unverheirateter Beziehung und Alkohol ins Gefängnis gekommen, wo sie zwei Monate habe bleiben müssen. Sie habe keine Drogen mehr genommen und sich Arbeit gesucht. Sie sei aber auf jeder Arbeitsstelle sexuell ausgebeutet worden. Sie sei nur bezahlt worden, wenn sie mit „denen“ geschlafen hätte. Sie habe deshalb aufgehört zu arbeiten und im Park gewohnt. Dort seien lauter Scharlatane (Halbstarke, Macho) gewesen. Weil es nachts sehr kalt gewesen sei, habe sie jede Nacht mit einem nach Hause gehen müssen. Eines nachts sei sie mit einem Bekannten in ein Gartenhaus gegangen. Dort seien aber vier seiner Freunde gewesen, die alle mit ihr haben schlafen wollen. Sie habe es nicht gewollt und sei geschlagen worden. Ihre Lippe sei aufgeplatzt, sie habe Hämatome an den Augen bekommen. Sie hätten sie dann in den Park zurückgebracht. Tagsüber hätten im Park „High-Class-Leute“ Sport getrieben und so habe sie an diesem Tag … kennengelernt. Er habe ihr geholfen, ihr einen Schlepper namens … besorgt und 800 Dollar für die Flucht bezahlt, sie aber auch sexuell benutzt. Auch in Griechenland habe sie mit Männern schlafen müssen. In Deutschland gehe es ihr gut. Sie habe eine Wohnung, Geld und lerne die Sprache. Sie habe psychische Probleme und sei in Deutschland ein paar Mal beim Arzt gewesen. Sie habe sich im Iran einmal über den Drogendealer, der sie mit dem Messer verletzt habe, bei der Polizei beschwert, aber diese hätten sie für einen Monat festgenommen wegen außerehelichem Geschlechtsverkehr. Der Dealer sei von der Polizei nicht gefunden worden und so sei sie wieder freigelassen worden.
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Auf Frage, was geschehen würde, wenn die Klägerin in den Iran zurückgehe, gibt die Klägerin an, dass dort wieder Jungen ihren Körper benutzen würden. Sie habe dort weder Vater, noch Mutter noch eine Wohnung. Die Männer würden sie vergewaltigen. Sie habe immer noch Alpträume und psychologische Probleme.
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Nach dem Verlesen des Protokolls teilte die Klägerin mit, dass sie vom Islam zum Christentum übergetreten sei. Da sie in Griechenland viel Hilfe von Christen bekommen habe, habe sie sich für das Christentum interessiert, wer sei Jesus, dass er nett sei und vermeide, dass die Leute einander schaden. Sie habe daher beschlossen, kein Moslem mehr zu sein und kenne sich langsam immer mehr mit dem Christentum aus. Sie engagiere sich in der Gemeinde ihrer Freunde. Auf Frage, wie diese heiße, gab die Klägerin an, dass sie in eine iranische Kirche in … gegangen sei, aber nicht Mitglied der Gemeinde sei. Sie denke, der Pfarrer heiße Herr … Sonntags würde sie mit ihren Freunden rausgehen, Sport treiben auf der … oder im McFit. Sie wisse nicht, wie oft sie im Gottesdienst gewesen sei und sei am Sonntag noch nie in der Kirche gewesen. Sie sei mit einer Freundin in der … gewesen und habe die betenden Leute gesehen. Die Atmosphäre habe sie beeindruckt und sie habe beschlossen, jeden Samstag oder Sonntag hinzugehen, habe es aber noch nicht gemacht. Sie wolle erst mehr über Jesus wissen und dann in die Kirche gehen.
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Mit Bescheid vom 2. Juni 2017, der Klägerin am 8. Juni 2017 zugestellt, erkannte das Bundesamt die Flüchtlingseigenschaft nicht zu (Ziffer 1), lehnte den Antrag auf Asylanerkennung ab (Ziffer 2), erkannte den subsidiären Schutzstatus nicht zu (Ziffer 3), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nicht vorliegen (Ziffer 4) und forderte die Klägerin auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bescheidsbekanntgabe oder im Falle einer Klageerhebung binnen 30 Tagen nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens zu verlassen, andernfalls werde sie in den Iran abgeschoben (Ziffer 5). Schließlich befristete das Bundesamt das Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 6).
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Mit Schriftsatz ihrer ehemaligen Bevollmächtigten vom 21. Juni 2017, bei Gericht per Fax eingegangen am selben Tag, erhob die Klägerin Klage gegen den Bescheid vom 2. Juni 2017 und führte zur Begründung im Wesentlichen aus, dass die Klägerin im Iran sexuell ausgenutzt, wiederholt inhaftiert und körperlich misshandelt worden sei. Auch habe sie Strafen für den Genuss von Alkohol und das Nichttragen eines Schleiers erhalten. Bei einer Rückkehr befürchte die Klägerin aufgrund der herrschenden Scharia die Verhängung und Vollstreckung der Todesstrafe. Zudem drohe ihr, insbesondere wenn sie der Todesstrafe entgehen wolle, die Zwangsverheiratung durch den neuen Ehemann der Mutter. Die der Klägerin drohende Verfolgungshandlung knüpfe an den Verfolgungsgrund der Geschlechtszugehörigkeit und der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe – ledige Frauen aus Familien, deren traditionelles Selbstverständnis auch eine Zwangsverheiratung gebiete – an. Zudem sei der iranische Staat weder fähig noch willens, Schutz vor Verfolgung durch Familienangehörige in Fällen von Zwangsverheiratung zu bieten. Eine inländische Fluchtalternative sei nicht gegeben. Weiter sei die Klägerin aufgrund der erlittenen Vergewaltigungen schwer traumatisiert und leide an Depressionen und Angstzuständen. Sie sei in regelmäßiger hausärztlicher Behandlung. Die notwendige psychiatrische Behandlung werde durchgeführt werden.
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Die Klägerin beantragt,
1. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 2. Juni 2017 wird teilweise aufgehoben.
2. Die Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylVfG anzuerkennen, hilfsweise subsidiären Schutz gemäß § 4 AsylVfG zu gewähren, weiter hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.
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Mit weiterem Schriftsatz vom 17. August 2018 teilte der ehemalige Bevollmächtigte mit, dass die Klägerin nunmehr eine gleichgeschlechtliche Beziehung eingegangen sei und legte mit Schriftsatz vom 23. August 2018 u.a. eine handschriftliche Bestätigung von Frau … vor, wonach sie mit der Klägerin in einer gleichgeschlechtlichen Beziehung lebe.
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Mit Schriftsatz vom 2. Oktober 2018 wurde klägerseits ein psychiatrisches Gutachten der Facharztpraxis für (Sozial-)Psychiatrie, Psychotherapie … vom 21. September 2018 vorgelegt, wonach die Klägerin an einer rezidivierenden depressiven Störung, gegenwärtig schwere Episode (F33.2(G)), einer Panikstörung (F41.0 (G)) und einer Borderline-Persönlichkeitsstörung (F60.31 (G)) leide. Die Diagnose sei anhand einer Untersuchung am 21. September 2018 erstellt worden, bei der die Klägerin angab, dass sie gerne zu ihrer Partnerin nach … möchte. Dort könne sie von deren Familie, die auch aus dem Iran sei, unterstützt werden. Zudem gebe es in … eine iranische Psychotherapeutin, die fließend deutsch und persisch spreche. Insgesamt fühle sich die Klägerin alleine und angespannt. Festgestellt wurden Sinnlosigkeitsgefühle, aber keine akute oder aktive Suizidalität. Bei Durchführung einer störungsadäquaten Behandlung sei mit einem grundsätzlich guten Ansprechen der Symptomatik zu rechnen, im Falle eines Abbruchs der dringend erforderlichen psychiatrischen Behandlung sei mit einer deutlichen Zuspitzung und Verschlechterung der Situation bis hin zu ernsten suizidalen Handlungen zu rechnen. Im Falle einer Abschiebung ins Heimatland sei eine sehr erhebliche Verschlechterung der gesundheitlichen Situation zu erwarten. In diesem Fall sei mit sehr ernsten gesundheitlichen Konsequenzen bis hin zu suizidalen Handlungen zu rechnen. Der Umzug zur Lebensgefährtin nach … werde empfohlen.
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Die Beklagte teilte mit Schriftsatz vom 27. November 2018 mit, dass die Klägerin nach Hessen in die Stadt … mit Wirkung vom 1. Dezember 2018 umverteilt werde. Nachfolgend teilte die Klägerin in mehreren Schriftsätzen mit, dass sie arbeite bzw. ab dem 1. September 2020 die Ausbildung zur Altenpflegehelferin beginne. Mit Email vom 2. Dezember 2022 teilte Frau … mit, dass die Klägerin ihre Ausbildung beim Roten Kreuz als einjährige examinierte Pflegehelferin absolviert habe, seit vier Jahren beim DRK arbeite und ihr eigenes Geld verdiene.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte, die vorgelegte Behördenakte und das Protokoll über die mündliche Verhandlung vom 25. Januar 2023 verwiesen.

Entscheidungsgründe

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Das Gericht konnte trotz Ausbleibens eines Vertreters der Beklagten über die Sache verhandeln und entscheiden, da die Beklagte ordnungsgemäß geladen und in der Ladung darauf hingewiesen wurde, dass auch im Fall des Nichterscheinens der Beteiligten verhandelt und entschieden werden kann, § 102 Abs. 2 VwGO.
15
Die zulässige Klage ist begründet, § 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO, und damit erfolgreich.
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1. Der Klägerin steht ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG zu.
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Ein Ausländer ist Flüchtling, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischer Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will, § 3 Abs. 1 AsylG. Nach § 3a Abs. 3 AsylG muss die Verfolgung an eines der flüchtlingsrelevanten Merkmale anknüpfen, die in § 3b Abs. 1 AsylG näher beschrieben sind, wobei es nach § 3b Abs. 2 AsylG ausreicht, wenn der betreffenden Person das jeweilige Merkmal von ihren Verfolgern zugeschrieben wird. Nach § 3c AsylG kann eine solche Verfolgung vom Staat (§ 3c Nr. 1 AsylG), von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen (§ 3c Nr. 2 AsylG) oder von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, sofern die in Nrn. 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (§ 3c Nr. 3 AsylG). Kein Schutz wird nach § 3e Abs. 1 AsylG gewährt, wenn der Verfolgte in einem Teil seines Herkunftslandes sicher vor Verfolgung ist und diesen Landesteil sicher und legal erreichen kann, dort aufgenommen wird und eine Niederlassung dort vernünftigerweise erwartet werden kann (inländische Fluchtalternative).
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Gemäß § 28 Abs. 1a AsylG kann die begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG oder die tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 AsylG zu erleiden, auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten des Ausländers, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist.
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Maßstab für die Beurteilung der Furcht des Klägers vor Verfolgung als begründet im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG ist das Vorliegen einer tatsächlichen Gefahr („real risk“) der Verfolgung. Erforderlich ist also, dass dem Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bei einer angenommenen Rückkehr Verfolgung droht (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 33/18 – juris Rn. 15, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23/12 – juris Rn. 32, U.v. 22.11.2011 – 10 C 29/10 – juris Rn. 23 ff., U.v. 27.4.2010 – 10 C 5/09 – juris Rn. 22). Die Bejahung einer solchen beachtlichen Wahrscheinlichkeit der Verfolgung setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 33/18 – juris Rn. 15; BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23/12 – juris Rn. 32). Damit kommt dem qualitativen Kriterium der Zumutbarkeit maßgebliche Bedeutung zu. Eine Verfolgung ist danach beachtlich wahrscheinlich, wenn einem besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar erscheint (vgl. BVerwG, B.v. 7.2.2008 – 10 C 33.07 – juris Rn. 37; BayVGH, U.v. 12.12.2019 – 8 B 19.31004 – juris Rn. 23). Diesbezüglich gewährt Art. 4 Abs. 4 der RL 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Anerkennungs-RL) eine Beweiserleichterung: Für Vorverfolgte wird vermutet, dass ihre Furcht vor Verfolgung begründet ist. Die Tatsache, dass ein Kläger bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ist ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden. Die Vermutung ist jedoch widerleglich. Hierfür sind stichhaltige Gründe erforderlich, die dagegensprechen, dass dem Antragsteller eine erneute derartige Verfolgung droht (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 33/18 – juris Rn. 16).
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Das Gericht muss auch in Asylstreitsachen die volle Überzeugung von der Wahrheit des vom Asylsuchenden behaupteten individuellen Verfolgungsschicksals erlangen (vgl. BVerwG, B.v. 29.11.1996 – 9 B 293/96 – juris Rn. 2, U.v. 16.4.1985 – 9 C 109/84 – juris, U.v. 12.11.1985 – 9 C 27/85 – juris). Für diese Überzeugungsbildung ist wegen des sachtypischen Beweisnotstandes, in dem sich ein Asylbewerber insbesondere hinsichtlich der Vorgänge in seinem Heimatland vielfach befindet, nicht die volle Beweiserbringung notwendig, sondern in der Regel die Glaubhaftmachung ausreichend (vgl. BVerwG, U.v. 16.4.1985 – 9 C 109/84 – juris; BayVGH, U.v. 12.7.2000 – 7 B 98.34682 – juris Rn. 19). Das Gericht darf keine unerfüllbaren Beweisanforderungen stellen, sondern hat sich mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad an Gewissheit zu begnügen. Dem persönlichen Vorbringen des Klägers und dessen Würdigung kommt gesteigerte Bedeutung zu (vgl. BVerwG, U.v. 16.4.1985 – 9 C 109.84 – juris).
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Der Schutzsuchende hat die Gründe für seine Verfolgung schlüssig vorzutragen. Dazu hat er unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei verständiger Würdigung ergibt, dass ihm in seinem Heimatstaat Verfolgung droht (vgl. BVerwG, B.v. 26.10.1989 – 9 B 405/89 – juris). Vom dem Asylsuchenden kann verlangt werden, dass er zu den in seine Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere zu seinen persönlichen Erlebnissen, eine Schilderung gibt, die geeignet ist, den behaupteten Asylanspruch lückenlos zu tragen (vgl. BVerwG, B.v. 19.3.1991 – 9 B 56/91 – juris, B.v. 26.10.1989 – 9 B 405/89 – juris; U.v. 8.5.1984 – 9 C 141/83 – juris). Erhebliche Widersprüche und Unstimmigkeiten im Vorbringen können dem entgegenstehen, es sei denn, diese können überzeugend aufgelöst werden (vgl. BVerwG, B.v. 21.7.1989 – 9 B 239/89 – juris, U.v. 23.2.1988 – 9 C 273/86 – juris). An der Glaubhaftmachung fehlt es auch, wenn der Schutzsuchende sein Vorbringen im Lauf des Verfahrens steigert, insbesondere wenn er Tatsachen, die er für sein Begehren als maßgeblich bezeichnet, ohne vernünftige Erklärung erst sehr spät in das Verfahren einführt (vgl. VGH BW, U.v. 27.8.2013 – A 12 S 2023/11 – juris).
22
Unter Berücksichtigung dieses Maßstabes ist das Gericht zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 1 AsylG) davon überzeugt, dass der Klägerin im Falle einer Rückkehr in den Iran mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG droht. Was den beim Bundesamt noch angegebenen Verfolgungsgrund Konversion zum Christentum angeht, hat die Klägerin in der mündlichen Verhandlung hiervon Abstand genommen und angegeben, dass sie keine Christin, eine Konversion daher in ihrem Falle kein Verfolgungsgrund sei. Ob der Klägerin ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aufgrund ihrer Aussage, dass sie keine Muslima mehr sei, aufgrund der angegebenen starken westlichen Prägung, aufgrund der angegebenen Befürchtung einer Zwangsheirat bei Rückkehr oder aus befürchteten Schwierigkeiten als alleinstehender Frau zusteht, kann dahinstehen.
23
Jedenfalls kann sich die Klägerin auf einen beachtlichen Nachfluchtgrund berufen. Das Gericht ist nach der persönlichen Anhörung der Klägerin, der Beweiserhebung durch Zeugeneinvernahme der Lebenspartnerin der Klägerin, Frau …, in der mündlichen Verhandlung am 25. Januar 2023 und dem gewonnenen Eindruck davon überzeugt, § 108 Abs. 1 VwGO, dass die Klägerin bisexuell ist und aufgrund dessen bei einer Rückkehr in den Iran mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit flüchtlingsrelevante Verfolgungshandlungen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, § 3 b Abs. 1 Nr. 4 AsylG, zu befürchten hätte. Dazu ist zu anzumerken, dass im Lichte der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH, U.v. 2.12.2014, C-148/13 bis C-150/13 – juris) zum einen darauf zu achten war, zu zudringliche, diskriminierende und menschenunwürdige Fragen gerade zum Intimbereich und zu Einzelheiten der sexuellen Erlebnisse zu vermeiden. Zum anderen ist bei der Würdigung der Aussagen der Klägerin auch zu bedenken, dass angesichts des sensiblen Charakters der Informationen, die die persönliche Intimsphäre einer Person, insbesondere ihrer Sexualität, betreffen, allein daraus, dass diese Person, weil sie etwa zögert, intime Aspekte ihres Lebens zu offenbaren, nicht geschlossen werden kann, dass sie deshalb unglaubwürdig ist (vgl. EuGH, U.v. 2.12.2014 – a.a.O.).
24
Die Klägerin konnte in der mündlichen Verhandlung in überzeugender Weise darlegen, dass sie bisexuell ist. Im Iran habe sie ausschließlich mit Männern sexuelle Erfahrungen gemacht. Als sie 2018 in Deutschland ihre Lebensgefährtin, Frau …, kennengelernt habe, habe sie bemerkt, dass sie sich auch zu Frauen hingezogen fühle. Die Klägerin gab freimütig an, dass dies ihre erste gleichgeschlechtliche Beziehung sei. Ihre Lebensgefährtin sei eine starke Persönlichkeit, auf die sie bauen könne und die auch mit ihrer anfänglichen Angst, zusammen in einem Bett zu schlafen, und ebenso mit ihrer Aggressivität umgehen könne. Die Klägerin schilderte bereits beim Bundesamt und auch in der mündlichen Verhandlung in emotionaler Weise erlebten sexuellen Missbrauch durch Männer im Iran. Auf Frage in der mündlichen Verhandlung zu ihren sexuellen Erfahrungen mit Männern gab die Klägerin an, dass bisherige sexuellen Handlungen mit Männern eklig und keine Liebe gewesen seien. Mit einem Mann habe sie noch keine Liebesbeziehung gehabt. Gleichwohl interessiere sie sich sowohl für Männer als auch für Frauen. Die Klägerin lebt ihre Sexualität öffentlich und gab an, ihre Lebensgefährtin z.B. auch auf der Straße zu küssen. Die Situation von Homosexuellen in Deutschland sei gut, im Iran würde das gar nicht gehen. Die weiteren detaillierten Angaben der Klägerin zu den Umständen des Kennenlernens und Zusammenkommens mit ihrer Lebensgefährtin sowie dem Alltag der beiden und den Angaben, wie die gleichgeschlechtliche Beziehung bis heute gelebt wird, werden zudem durch die glaubhaften Angaben der Lebensgefährtin der Klägerin, die als Zeugin in der mündlichen Verhandlung vernommen wurde, gestützt. Dass die Angaben zum ersten sexuellen Kontakt differieren, fällt dabei nicht ins Gewicht. So kann es schon unterschiedliche Auffassungen geben, was unter sexuellem Kontakt überhaupt zu verstehen ist. Weiter ist zu berücksichtigen, dass es für die Klägerin die erste gleichgeschlechtliche sexuelle Erfahrung war und sie deshalb Handlungen eher eine sexuelle Bedeutung beimessen kann als die Zeugin, die schon zuvor gleichgeschlechtliche sexuelle Erfahrungen gemacht hat. Das Gericht ist nach alledem davon überzeugt, dass die Klägerin bisexuell ist.
25
Sexuelle Minderheiten sind im Iran regelmäßig Diskriminierungen, Belästigungen und Missbrauch auch durch nicht-staatliche Akteure – wie Familienmitglieder – und durch die Gesellschaft ausgesetzt. Homosexualität gilt als Krankheit, kann als solche angezeigt werden, befreit auf Antrag vom Militärdienst und sperrt die Betroffenen von der Ausübung von Beamtenfunktionen aus. Aus Furcht vor Bestrafung werden Missbrauchsfälle Homosexueller nicht angezeigt. Über Belästigungen und Diskriminierung sexueller Minderheiten wird aufgrund der Kriminalisierung und Verborgenheit dieser Gruppen nicht ausreichend berichtet. Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung ist nicht verboten. Verboten ist im Iran unabhängig von der Religionsangehörigkeit jede sexuelle Beziehung, die außerhalb der heterosexuellen Ehe stattfindet, also auch homosexuelle Beziehungen. Auf homosexuelle Handlungen, welche auch als ’Verbrechen gegen Gott’ gelten, steht offiziell Auspeitschung; sie können auch mit dem Tod bestraft werden. Dies besagen diverse Fatwas, die von beinahe allen iranischen Klerikern ausgesprochen wurden. Die Beweisanforderungen sind allerdings sehr hoch, es werden braucht vier männliche Zeugen benötigt. Bei Fällen, in denen zu wenige Zeugenaussagen vorliegen, gibt es ein Ermittlungsverbot. Zudem gibt es hohe Strafen für Falschbeschuldigungen. Bei Minderjährigen und in weniger schwerwiegenden Fällen sind Peitschenhiebe vorgesehen. Auch hierfür sind zwei männliche Zeugen erforderlich. Im Falle von ’Lavat’ (Sodomie unter Männern) ist die vorgesehene Bestrafung die Todesstrafe für den passiven Partner, falls der Geschlechtsverkehr einvernehmlich stattfand, ansonsten für den Vergewaltiger. Homosexuelle Handlungen zwischen Frauen werden mit bis zu 100 Peitschenhieben, bei der vierten Verurteilung mit der Todesstrafe geahndet. Die Bestrafung von gleichgeschlechtlichen Handlungen zwischen Männern ist meist schwerwiegender als die für Frauen. Die Todesstrafe für Homosexualität wurde in den letzten Jahren nur punktuell und meist in Verbindung mit anderen Verbrechen verhängt. Aufgrund der mangelnden Transparenz des Gerichtswesens lässt sich der Umfang der strafrechtlichen Verfolgungsmaßnahmen wegen Homosexualität nicht eindeutig bestimmen (vgl. Bundesamt für Asyl und Fremdenwesen der Republik Österreich (BFA), Länderinformation der Staatendokumentation Iran, 23.5.2022, Version 5, S. 75 f.). Die jüngere Generation im Iran ist gegenüber Homosexuellen zwar toleranter, Homosexualität wird aber nach wie vor nicht offen diskutiert. Diskriminierungen finden statt. Dazu gehören etwa Missbrauch und Belästigung durch Familienmitglieder, Arbeitskollegen, Geistliche etc. Lesbische Frauen können sich zudem aufgrund sozioökonomischer Faktoren von Seiten der Familie gedrängt sehen, einen Mann zu heiraten (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Zur Situation von LGBTIQ-Personen im Iran, Februar 2022, S. 5). Aus Angst vor strafrechtlicher Verfolgung und sozialer Ausgrenzung ist ein öffentliches ’Coming out’ selten. Nach Angabe von Menschenrechtsaktivisten sind im Januar 2022 zwei Männer wegen homosexueller Handlungen hingerichtet worden. Im Juli und August 2022 sind vier Aktivisten für LGBTI-Rechte zum Tode verurteilt worden (vgl. Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Iran (Stand: 18. November 2022) vom 30. November 2022, S. 14).
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Nach alledem stellen homosexuelle und bisexuelle Menschen im Iran eine soziale Gruppe i.S.d. § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG dar (vgl. auch: BayVGH, B.v. 2.12.2020 – 14 ZB 20.31647 – juris Rn. 10; VG Bayreuth, U.v. 15.11.2021 – B 10 K 19.30077 – juris; VG Braunschweig, U.v. 9.8.2021 – 2 A 77/18 – juris). Die Auskunftslage zeigt zudem, dass offen gelebte Homo- bzw. Bisexualität im Iran ein erhebliches Gefährdungspotenzial schafft, was sich im Einzelfall zu einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit asyl- bzw. flüchtlingsrelevanter Bedrohung verdichten kann (vgl. auch: VG Würzburg, U.v. 27.5.2022 – W 8 K 22.30051 – juris mit weiteren Nachweisen).
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Aufgrund dieser Erkenntnislage ist die Einzelrichterin davon überzeugt, dass der Klägerin bei einer Rückkehr in den Iran mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine flüchtlingsrelevante Verfolgung droht. Interne Fluchtalternativen bestehen nicht.
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Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes können die zuständigen Behörden von dem Asylbewerber nicht erwarten, dass er seine Homosexualität bei einer Rückkehr in das Heimatland geheim hält oder Zurückhaltung beim Ausleben seiner sexuellen Ausrichtung übt, um der Gefahr einer Verfolgung zu entgehen (vgl. EuGH, U.v. 7.11.2013 – C-199/12 bis C-201/12 – juris; BayVGH, B.v. 2.12.2020 – 14 ZB 20.31647 – juris Rn. 10). Dies gilt auch für Bisexuelle. Das Bundesverfassungsgericht hat ausdrücklich ausgeführt, dass die Annahme, ein Bisexueller könne darauf verwiesen werden, seine homosexuelle Orientierung in seinem Heimatland geheim zu halten vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs schlechthin unvertretbar wäre und die Willkürschwelle überschreiten würde (vgl. BVerfG, B.v. 22.1.2020 – 2 BvR 1807/19 – juris Rn. 19). Wenn in der Rechtsprechung dennoch teilweise eine Prognose dahingehend angestellt wird, in welchem Umfang der Betroffene voraussichtlich seine Neigungen im Herkunftsland ausleben wird, ob im Verborgenen oder äußerlich erkennbar, oftmals orientiert an der bisherigen Risikobereitschaft oder der Lebensweise in Deutschland, also erwartet wird, dass dem Betroffenen das Verfolgen seiner Neigungen wichtig und damit relevanter Bestandteil seiner Identität ist, so wird hierbei verkannt, dass die sexuelle Orientierung zwingend bedeutsamer Bestandteil der Identität eines Menschen ist (so auch: VG Braunschweig, U.v. 9.8.2021, a.a.O. – juris Rn. 40 ff.; VG Würzburg, U.v. 27.7.2022 – W 1 K 22.30060 – juris Rn. 24 f.; VG Leipzig, U.v. 18.11.2021 – 3 K 1759/20.A – juris Rn. 25, VG Bremen, U.v. 9.5.2021 – 4 K 1226/20 – juris Rn. 24). Schon weil die Einzelrichterin also davon überzeugt ist, dass die Klägerin bisexuell ist, ist ihr eine Geheimhaltung ihrer Bisexualität oder ein zurückhaltendes Ausleben ihrer sexuellen Ausrichtung bei einer Rückkehr in den Iran nicht zuzumuten. Diese Erkenntnis hat nunmehr auch in der am 1. Oktober 2022 in Kraft getretenen Dienstanweisung an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Eingang gefunden. Danach ist bei der Prüfung der Gefährdung von queeren Flüchtlingen in ihren Herkunftsländern immer davon auszugehen, dass die sexuelle Orientierung oder geschlechtliche Identität offen gelebt wird (vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Besserer Schutz für queere Geflüchtete, 4.10.2022).
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Über die hilfsweise gestellten Anträge zum subsidiären Schutz (§ 4 AsylG) sowie zu nationalen Abschiebungsverboten (§ 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG) war nicht zu entscheiden (§ 31 Abs. 2, 3 Satz 2 AsylG; BVerwG, U.v. 26.6.2002 – 1 C 17/01 – juris). Weiter ist die verfügte Abschiebungsandrohung (Ziffer 5 des Bescheides) aufzuheben, da der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist, § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 2 AsylG. Die in Ziffer 6 verfügte Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 AufenthG ist mit dem Wegfall der Abschiebungsandrohung gegenstandslos geworden und ebenfalls aufzuheben.
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2. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 161 Abs. 1, 154 Abs. 1 VwGO, der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
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Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).