Titel:
Einstweilige Anordnung (teilweise Stattgabe), Anspruch auf Nachweis eines Betreuungsplatzes in einer Kindertageseinrichtung, Kindeswohl
Normenketten:
VwGO § 123
SGB VIII § 24 Abs. 2
Schlagworte:
Einstweilige Anordnung (teilweise Stattgabe), Anspruch auf Nachweis eines Betreuungsplatzes in einer Kindertageseinrichtung, Kindeswohl
Fundstelle:
BeckRS 2023, 1101
Tenor
I. Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, der Antragstellerin vorläufig einen dem individuellen Bedarf entsprechenden Betreuungsplatz in einer Kindertageseinrichtung oder einer Kindertagespflege innerhalb von zwei Wochen ab Zustellung dieses Beschlusses in einem Umfang von 9 Stunden täglich nachzuweisen. Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.
II. Die Antragstellerin und die Antragsgegnerin haben die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens je zur Hälfte zu tragen.
Gründe
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Die am ...2022 geborene Antragstellerin begehrt im Wege einer einstweiligen Anordnung die Verpflichtung der Antragsgegnerin, ihr einen Betreuungsplatz nachzuweisen.
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Die Eltern der Antragstellerin meldeten am 20. Mai 2022 bei dem von der Antragsgegnerin zur Verfügung gestellten Internetportal „Kita Finder I.“ die Antragstellerin bei mehreren Einrichtungen mit einer gewünschten Betreuungszeit bis 10 Stunden ab 9. Januar 2023 an.
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Mit E-Mail vom 31. Mai 2022 teilte die Mutter der Antragstellerin der Antragsgegnerin mit, dass die Antragstellerin im „Kita-Finder I.“ bei Kindergrippen für eine Betreuung ab Januar angemeldet sei. Nun habe man bereits mehrere Absagen bekommen und es sei mitgeteilt worden, dass man keinen Platz anbieten könne und sie von der Warteliste genommen worden seien. Sie bitte daher um Unterstützung.
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Mit E-Mail vom 9. Juni 2022 betätigte die Antragsgegnerin, dass die Antragstellerin auf der internen Warteliste aufgenommen worden sei.
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Nach weiterem telefonischen und E-Mail-Austausch zwischen den Parteien, schilderte die Bevollmächtigte der Antragstellerin mit Schreiben vom 20. Oktober 2022 an die Antragsgegnerin erneut die berufliche Situation der Eltern. Zugleich wurde die Antragsgegnerin mit Fristsetzung zum 31. Oktober 2022 dazu aufgefordert, den Anspruch der Antragstellerin auf Nachweis eines verfügbaren bedarfsgerechten und zumutbaren Betreuungsplatzes im Umfang von 7:00 bis 16:30 Uhr zu erfüllen.
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Am 26. Oktober 2022 bot die Antragsgegnerin der Antragstellerin einen Platz in der Kita B. an. Gemäß einer internen E-Mail der Antragsgegnerin vom 9. November 2022 wurde dieser Platz mit einer täglichen Betreuungszeit entsprechend der Öffnungszeiten der Einrichtung von 07:30 bis 16:00 Uhr angeboten. Nach mehrfachen fehlerhaften Angaben und Berechnungen der Antragsgegnerin über die in der Einrichtung möglichen Betreuungszeiten forderte die Bevollmächtigte der Antragstellerin die Antragsgegnerin zuletzt mit E-Mail vom 15. November 2022 zum Nachweis eines bedarfsgerechten Betreuungsplatzes mit Betreuungszeiten von 7:00 Uhr bis 16:30 Uhr auf.
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Mit Schriftsatz vom 24. November 2022 beantragte die Bevollmächtigte der Antragstellerin beim Verwaltungsgericht München:
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Der Antragsgegner wird im Wege einstweiliger Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin bis zu einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren, längstens befristet bis zum 31.07. des Schuleintrittsjahres der Antragstellerin, einen bedarfsgerechten und zumutbaren Betreuungsplatz über werktäglich 9,5 Stunden in der Zeit von 7:00 Uhr bis 16:30 Uhr in einer Kindertageseinrichtung oder Kindertagespflege mit Beginn zum 09.01.2023 ab sofort nachzuweisen.
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Zur Begründung wurde insbesondere ausgeführt, dass die Antragstellerin gemäß § 24 Abs. 2 SGB VIII einen Anspruch auf Förderung in einer Tageseinrichtung oder Kindertagespflege habe. Die Antragstellerin werde derzeit von ihrer Mutter betreut, welche sich noch in Elternzeit befindet. Ab dem 28. Januar 2023 sei der Wiedereinstieg der Mutter der Antragstellerin in die Erwerbstätigkeit bei ihrem bisherigen Arbeitgeber mit 40Std./Woche geplant. Hierfür benötige sie eine tägliche Pendelzeit von drei Stunden. Der Vater der Antragstellerin arbeite ebenfalls in Vollzeit als Team-/Projektleiter und benötige für seinen Weg zur Arbeit ca. 30 Minuten. Aufgrund der bisher fehlenden Betreuungsmöglichkeit der Antragstellerin ab dem 9. Januar 2023 habe die Mutter ihren Arbeitgeber Anfang November 2022 um eine Verlängerung der Elternzeit geben, mit der Möglichkeit, ab dem 9. Januar 2023 zumindest in Teilzeit mit 32 Stunden pro Woche arbeiten zu dürfen, um den Arbeitsplatz nicht zu verlieren. Der Arbeitgeber stimmte soweit zu. Es wurde jedoch erwartet, dass man sich mit Nachdruck um einen Betreuungsplatz bemühe. Die Reduzierung von den ursprünglich vorgesehenen 40 auf 32 Wochenstunden bedeute für die Familie der Antragstellerin bereits einen erheblichen Verdienstausfallschaden. Eine weitere Reduzierung auf 8,5 Stunden sei jedoch mit der jeweiligen Erwerbstätigkeit der Eltern der Antragstellerin nicht zu vereinbaren. Es drohe jeweils der Arbeitsplatzverlust.
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Dem Anspruch der Antragstellerin könne eine Auslastung der Kapazitäten durch die Antragsgegnerin nicht entgegengehalten werden. Auch ein Abwarten der Hauptsacheentscheidung sei nicht zumutbar, da die Frühförderung der Antragstellerin unaufschiebbar sei, was zu irreversiblen Schäden bei ihr führe.
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Die Antragsgegnerin beantragte mit Schriftsatz vom 14. Dezember 2022,
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den Antrag abzulehnen.
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Zur Begründung wurde insbesondere ausgeführt, dass die von der Antragstellerin beantragte Betreuungszeit von werktäglich 07:00 - 16:30 Uhr (9,5 Stunden) von dem Rechtsanspruch aus § 24 Abs. 2 SGB VIII nicht erfasst sei. Zum einen sei bereits der vorgetragene individuelle Bedarf der Antragstellerin nicht schlüssig vorgetragen. Zum anderen sei der beantragte Betreuungsbedarf von 9,5 Stunden pro Tag nicht mit dem Kindeswohl zu vereinbaren.
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Zudem bestreite die Antragsgegnerin, dass das unterbreitete Angebot mit einer täglichen Betreuungszeit von 8,5 Stunden nicht mit den Erwerbstätigkeiten der Eltern der Antragstellerin zu vereinbaren seien und der Arbeitsplatzverlust der Mutter drohe. Der Antragstellerin werde daher nochmals der Betreuungsplatz in der Kita B. mit einer werktäglichen Betreuungszeit von 7:30 bis 16:00 Uhr (8,5 Stunden pro Tag) angeboten. Dieses Angebot sei bis zum 28. Dezember befristet. Im Fall der Nichtannahme des Angebots durch fruchtlosen Fristablauf werde darauf hingewiesen, dass die Antragstellerin gewisse Wartezeiten in Kauf nehmen müsse bis die Antragsgegnerin einen alternativen Platz anbieten könne. Die Antragsgegnerin sei bestrebt, allen Kindern einen adäquaten Betreuungsplatz anzubieten, der geeignet sei, das Kind zu bilden und in seiner Persönlichkeitsentwicklung zu fördern. Sie trägt vor, dass sich im Jahre 2021 in I. die durchschnittliche tägliche Betreuungsdauer der Kinder unter drei Jahren auf 7,3 Stunden beliefe, sodass sich ein Betreuungsbedarf von 9,5 Stunden pro Tag als deutlich überdurchschnittlich erweise. Schließlich sei es der Antragstellerin im Eilverfahren auch zumutbar, eine etwas kürzere Betreuungszeit hinzunehmen.
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Die Antragsgegnerin trägt weiter vor, dass auch ein Anordnungsgrund nicht glaubhaft gemacht worden sei. Wesentliche Nachteile seien für die Eltern der Antragstellerin nicht zu befürchten, da der Antragstellerin bereits ein geeignetes und zumutbares Angebot unterbreitet worden sei. Ein Anordnungsgrund bestehe auch nicht deshalb, weil eine irreversible Nichterfüllung eines etwaig bestehenden Anspruchs vorliege. Schließlich drohe der Antragstellerin auch kein Schaden in Form der entgangenen Frühförderung.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird ergänzend auf die Gerichtsakte sowie die elektronisch vorgelegte Behördenakte verwiesen.
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Der zulässige Antrag ist im tenorierten Umfang begründet.
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Einstweilige Anordnungen sind nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, nötig erscheint, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern. Voraussetzung ist, dass die Antragstellerin das von ihr behauptete streitige Recht (den Anordnungsanspruch) und die drohende Gefahr seiner Beeinträchtigung (den Anordnungsgrund) glaubhaft macht, § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO.
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Grundsätzlich dient die einstweilige Anordnung nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO der vorläufigen Regelung eines Rechtsverhältnisses. Mit der von der Antragstellerin begehrten Entscheidung wird die Hauptsache aber vorweggenommen. In einem solchen Fall sind an die Prüfung von Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch qualifizierte Anforderungen zu stellen, d.h. der Erlass einer einstweiligen Anordnung kommt nur in Betracht, wenn ein hoher Grad an Wahrscheinlichkeit für einen Erfolg in der Hauptsache jedenfalls dem Grunde nach spricht und die Antragstellerin ohne die einstweilige Anordnung unzumutbaren Nachteilen ausgesetzt wäre (BayVGH, B.v. 18.3.2016 - 12 CE 16.66 - juris Rn. 4).
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Für das Vorliegen eines Anordnungsgrunds ist grundsätzlich Voraussetzung, dass es der Antragstellerin unter Berücksichtigung ihrer Interessen, aber auch der öffentlichen Interessen und der Interessen anderer Personen nicht zumutbar ist, die Hauptsacheentscheidung abzuwarten. Maßgebend sind dabei die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung.
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Nach diesen Maßgaben hat die Antragstellerin überwiegend sowohl einen Anordnungsanspruch als auch einen Anordnungsgrund hinsichtlich des Nachweises eines Betreuungsplatzes im Umfang von 9 Stunden werktäglich glaubhaft gemacht.
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Die Antragstellerin hat einen Anspruch auf Nachweis eines bedarfsgerechten Platzes in einer Kindertageseinrichtung oder in Kindertagespflege gegen die Antragsgegnerin ausreichend glaubhaft gemacht.
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Gemäß § 24 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII hat ein Kind, dass das erste Lebensjahr vollendet hat, bis zur Vollendung des dritten Lebensjahres Anspruch auf frühkindliche Förderung in einer Tageseinrichtung oder in Kindertagespflege. Voraussetzung der Zuweisung eines Betreuungsplatzes ist gemäß § 24 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII i.V.m. Art. 45a AGSG, dass die Erziehungsberechtigten die Gemeinde und bei einer gewünschten Betreuung durch eine Tagespflegeperson den örtlichen Träger der öffentlichen Jugendhilfe mindestens drei Monate vor der geplanten Inanspruchnahme in Kenntnis setzen.
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Diese Anspruchsvoraussetzungen sind vorliegend erfüllt.
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Die Antragstellerin hat zum 4. Januar 2023 das 1. Lebensjahr vollendet. Dementsprechend hatte sie entsprechend der Antragstellung ab dem 9. Januar 2023 einen Anspruch auf einen Betreuungsplatz.
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Die ordnungsgemäße Bedarfsmeldung für einen Betreuungsplatz erfolgte spätestens mit E-Mail der Kindsmutter an die Antragsgegnerin am 31. Mai 2022. Mit dieser E-Mail wurde auch hinreichend deutlich zum Ausdruck gebracht, dass der Anspruch nach § 24 Abs. 2 SGB VIII auf Nachweis eines geeigneten Betreuungsplatzes geltend gemacht wird und keine Anmeldung ausschließlich für eine oder mehrere konkrete Einrichtungen erfolgt (vgl. BayVGH, U.v. 20.7.2016 - 12 BV 15.719 - juris Rn. 25). Wobei die Antragsgegnerin darauf hinzuweisen ist, dass die von ihr gegebenen Reaktionen zumindest den Eindruck vermitteln, als würde sie diese zulässige Bedarfsmeldung im Sinne des § 24 Abs. 2 SGB VIII sachgerecht bearbeiten. Lediglich die Aufnahme in Wartelisten genügt insoweit keinesfalls. Darüber hinaus wäre zur Anspruchserfüllung auch die Möglichkeit der Betreuung in Kindertagespflege zu berücksichtigen gewesen.
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Inwieweit bereits die vorherigen Anmeldungen bei dem Anmeldesystem „Kita Finder I.“ den Anforderungen an eine Bedarfsmeldung in o.g. Sinne entsprechen bzw. die Antragsgegnerin sich diese Anmeldungen bei den einzelnen Einrichtungen zurechnen lassen muss, bedarf vorliegend keiner weiteren Klärung, da mit der Bedarfsmeldung vom 31. Mai 2022 die Drei-Monatsfrist gemäß § 24 Abs. 5 SGB VIII i.V.m. Art. 45a AGSG eingehalten wurde.
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Der Nachweis eines Angebotes zur frühkindlichen Förderung in einer Tageseinrichtung oder in Kindertagespflege genügt den Anforderungen des § 24 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 Satz 3 SGB VIII nur, wenn es dem konkret-individuellen Bedarf des anspruchsberechtigten Kindes und seiner Erziehungsberechtigten insbesondere in zeitlicher und räumlicher Hinsicht entspricht (BVerwG, U.v. 26.10.2017 - 5 C 19/16 - juris Rn. 41). Darüber hinaus ist die Antragsgegnerin darauf hinzuweisen, dass der Nachweis eines Betreuungsplatzes einige Zeit vor der konkreten Inanspruchnahme zu erfolgen hat (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, B.v. 28.5.2019 - OVG 6 S 25.19 - juris Rn. 4; VG München, B.v. 6.8.2019 - M 18 E 19.3248 - juris Rn. 23), so dass der Hinweis in der E-Mail der Antragsgegnerin vom 11. August 2022 auf eine erneute Bedarfsmeldung erst zum 4. Januar 2022 fehlerhaft ist.
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Der Anspruch nach § 24 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII wurde vorliegend nicht erfüllt.
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Entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin haben ihre bisherigen Platzangebote vom 26. Oktober 2022, 14. November 2022 sowie mit Schriftsatz vom 14. Dezember 2022 mit einem maximalen Betreuungsumfang von 8,5 Stunden täglich den Anspruch der Antragstellerin nicht erfüllt. Denn entsprechend der Bedarfsmeldung der Eltern der Antragstellerin wurde (zuletzt) ein Betreuungsumfang von 9,5 Stunden werktäglich genannt, so dass die bisherigen Platzangebote nicht bedarfserfüllend waren. Das Gesetz sieht für den Anspruch nach § 24 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII keine festen zeitlichen Mindest- oder Höchstbetreuungszeiten vor. Einziger Anhaltspunkt ist die Orientierung am „individuellen Bedarf“. Diesen bestimmen die Eltern. Abgewichen werden darf nur, wenn das Wohl des Kindes durch den von den Eltern festgelegten zeitlichen Umfang gefährdet wird (BeckOK SozR/Winkler, 67. Ed. 1.12.2022, SGB VIII § 24 Rn. 24; (BeckOGK/Etzold, 1.9.2022, SGB VIII § 24 Rn. 47; Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, SGB VIII § 24 Rn. 38, beck-online). Unabhängig davon, ob bei einem Betreuungsumfang einer Einjährigen - wie vorliegend - eine Betreuungszeit mit mehr 9 Stunden möglicherweise bereits dem Kindeswohl widerspricht (s.u.) erfüllt zumindest ein Angebot von 8,5 Stunden den geltend gemachten Anspruch nicht.
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Dem Anspruch der Antragstellerin aus § 24 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII kann auch nicht entgegengehalten werden, dass die Antragsgegnerin nach ihren Angaben keinen Betreuungsplatz mit einem Betreuungsumfang von 9 Stunden zur Verfügung stellen kann. Denn der Anspruch steht nicht unter einem Kapazitätsvorbehalt und wird daher durch die von der Antragsgegnerin - glaubhaft - dargelegte Kapazitätserschöpfung auf Grund des Personalmangels nicht berührt. Der Anspruch auf Förderung in einer Einrichtung oder in Kindertagespflege besteht nämlich nicht nur im Rahmen vorhandener Kapazitäten, sondern verpflichtet den Jugendhilfeträger dazu, eine ausreichende Zahl von Betreuungsplätzen selbst zu schaffen oder durch geeignete Dritte bereitzustellen. Es handelt sich insoweit um eine unbedingte Bereitstellungs- bzw. Gewährleistungspflicht, der der Jugendhilfeträger nicht mit dem Einwand der Unmöglichkeit begegnen kann, weil der Anspruch nicht auf den vorhandenen Vorrat an Plätzen begrenzt, sondern - sofern diese Plätze nicht ausreichend sind - auf die Schaffung neuer Plätze, also auf die Erweiterung der vorhandenen Kapazitäten gerichtet ist, bis ein dem Bedarf in qualitativer und quantitativer Hinsicht gerecht werdendes Angebot besteht. Der Träger der öffentlichen Jugendhilfe ist gemäß § 79 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII verpflichtet zu gewährleisten, dass ein dem Bedarf in qualitativer und quantitativer Hinsicht gerecht werdendes Angebot an Fördermöglichkeiten in Tageseinrichtungen und in der Kindertagespflege vorgehalten wird. Ihm obliegt es im Rahmen seiner aus § 79 Abs. 1 und § 80 SGB VIII folgenden Planungsverantwortung, eine plurale Betreuungsinfrastruktur sicherzustellen und gegebenenfalls auch die vorhandenen Kapazitäten so zu erweitern, dass sämtlichen anspruchsberechtigten Kindern ein ihrem Bedarf entsprechender Betreuungsplatz nachgewiesen werden kann (BVerwG, U.v. 26.10.2017 - 5 C 19/16 - juris Rn. 35; BVerfG, U.v. 21.11.2017 - 2 BvR 2177/16 - juris Rn. 134).
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Zwar hat die Antragsgegnerin insoweit dargelegt, dass sie umfangreich in den letzten Jahren weitere Betreuungsplätze geschaffen habe und die aktuell bestehenden Kapazitätsmängel ausschließlich auf dem bestehenden Personalmangel beruhen. Auch die Berufung auf diesen Kapazitätsvorbehalt würde dagegen den vom Gesetzgeber ausdrücklich als zwingenden Rechtsanspruch ausgestalteten § 24 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII leerlaufen lassen, da die Jugendhilfeträger sich dann durch den bloßen Hinweis auf ausgeschöpfte Kapazitäten ihrer gesetzlichen Verpflichtung entziehen könnten. Fachkräftemangel, räumliche Probleme oder andere Schwierigkeiten entbinden den Jugendhilfeträger daher nicht von dieser unbedingten gesetzlichen Verpflichtung (st. Rspr; vgl. zuletzt: VGH BW, B.v. 23.11.2022 - 12 S. 2224722 - juris m.w.N.)
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Die Antragstellerin hat jedoch einen Anordnungsgrund lediglich im Umfang einer Betreuungszeit von 9 Stunden glaubhaft gemacht.
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Das Gericht geht davon aus, dass zumindest bei einer Bedarfsmeldung über den zeitlich üblichen Betreuungsumfang hinaus im Rahmen der einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO ein Nachweis der Dringlichkeit auf Grund einer fehlenden Betreuungsmöglichkeit zu erfolgen hat (vgl. allgemein zu den Anforderungen an die Glaubhaftmachung eines Anordnungsgrundes: OVG NW, B.v. 18.5.2022 - 12 B 410/22 - juris Rn. 10; VG München, B.v. 6.4.2021 - M 18 E 21.1289 - juris Rn. 19 m.w.N.; BeckOK VwGO/Kuhla, 62. Ed. 1.7.2022, VwGO § 123 Rn. 135.46).
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Ein solcher Nachweis ist vorliegend nur für einen Betreuungsumfang von neun Stunden täglich erfolgt.
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Das Gericht legt insoweit die aktuell existierenden vertraglichen Regelungen der Eltern der Antragstellerin zu Grunde, wonach der Vater der Antragstellerin in Vollzeit mit mindestens 40 Stunden die Woche mit einer Organisationszeit von 8.00 Uhr bis 17.00 Uhr arbeitet und einen einfachen Arbeitsweg von der Heimatadresse zur Arbeit von 30 Minuten hat. Die Mutter der Antragstellerin arbeitet nach den aktuellen vertraglichen Regelungen mit ihrem Arbeitgeber - auch wenn ihre Arbeitszeit erst auf Grund des fehlenden ausreichenden Betreuungsplatzes reduziert wurde - im Rahmen ihrer verlängerten Elternzeit ab dem 28. Januar 2023 mit einem Umfang von 32 Wochenstunden, folglich täglich von 6,4 Stunden mit einer zusätzlichen 30-minütigen Pause. Der einfache Arbeitsweg von der Heimatadresse beträgt 1,5 Stunden. Eine Abfrage des Google Routenplaners am 25. Januar 2023 um 15:25 Uhr durch das Gericht ergab für die einfache Strecke der Mutter von der Arbeitsstelle zu der von der Antragsgegnerin angebotenen Kindertageseinrichtung eine Fahrzeitspanne von 1 Stunde 18 Minuten bis 1 Stunde 41 Minuten. Dies zu Grunde gelegt, erscheint eine Betreuungszeit der Antragstellerin von 9.00 Stunden täglich als ausreichend und erforderlich, um den gegenwärtigen und damit dringlichen Bedarf der Antragstellerseite zu befriedigen.
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Es erscheint hingegen nicht sachgerecht, die Idealvorstellungen der Eltern der Antragstellerin hinsichtlich ihrer beruflichen Entwicklungs- und Verdienstmöglichkeiten in Bezug auf den Anspruch nach § 24 Abs. 2 SGB VIII zu Grunde zu legen. Denn mit diesem Anspruch ist - auch wenn er die Vereinbarkeit von Familie und Erwerbsleben verbessern soll - kein Anspruch auf die Schaffung von optimalen Kinderbetreuungsmöglichkeiten verbunden. Es liegt trotz des Anspruchs auf Verschaffen eines Betreuungsplatzes im Verantwortungsbereich der Eltern, bei ihrer Berufstätigkeit auf die Belange ihrer in diesem Zusammenhang noch Kleinkinder im Alter von ein bis drei Jahren Rücksicht zu nehmen (vgl. bereits: VG München, U.v. 13.7.2016 - M 18 K 14.3284 - juris Rn. 49).
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Unter Berücksichtigung der nunmehr nicht im vollen Umfang aufgenommenen Berufstätigkeit der Mutter der Antragstellerin wäre es denkbar, dass der Vater der Antragstellerin diese um 7:00 Uhr in die Tageseinrichtung bringen und danach seiner Erwerbstätigkeit nachgehen könnte und die Mutter der Antragstellerin diese bei einem Arbeitsbeginn um 7:30 Uhr und einem Arbeitsende ca. um 14.15 Uhr um 16:00 Uhr aus der Einrichtung wieder abholen könnte. Alternativ erscheint es auch möglich, dass der Vater die Antragstellerin um 7:30 Uhr in die Einrichtung bringt und die Mutter diese um 16:30 Uhr abholt. Eine Betreuungszeit von lediglich 8,5 Stunden pro Tag - wie von der Antragsgegnerin angeboten - erscheint dem Gericht jedoch der Antragstellerin bzw. ihren Eltern nicht zumutbar. In Anbetracht der regelmäßig möglichen und insoweit auch zu berücksichtigenden zeitlichen Unwägbarkeiten wie Verkehrsstaus, Parkplatzsuche sowie unvorhergesehene Zeitbedürfnisse in der Einrichtung, sei es auf Grund der Bedürfnisse der Antragstellerin, ihrer Eltern oder der ErzieherInnen, erscheint die von der Antragsgegnerin vorgenommene Berechnung ohne jeden Zeitpuffer auch in Bezug auf das Kindeswohl der Antragstellerin, die damit ebenfalls einem erheblichen Zeitdruck ausgesetzt wäre, nicht zumutbar. Insoweit erscheint es der Antragstellerseite zumindest derzeit auch nicht vorwerfbar, dass für die Mutter der Antragstellerin ein erheblicher Arbeitsweg anfällt, der den erforderlichen Betreuungsumfang maßgeblich beeinflusst. Denn nach den Ausführungen der Antragstellerseite hat sich die Kindsmutter bereits um einen Stellenwechsel bemüht.
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Nachdem somit zumindest im Rahmen des Eilverfahrens lediglich ein dringlicher Betreuungsbedarf mit einem zeitlichen Umfang von neun Stunden nachgewiesen wurde, kann auch das - von der Antragsgegnerin erstmalig im gerichtlichen Verfahren angeführte - Argument, dass eine Betreuungszeit über neun Stunden gegen das Kindeswohl verstoße und damit insoweit auch kein Anspruch auf einen solchen zeitlichen Betreuungsplatz bestehe - unabhängig davon, dass die Antragsgegnerin solche Plätze zumindest theoretisch auch anbieten dürfte - nicht zum Erfolg führen.
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Das Gericht weist insoweit jedoch darauf hin, dass auch in der aktuellen Literatur und Rechtsprechung teilweise eine Obergrenze von 45 Wochenstunden genannt wird. Wobei es wohl sachgerecht sein dürfte, nicht von einer starren Altersgrenze für eine Kindeswohlgefährdung auszugehen, sondern diese vielmehr von dem jeweiligen Einzelfall abhängig zu machen. Hierbei dürfte sowohl das Alter und der Entwicklungsstand des Kindes, die Qualität der Eltern-Kind-Beziehung sowie die Ausgestaltung der Betreuung zu berücksichtigen sein. Auch eine Betreuung durch Kindertagespflegepersonen in der vertrauten Umgebung dürfte zeitlich anders zu bewerten sein als die Betreuung außerhalb der elterlichen Wohnung in einer Kinderkrippe (vgl. allgemein: OVG Lüneburg, B.v. 9.11.22 - 14 ME 310/22 Rn. 7 f. auch unter Bezugnahme auf das Gutachten des DIJUF zum Rechtsanspruch U3 aus dem Jahre 2013; VG München, U.v. 21.3.2018 - M 18 K 16.2206 - juris Rn. 35; BeckOGK/Etzold, 1.9.2022, SGB VIII § 24 Rn. 52 f.; LPK-SGB VIII/Roland Kaiser, 8. Aufl. 2022, SGB VIII § 24 Rn. 17; Wiesner/Wapler/Struck/Schweigler, 6. Aufl. 2022, SGB VIII § 24 Rn. 37; Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, SGB VIII § 24 Rn. 41, beck-online jeweils m.w.N.).
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Hinsichtlich des Betreuungsumfangs von neun Stunden täglich ist es der Antragstellerin und ihren Eltern auch nicht zumutbar, eine Hauptsacheentscheidung abzuwarten. Da den Eltern der Antragstellerin keine anderweitige Betreuungsmöglichkeit zur Verfügung steht, ist nicht ersichtlich, wie die Mutter ihrer bereits auf 32 Wochenstunden reduzierten Erwerbstätigkeit aktuell nachkommen könnte. Die Verhinderung, jedenfalls die wesentliche Erschwerung der ab dem 28. Januar 2023 geplanten Wiederaufnahme der Erwerbstätigkeit durch die Mutter und die daraus resultierenden Vermögensnachteile, stellen einen unzumutbaren Nachteil dar.
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Soweit die Antragsgegnerin einen Betreuungsplatz in einer Kindertageseinrichtung in diesem Umfang nicht zur Verfügung stellen kann, dürfte sie im Übrigen auch die Möglichkeit haben, den Betreuungsbedarf durch ein kombiniertes Angebot mit einer zusätzlichen Kindertagespflege zu decken (vgl. zu dieser Konstellation: VG München, U.v. 21.3.2018 - M 18 K 16.2206 - juris Rn. 8). Ein solcher Betreuungswechsel erscheint auch nicht unzumutbar, insbesondere ist auch bei einer ausschließlichen Betreuung in einer Einrichtung davon auszugehen, dass bei einem Betreuungsbedarf von neun Stunden ein, ggf. auch mehrfacher, Wechsel des Betreuungspersonals und der Gruppenzusammensetzung stattfindet. Sofern die Eltern der Antragstellerin einen solchen Wechsel für ihre Tochter als nicht geeignet ansehen, obliegt es ihrer elterlichen Verantwortung dementsprechend zu reagieren.
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Wobei das Gericht ergänzend auch darauf hinweist, dass - entgegen offenbar der Annahme der Bevollmächtigten der Antragstellerseite - ein Abschluss eines Betreuungsvertrages mit einer Kindergrippe mit einem Betreuungsumfang von neun Stunden oder mehr, keinen (zivilrechtlichen) Anspruch auch auf einen entsprechenden Betreuungsplatz bei einem Wechsel in eine Betreuung für über Dreijährige begründen dürfte, so dass die weitere berufliche Planung der Eltern - zumindest lediglich unter Inanspruchnahme des Anspruchs nach § 24 SGB VIII - unrealistisch erscheint.
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Der Antragsgegnerin ist zur Erfüllung des Anspruchs eine Frist bis zwei Wochen nach Zustellung dieses Beschlusses einzuräumen (vgl. auch VG Cottbus, B.v. 23.8.2022 - 8 L 220/22 - juris Rn. 17).
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 VwGO.
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Das Verfahren ist nach § 188 Satz 2 VwGO gerichtskostenfrei.