Inhalt

VG München, Beschluss v. 01.02.2023 – M 10 S 22.50541, M 10 K 22.50538
Titel:

Dublin-Verfahren (Slowenien): Vorliegen von systemischen Mängeln 

Normenketten:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a, § 34a Abs. 1 S. 1, § 76 Abs. 4
Dublin III-VO Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2, Art. 19 Abs. 2
Leitsätze:
1. Es bestehen nach der im Eilverfahren zugrunde gelegten Erkenntnismittellage hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass von Slowenien wiederholt praktizierte Kettenabschiebungen ausgehend von Italien weiter nach Kroatien und Bosnien und Herzegowina auch als Vollzugspraxis von Slowenien geschlossener bilateraler Rückübernahmeabkommen zu verstehen sind. (Rn. 36)
2. Es liegen hinreichende Anhaltspunkte dafür vor, dass die derzeitige slowenische Asylgesetzgebung und die davon ausgehende slowenische Asylverwaltungspraxis gegen Kernvorgaben des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems verstoßen und insofern systemische Mängel im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO darstellen. (Rn. 37)
3. Es bedarf im Hinblick auf die zur Verfügung stehende, nicht eindeutige Erkenntnismittellage näherer Aufklärung, ob Dublin-Rückkehrer aufgrund von Slowenien geschlossener bilateraler Rückübernahmeabkommen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Gefahr laufen, von Slowenien ohne Prüfung ihres Asylantrags in einen Drittstaat abgeschoben zu werden. (Rn. 40)
Schlagworte:
Dublin-Verfahren (Zielstaat Slowenien), Hinreichende Anhaltspunkte für systemische Mängel, Ketten-Abschiebungen von Italien über Slowenien und bis nach Bosnien und Herzegowina, Vollzugspraxis von Slowenien geschlossener bilateraler Rückübernahmeabkommen mit angrenzenden Staaten (im Hauptsacheverfahren aufzuklären), Verlassen des Hoheitsgebiets der Mitgliedstaaten für mehr als 3 Monate (offengelassen), hinreichende Anhaltspunkte für systemische Mängel, Ketten-Abschiebungen, Verlassen des Hoheitsgebiets der Mitgliedstaaten für mehr als 3 Monate
Fundstelle:
BeckRS 2023, 1097

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen Nr. 3 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 15. September 2022 (Gesch.-Z.: … …) wird angeordnet.
II. Dem Antragsteller wird unter Beiordnung seiner Prozessbevollmächtigten Prozesskostenhilfe für die Verfahren M 10 S 22.50541 und M 10 K 22.50538 bewilligt. Die Beiordnung erfolgt zu den Bedingungen eines im Gerichtsbezirk ansässigen Rechtsanwalts.
III. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens hinsichtlich Nummer I. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.
1
Der Antragsteller wendet sich im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes gegen seine angeordnete Überstellung nach Slowenien im Rahmen des sog. Dublin-Verfahrens.
2
Der Antragsteller, ein türkischer Staatsangehöriger mit kurdischer Volkszugehörigkeit, reiste am 15. Juni 2022 in das Bundesgebiet ein und äußerte ein Asylgesuch, von dem die Antragsgegnerin durch behördliche Mitteilung vom 1. Juli 2022 schriftlich Kenntnis erlangte. Der förmliche Asylantrag datiert vom 4. August 2022.
3
Nach einem Abgleich der Fingerabdrücke des Antragstellers mit der EURODAC-Datenbank lagen Anhaltspunkte für die Zuständigkeit eines anderen Staats nach der VO (EU) 604/2013 (Dublin III-VO) vor (EURODAC-Kennnummer … vom 1.12.2021). Am 5. August 2022 richtete die Antragsgegnerin ein Übernahmeersuchen an Slowenien. Mit Schreiben vom 11. August 2022 erklärten die slowenische Behörden ihre Zuständigkeit für die Bearbeitung des Asylantrags des Antragstellers gem. Art. 18 Abs. 1 Buchst. b Dublin III-VO.
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Im Erstgespräch vom 4. August 2022 gab der Antragsteller an, sein Heimatland erstmalig vor einem Jahr verlassen zu haben. Er sei von der Türkei durch unbekannte Länder nach Deutschland gereist. In Deutschland sei er am 15. Juni 2022 angekommen. Er habe in keinem anderen Mitgliedstaat internationalen Schutz beantragt, in Slowenien seien ihm Fingerabdrücke genommen worden. Im Gespräch zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats am 18. August 2022 gab der Antragsteller an, dass ihm 2021 in Slowenien Fingerabdrücke genommen worden seien. Er glaube, damals dort einen Asylantrag gestellt zu haben. Er sei dort 1 Woche im Gefängnis gewesen und 9 Tage in Isolation, danach sei er in ein Camp verlegt worden. Aus diesem sei er nach einem Tag geflohen. In seiner persönlichen Anhörung gem. § 25 AsylG am gleichen Tag gab der Antragsteller an, dass er am 9. Juni 2022 in Istanbul in einen LKW gestiegen sei, der ihn bis nach Dresden gebracht habe (Ankunft 15.6.2022). Welche Länder der LKW durchquert habe, könne er nicht sagen. Im Jahr 2021 sei er bereits in Slowenien gewesen. Da der Schleuser ihm gesagt habe, dass es wegen der slowenischen Polizei nicht möglich sei, weiterzureisen, sei er zunächst zurück in die Türkei gereist. Als er zurück in die Türkei gekommen sei, habe Schnee gelegen. Das zweite Mal sei er am 9. Juni 2022 aus der Türkei ausgereist.
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Mit Bescheid vom 15. September 2022, dem Antragsteller zugestellt am 27. September 2022, lehnte die Antragsgegnerin den Asylantrag als unzulässig ab (Nr. 1) und verneinte das Vorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG (Nr. 2). Die Abschiebung nach Slowenien wurde angeordnet (Nr. 3). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde gem. § 11 Abs. 1 AufenthG angeordnet und auf 13 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 4). Auf die Begründung des Bescheids wird Bezug genommen.
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Der Antragsteller hat am 29. September 2022 Klage gegen den Bescheid vom 15. September 2022 erhoben und beantragt die Aufhebung dieses Bescheids (M 10 K 22.50538). Darüber hinaus wird beantragt,
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die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid vom 15. September 2022 anzuordnen,
sowie,
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dem Antragsteller unter Beiordnung seiner Prozessbevollmächtigten Prozesskostenhilfe zu bewilligen.
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Zur Begründung wird ausgeführt, dass es an der slowenisch-kroatischen Grenze seit Langem und in erheblichem Umfang zu „Pushbacks“ komme. Auch Kettenabschiebungen von Italien und Österreich über Slowenien nach Kroatien und von dort wiederum nach Bosnien und Herzegowina seien belegt. Jedenfalls sei ohne individuelle Zusicherung nicht sichergestellt, dass im Wege des Dublin-Verfahrens rücküberstellte Antragsteller nach Slowenien nicht ebenfalls Opfer von Kettenabschiebungen nach Kroatien würden. Zudem versuche die slowenische Regierung seit Längerem, das Recht auf Asylantragstellung massiv einzuschränken. Das slowenische Verfassungsgericht habe festgestellt, dass die jüngsten verschärfenden Gesetzesänderungen gegen Art. 18 der slowenischen Verfassung verstoßen würden. Dennoch sei es im März 2021 zu einer erneuten Gesetzesänderung gekommen, aufgrund derer u.a. die Polizei von Fall zu Fall befugt sei, zu entscheiden, ob eine Person internationalen Schutz beantragen oder in ein anderes Land zurückgeschickt werden könne. Fünfzehn slowenische Zivilgesellschaften hätten ernsthafte Bedenken über die neuen Vorschriften, die es ermöglichten, Geflüchtete daran zu hindern, internationalen Schutz zu beantragen, geäußert. Sloweniens Vorgehen, schon seit Jahren Migranten durch informelle und verkürzte Verfahren ohne Rückführungsentscheidung und ohne Zugang zu rechtlichem Beistand oder die Möglichkeit, Rechtsmittel einzulegen, in Nachbarländer, vor allem Kroatien, zurückzuführen, basiere zudem auf bilateralen Rückübernahmeabkommen. Überdies gebe es zahlreiche Berichte von gewaltsamen Übergriffen durch slowenische Grenzbeamte. Auch wenn keine spezifischen Erkenntnismittel zum Verbleib von Dublin-Rückkehrern aus Deutschland vorlägen, sei davon auszugehen, dass diese angesichts der niedrigen Zahlen von den im Grenzgebiet tätigen Nichtregierungsorganisationen nicht separat erfasst würden. So seien im ersten Halbjahr 2021 gerade einmal 19 Personen von Deutschland nach Slowenien abgeschoben worden, während die slowenischen Behörden im gleichen Zeitraum mehr als 10.000 Menschen mehrheitlich nach Kroatien zurückgeschoben hätten. Im Übrigen wird auf die Begründung der Klage Bezug genommen.
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Mit Schriftsatz vom 6. Oktober 2022 hat der Antragsteller sein Vorbringen teilweise vertieft. Nach Medienberichten sowie der Erkenntnismittellage sei belegt, dass Kettenabschiebungen ausgehend von Italien über Slowenien, Kroatien und Bosnien und Herzegowina teils weiter bis nach Griechenland stattgefunden hätten. Dass es sich nicht nur um eine theoretische Gefahr handele, gehe auch aus der Rechtsprechung des slowenischen Verwaltungsgerichts hervor. Das slowenische Asylsystem sei insoweit von systemischen Mängeln i.S.v. Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO betroffen.
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Die Antragsgegnerin beantragt mit Schriftsatz vom 17. Oktober 2022,
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den Antrag abzulehnen.
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Zur Begründung wird auf den streitgegenständlichen Bescheid verwiesen. Mit Schriftsatz vom 12. Januar 2023 trug die Antragsgegnerin vor, dass der Vortrag des Antragstellers zu seinem zwischenzeitlichen Aufenthalt in der Türkei zwischen Dezember 2021 und Juni 2022 als Schutzbehauptung zu werten sei. Der Antragsteller habe keine Belege für seinen zwischenzeitlichen Aufenthalt vorgelegt. Dem diesbezüglichen Vortrag des Antragstellers käme allenfalls Indizwirkung i.S.v. Art. 22 Abs. 5 Dublin III-VO zu. Die Beweiskraft des EURODAC-Treffers sei hierdurch aber nicht erschüttert (unter Berufung auf VG Cottbus, B.v. 19.9.2017 - 5 L 208.17.A. - juris Rn. 12 ff.).
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Mit Schriftsatz vom 27. Januar 2023 hat der Antragsteller auf den Schriftsatz der Antragsgegnerin vom 12. Januar 2023 erwidert. Entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin ergäben sich aus Art. 22 Abs. 3 Dublin III-VO keine Anforderungen an die Glaubhaftmachung des Fluchtweges eines Asylantragstellers. Diese Vorschrift regele das zwischenstaatliche Verfahren innerhalb des Dublin-Verfahrens.
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Mit Schreiben vom 30. November 2022 wurden die Beteiligten zur Übertragung des Eilverfahrens auf die Kammer gem. § 76 Abs. 4 Satz 2 AsylG angehört.
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Mit Beschluss vom 19. Dezember 2022 wurde der Rechtsstreit nach § 76 Abs. 4 Satz 2 Alt. 1 AsylG zur Entscheidung auf die Kammer übertragen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakten, auch im Verfahren M 10 K 22.50538, sowie die beigezogene Behördenakte Bezug genommen.
II.
18
Der Beschluss ergeht gem. § 76 Abs. 4 Satz 2 Alt. 1 AsylG durch die Kammer, nachdem der Einzelrichter die Sache wegen grundsätzlicher Bedeutung zur Entscheidung auf diese übertragen hat.
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1. Der Antrag nach § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG, § 80 Abs. 5 VwGO hat Erfolg, er ist zulässig und begründet.
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a) Entfaltet ein Rechtsbehelf - wie hier (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 75 Abs. 1 AsylG) - von Gesetzes wegen keine aufschiebende Wirkung, kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1
Alt. 1 VwGO anordnen. Das Gericht trifft dabei eine eigene Ermessensentscheidung, bei der es abzuwägen hat zwischen dem sich aus § 75 AsylG ergebenden öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung des Bescheids und dem Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfes. Dabei sind insbesondere die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens zu berücksichtigen. Ergibt die im Eilverfahren gebotene summarische Prüfung, dass die Klage voraussichtlich erfolglos sein wird, tritt das Interesse des Antragstellers regelmäßig zurück. Stellen sich die Erfolgsaussichten der Klage nach summarischer Prüfung als offen dar, ist im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden.
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Gemessen an diesen Maßstäben geht die Interessenabwägung im vorliegenden Fall zu Gunsten des Antragstellers aus. Nach summarischer Prüfung sind im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt dieses Beschlusses (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG) die Erfolgschancen des Antragstellers im Hauptsacheverfahren jedenfalls als offen anzusehen, womit im Wege einer Folgenabwägung zu seinen Gunsten zu entscheiden ist.
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b) Nach derzeitigem Erkenntnisstand bestehen rechtliche Bedenken gegen die Ablehnung des Asylantrags des Antragstellers als unzulässig gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1
Buchst. a AsylG. Damit lässt sich nicht hinreichend sicher prognostizieren, dass die nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG ergangene Abschiebungsanordnung Bestand haben wird.
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aa) Nach der Grundregel des Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 1 Dublin-III-VO ist immer derjenige Mitgliedstaat zuständig, in dem der Antrag auf internationalen Schutz zuerst gestellt worden ist, außer es ergibt sich anhand der Kriterien der Art. 7 ff. Dublin-III-VO eine anderweitige Zuständigkeit.
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Vorliegend kommt zwar die Zuständigkeit Sloweniens nach Art. 18 Abs. 1 Buchst. b Dublin III-VO aufgrund des dort gestellten Asylantrags im Ausgangspunkt in Betracht, zudem haben die slowenischen Behörden mit Schreiben vom 11. August 2022 ihre Zuständigkeit für die Bearbeitung des Asylantrags des Antragstellers erklärt.
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bb) Dahinstehen kann vorliegend, ob die Zuständigkeit Sloweniens nach Art. 19 Abs. 2 Dublin III-VO entfallen ist. Zwar kann der Antragsteller nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH, U.v. 7.6.2016 - C-155/15, Rs. „Karim“ - juris Rn. 27) einen Verstoß gegen Art. 19 Abs. 2 Dublin III-VO „geltend machen“. Inwiefern der von der Antragsgegnerin zitierten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichts Cottbus (VG Cottbus, B.v. 19.9.2017 - 5 L 208/17.A - juris Rn. 12 ff.; hieran anschließend VG München, B.v. 1.3.2018 - M 1 S 17.52262 - juris Rn. 18) zu folgen ist, oder ob im Hinblick auf Art. 22 Abs. 3 Satz 2 Buchst. b Doppelbuchst. ii, Art. 22 Abs. 4 Dublin III-VO jedenfalls für das Eilverfahren auch Indizien i.S.v. Art. 22 Abs. 5 Dublin III-VO i.V.m. Durchführungsverordnung (EU) Nr. 118/2014, Verzeichnis B Nr. 9, für die mindestens 3-monatige Abwesenheit vom Hoheitsgebiet der EU-Mitgliedstaaten genügen können (so VG Berlin, B.v. 31.5.2017 - 36 L 342/17 A - juris Rn. 12 m.w.N.), kann aber vorliegend offenbleiben. Dies gilt damit auch für die Angaben des Antragstellers zu seinem geltend gemachten zwischenzeitlichen Aufenthalt in der Türkei und die Fragen von deren Beweiskraft.
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cc) Denn vorliegend sprechen jedenfalls beachtliche Gründe dafür, dass die Zuständigkeit der Antragsgegnerin für die Bearbeitung des Asylantrags des Antragstellers nach Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO auf die Antragsgegnerin übergegangen ist. Es liegen nach der zur Verfügung stehenden Erkenntnismittellage jedenfalls ernstzunehmende Anhaltspunkte dafür vor, dass die derzeitige slowenische Asylgesetzgebung sowie die davon ausgehende Asylverwaltungspraxis mit Kernvorschriften des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (insbesondere Asylverfahrensrichtlinie 2013/32/EU) sowie internationalem Recht nicht in Einklang steht. Danach erscheint hinreichend wahrscheinlich, dass der Antragsteller bei einer Überstellung nach Slowenien einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) bzw. Art. 3 EMRK ausgesetzt wäre.
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(1) Nach dem Prinzip der normativen Vergewisserung (vgl. BVerfG, U.v. 14.5.1996 - 2 BvR 1938/93 und 2 BvR 2315/93 - juris) bzw. dem Prinzip des gegenseitigen Vertrauens (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011 - C-411/10 und C-493/10 - juris) gilt die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat der Europäischen Union den Vorschriften der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), der Europäischen Konvention für Menschenrechte (EMRK) und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union entspricht. Allerdings ist diese Vermutung nicht unwiderleglich. Vielmehr obliegt den nationalen Gerichten die Prüfung, ob es im jeweiligen Mitgliedstaat Anhaltspunkte für systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber gibt, welche zu einer Gefahr für den Antragsteller führen, bei Rückführung in den zuständigen Mitgliedstaat einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh ausgesetzt zu werden (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011, a.a.O.). Die Vermutung ist aber nicht schon bei einzelnen einschlägigen Regelverstößen der zuständigen Mitgliedstaaten widerlegt. An die Feststellung systemischer Mängel sind vielmehr hohe Anforderungen zu stellen. Von systemischen Mängeln ist daher nur dann auszugehen, wenn das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber regelhaft so defizitär sind, dass zu erwarten ist, dass dem Asylbewerber im konkret zu entscheidenden Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht (vgl. BVerwG, B.v. 17.1.2022 - 1 B 66.21 - juris Rn. 18 ff.; BVerwG, B.v. 19.3.2014 - 10 B 6.14 - juris Rn. 9; VGH BW, U.v. 16.4.2014 - A 11 S 1721/13 - juris Rn. 41; grundlegend EuGH, U.v. 21.12.2011 - C-411/10, „Abdullahi“ - NVwZ 2012, 417, Rn. 80 ff.). Dabei ist nach der zwischenzeitlich ergangenen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu berücksichtigen, dass der Begriff der systemischen Schwachstellen nicht notwendigerweise gesamtbezogen auf das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen im Überstellungsstaat insgesamt zu verstehen ist, sondern auch Teilbereiche hiervon erfasst sein können, die mit individuellen Umständen des Asylbewerbers verknüpft sind (EuGH, U.v. 16.2.2017 - C-578/16 PPU - juris Rn. 70 ff. = NVwZ 2017, 691 ff., im Hinblick auf das Gesundheitssystem in Kroatien). Demnach ist mittlerweile geklärt, dass auch die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verletzung von Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK eine Überstellung i.S.v. Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO unmöglich machen kann, selbst wenn diese Rechtsverletzung nicht die Konsequenz aus der Existenz systemischer Schwachstellen im zuständigen Mitgliedstaat ist (EuGH, U.v. 16.2.2017 - C-578/16 PPU - juris Rn. 91). Erforderlich, aber auch ausreichend ist daher, wenn auf Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben dem Gericht Anhaltspunkte für Schwachstellen vorliegen, welche eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen und den Antragsteller betreffen. Diese besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit ist (auch) erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass sich eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Bedürfnissen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen (BVerwG, B.v. 17.1.2022 - 1 B 66.21 - juris Rn. 18; EuGH, U.v. 19.3.2019 - C 297/17 „Ibrahim“ u.a. - juris Rn. 89 ff. und C-163/17, „Jawo“ - juris Rn. 91 ff.).
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(2) In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist ferner geklärt, dass es sowohl verfassungsrechtlich als auch europa- und konventionsrechtlich geboten sein kann, dass sich die zuständigen Behörden und Gerichte vor der Rückführung eines Asylsuchenden in einen anderen Staat über die dortigen Verhältnisse informieren und gegebenenfalls Zusicherungen der zuständigen Behörden einholen. Soweit entsprechende Erkenntnisse und Zusicherungen im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht vorliegen und nicht eingeholt werden können, ist es zur Sicherung effektiven Rechtsschutzes geboten, die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen (BVerfG, B.v. 10.10.2019 - 2 BvR 1380/19 - juris Rn. 16). Dies gilt jedenfalls in solchen Fällen, in denen die Auskunftslage im Eilverfahren nicht hinreichend eindeutig erscheint und eine weitere Sachaufklärung im Hauptsacheverfahren naheliegt (BVerfG, B.v. 21.4.2016 - 2 BvR 273/16 - juris Rn. 14). Dabei ist auch in den Blick zu nehmen, dass die Ablehnung des Antrags nach § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG i.V.m. § 80 Abs. 5 VwGO ungeachtet sich stellender komplexer Rechts- oder Tatsachenfragen im Hauptsacheverfahren die Rechtsweggarantie eines Antragstellers aus Art. 19 Abs. 4 GG in rechtlich unzulässiger Weise abschneiden kann (BVerfG, B.v. 20.11.2018 - 2 BvR 80/18 - juris Rn. 8, mit Verweis auf § 80 AsylG).
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(3) Gemessen an diesen Vorgaben ist nach der vorliegenden Erkenntnismittellage jedenfalls von ernstzunehmenden Anhaltspunkten für das Vorliegen systemischer Mängel im slowenischen Asylsystem auszugehen, hinsichtlich derer auch hinreichend wahrscheinlich erscheint, dass sie den Antragsteller treffen können. Der streitgegenständliche Bescheid hat sich insofern nicht ausreichend mit aktuellen Erkenntnismitteln auseinandergesetzt.
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(a) Nach den vorliegenden Erkenntnismitteln ist belegt, dass nach der seit mehreren Jahren bestehenden slowenischen Asylgesetzgebung und der Verwaltungspraxis der Zugang zum Asylverfahren massiv eingeschränkt ist.
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Bereits Anfang 2017 verabschiedete das slowenische Parlament Änderungen des Ausländergesetzes, die ihm eine Aussetzung des Asylrechts ermöglichten, wenn die Migration „eine Bedrohung für die öffentliche Ordnung und die innere Sicherheit in der Republik Slowenien“ darstelle. In diesem Falle solle ein besonderes rechtliches Regime gelten, nach welchem die Polizei sämtliche Absichtserklärungen von Antragstellern, internationalen Schutz beantragen zu wollen, als unzulässig abweisen könne. Sie sei danach befugt, die antragstellende Person abzuschieben, wenn diese aus einem benachbarten EU-Mitgliedstaat nach Slowenien eingereist sei, in dem keine systemischen Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen herrschten. Das slowenische Verfassungsgericht stellte hierzu fest, dass die Änderungen gegen Artikel 18 der Verfassung, das Verbot der Folter und das daraus abgeleitete Gebot des non-refoulement, verstoßen. Dennoch kam es im März 2021 zu einer erneuten Gesetzesänderung, die ähnliche Beschränkungen vorsah wie im Gesetz von Anfang 2017. Nach dem Gesetz von März 2021 solle die Polizei im Falle einer „komplexen Krise im Bereich der Migration“ befugt sein, zu entscheiden, ob eine Person internationalen Schutz beantragen könne oder in ein anderes Land zurückgeschickt werde. Der slowenische Ombudsmann für Menschenrechte informierte die Europäische Kommission über die jüngste Gesetzesänderung von März 2021 und führte in einer Stellungnahme aus, dass die slowenische Regierung sich über die Entscheidung des Verfassungsgerichts hinwegsetzen würde. Bis zum Jahr 2021 wurde der Zustand einer „komplexen Krise“ im Bereich der Migration in Slowenien nicht ausdrücklich ausgerufen (AIDA, Country Report Slovenia, Update 2021, S. 23 f.).
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In der slowenischen Asylpraxis sind nicht nur „Pushbacks“ an der Grenze mit Kroatien belegt, sondern auch ein offenbar existierendes System von „Überstellungsketten“, nach welchen nach Slowenien rückgeführte Migranten (insbesondere von Italien, aber auch Österreich) umgehend weiter nach Kroatien und von dort nach Bosnien und Herzegowina weitergeschoben wurden, ohne ihnen trotz ausdrücklicher Bitte Zugang zu einem Asylverfahren zu gewähren (sog. chain-refoulement, s. dazu AIDA, a.a.O., S. 25). Diese Vorgehensweise basiert weitgehend auf bilateralen Rückübernahmeabkommen, welche Slowenien mit seinen Nachbarländern geschlossen hat. Diese bilateralen Rückübernahmeabkommen ermöglichen die Rückführung von Migranten durch informelle und verkürzte Verfahren ohne Rückführungsentscheidung und ohne Zugang zu rechtlichem Beistand oder die Möglichkeit, Rechtsmittel einzulegen (BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Slowenien, Stand 9.12.2021, S. 4). Zwischen Juni 2018 und August 2021 soll Slowenien etwa 27.000 Personen zurückgeschoben haben (BFA, a.a.O.). Dabei gibt es zahlreiche und detaillierte Berichte, dass Slowenien zwischen Januar 2018 und dem Jahr 2022 sowohl Einzel- als auch Personengruppen nach Kroatien zurückgeschoben hat, die ausdrücklich erklärt hatten, internationalen Schutz in Slowenien beantragen zu wollen (European Agency for Fundamental Rights, Migration: Key Fundamental Rights Concerns, Bulletin 3 [17.12.2021], S. 4).
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Des Weiteren liegen Informationen vor, dass die slowenische Polizei gegenüber Migranten irreführende Informationen gegeben habe: Teils berichteten Geflüchtete, Polizisten hätten ihnen gesagt, in Slowenien gebe es kein Asyl, sie seien nicht asylberechtigt, während andere Polizisten gesagt hätten, ihr Asylverfahren würde bearbeitet und sie würden in Asylunterkünften untergebracht, während letztendlich alle nach Kroatien zurückgeschickt worden seien, ohne die Möglichkeit, internationalen Schutz zu beantragen (AIDA, a.a.O., S. 25).
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Der Erkenntnismittellage lässt sich entnehmen, dass die slowenische Justiz bemüht ist, wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz zu gewährleisten. So wurden von verschiedenen slowenischen Gerichten Abschiebungen von Geflüchteten nach Kroatien nach dem bilateralen Rückübernahmeabkommen als Verstoß gegen slowenisches, europäisches und internationales Recht eingeordnet (AIDA, a.a.O., S. 26 f.; US Department of State, Slovenia 2021 Human Rights Report, S. 11). Jedoch gibt es Hinweise, dass die slowenische Exekutive ihr missliebige gerichtliche Entscheidungen ignoriert (BFA, a.a.O., S. 4), bzw. es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass die einschlägige Judikatur slowenischer Gerichte, einschließlich der des Verfassungsgerichts, eine nachhaltige Änderung der slowenischen Asylgesetzgebung und Verwaltungspraxis bewirkt hat.
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(b) Die von Slowenien ausgehende Praxis, Geflüchtete nach informellen Verfahren aufgrund bilateraler Rückübernahmeabkommen in Drittstaaten abzuschieben, sei es in Rücküberstellungs- als auch in Erstantragstellungskonstellationen, verstößt in mehrfacher Hinsicht gegen europäisches und internationales Recht. Bereits der Abschluss bilateraler Rückübernahmeabkommen mit angrenzenden Drittstaaten erscheint rechtlich nicht unbedenklich, wenn hierdurch ein Parallelregime zum Gemeinsamen Europäischen Asylsystem mit einem niedrigeren Rechtsstandard implementiert wird (vgl. AIDA, a.a.O., S. 25; s. auch Bru/Anastasopoulu/Hyrkkö, “The Circumvention of the Dublin III Regulation through the use of bilateral agreements to return asylum seekers to other member states” - abrufbar unter https://www.asylumlawdatabase.eu/en/content/circumvention-dublin-iii-regulation-through-use-bilateral-agreements-return-asylum-seekers [abgerufen 1.2.2023]). So stellt bereits Art. 4 RL 2008/115/EG (EG-Rückführungsrichtlinie) im Umkehrschluss klar, dass bilaterale Rückübernahmeabkommen keine niedrigeren Rechtsstandards als diese Richtlinie aufweisen dürfen (vgl. hinsichtlich des Gebots des non-refoulement auch ausdrücklich Art. 9 Abs. 1 Buchst. a RL 2008/115/EG). Problematisch wäre aber insbesondere hinsichtlich eines zwischen Slowenien und Kroatien existierenden bilateralen Rückübernahmeabkommens, dass dieses hinsichtlich Überstellungsmodalitäten und Verfahrensrechten in Konflikt mit der Dublin III-VO selbst stünde, die aufgrund des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts vorrangige Geltung vor einem solchen Abkommen beanspruchen würde (vgl. etwa grundlegend zur Vereinbarkeit des bilateralen Abkommens Deutschland-Griechenland 2018 mit EU-Recht: VG München, B.v. 4.5.2021 - M 22 E 21.30294 - juris Rn. 88 ff.). Denn nach Art. 78 Abs. 2 Buchst. e des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) hat die Union die Kompetenz zum Erlass von Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist. Hierbei handelt es sich gem. Art. 4 Abs. 2 Buchst. j AEUV um eine geteilte Kompetenz, von der die Union mit der Dublin III-VO Gebrauch gemacht hat (VG München, a.a.O., Rn. 89). Wahrscheinlich wird es sich auch bei den in der Erkenntnismittellage angesprochenen bilateralen Rückübernahmeabkommen von Slowenien um (unzulässige) und vereinfachte Prüfungsverfahren und nicht lediglich um Verwaltungsvereinbarungen i.S.v. Art. 36 Dublin III-VO handeln, die überdies nach Art. 36 Abs. 3 Dublin III-VO eine Genehmigung der Kommission benötigen würden (vgl. auch VG München, a.a.O., Rn. 98).
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Weiterhin spricht vieles dafür, dass die in der Erkenntnismittellage erwähnten bilateralen Rückübernahmeabkommen von Slowenien bzw. insbesondere deren Vollzug gegen zentrale Vorgaben der Asylverfahrensrichtlinie verstoßen dürften, etwa Art. 6 Abs. 2 Satz 1, Art. 9 Abs. 1 Satz 1, Art. 12 RL 2013/32/EU (vgl. hinsichtlich des bilateralen Abkommens Deutschland-Griechenland 2018: VG München, a.a.O., Rn. 42 ff.). Im Hinblick auf die Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes liegt es im Übrigen nahe, die Vereinbarkeit von Slowenien geschlossener Rückübernahmeabkommen mit Art. 27 Dublin III-VO (VG München, a.a.O., Rn. 51) sowie Art. 13 EMRK und Art. 47 GRCh anzuzweifeln. Schließlich spricht vieles dafür, dass die von Slowenien praktizierten „Pushbacks“ bzw. „chain-refoulements“, je nach konkreter Konstellation, gegen einschlägige völkerrechtliche Bestimmungen wie das Gebot des non-refoulement (Art. 33 GFK, Art. 3 EMRK, Art. 7 IPbpR) oder auch das Verbot der Kollektivausweisung verstoßen (Art. 4 des vierten Zusatzprotokolls zur EMRK, Art. 19 Abs. 1 GRCh). So hat insbesondere auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte wiederholt geurteilt, dass der Vollzug bilateraler Rückübernahmeabkommen die Vertragsstaaten der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht aus ihrer rechtlichen Verantwortlichkeit aus Art. 3 EMRK entlässt und die umgehende Rückführung nach einem solchem Abkommen ohne Gewährleistung von Verfahrensgarantien und Gelegenheit zur Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz gegen das Gebot des non-refoulement verstößt (s. dazu grundlegend EGMR, U.v. 23.2.2012 [GK] - Hirsi Jamaa u.a./Italien, Nr. 27765/09 - HUDOC Rn. 129, 146 ff. = NVwZ 2012, 809 [813 f.]; EGMR, U.v. 15.12.2016 [GK], Khlaifia u.a./Italien, Nr. 16483/12, HUDOC Rn. 241 = BeckRS 2016, 139293; s. bezüglich der ungarischen Praxis ab 2015 auch EGMR, U.v. 21.11.2019 [GK] - Ilias und Ahmed/Ungarn, Nr. 47287/15 - HUDOC Rn. 134, 137, 158 ff. = NVwZ 2020, 937 [938 f.]; EGMR, U.v. 8.7.2021 - Shahzad u.a./Ungarn, Nr. 12625/17 - HUDOC Rn. 62 = NVwZ-RR 2022, 737 [740]).
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(c) Vorliegend handelt es sich aufgrund der einschlägigen slowenischen Asylgesetzgebung und Verwaltungspraxis nicht nur um vereinzelte Verstöße gegen zentrale Vorgaben des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems sowie gegen internationales Recht (was wie oben dargestellt selbst von slowenischen Gerichten so beurteilt wurde). Demnach kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass diese den Antragsteller bei einer Rücküberstellung „unvorhergesehen“ oder „lediglich schicksalhaft“ treffen würden. Entgegen der Ansicht zahlreicher (deutscher) Verwaltungsgerichte (vgl. etwa jüngst: VG München, B.v. 15.12.2022 - M 3 S 22.50274, n.v.; VG München, B.v. 29.11.2022 - M 30 S 22.50273, n.v.; VG Wiesbaden, B.v. 18.7.2022 - 7 L 587/22.WI.A - juris; VG Arnsberg, B.v. 13.7.2022 - 6 L 467/22.A - juris; VG Sigmaringen, B.v. 8.7.2022 - A 5 K 1362/22 - juris; VG Trier, B.v. 17.5.2022 - 7 L 1352/22.TR - juris; VG München, B.v. 5.4.2022 - M 5 S 22.50169, n.v.; VG Würzburg, B.v. 11.12.2020 - W 8 S 20.50299 - juris) sprechen die nach der Erkenntnismittellage dargestellten Missstände für das Vorliegen systemischer Mängel in Slowenien (so auch überzeugend: VG Braunschweig, U.v. 24.5.2022 - 2 A 46/22 - juris Rn. 30-46; hieran anschließend VG Hannover, B.v. 31.8.2022 - 15 B 2864/22 - juris Rn. 11 ff.; s. auch Tribunale di Genova, Sezione XI civile, B.v. 7.4.2020 - Entscheidung abrufbar unter: https://www.alessandraballerini.com/giurisprudenza/426-annullato-il-provvedimento-per-il-trasferimento-del-richiedente-asilo-in-slovenia-appare-fondato-il-rischio-per-il-ricorrente-di-subire-trattamenti-inumani-e-degradanti-alla-luce-dell-intolleranza-del-governo-e-delle-forze-di-polizia [abgerufen 1.2.2023]). Die wiederholt anzutreffende verkürzte Darstellung in den ablehnenden verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen, die Existenz von „Pushbacks“ und Kettenabschiebungen in Slowenien seien für die Frage des Vorliegens systemischer Mängel „irrelevant“, hält die Kammer in dieser pauschalen Bewertung für rechtlich unzutreffend. Die (sinngemäße) Argumentation in den ablehnenden verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen, die formalisierte Rückführung nach der Dublin III-VO schütze nach Slowenien rückgeführte Personen vor (anschließenden) Kettenabschiebungen in Drittstaaten wie Serbien oder Kroatien, überzeugt nicht. Diese Auffassung blendet den entscheidenden Umstand aus, dass Kettenabschiebungen von Slowenien in Drittstaaten (deren Vorliegen nach der Erkenntnismittellage belegt ist, s. AIDA, a.a.O, S. 25 f.) nämlich nicht beliebig oder willkürlich, sondern in einem rechtlichen System bilateraler Rückübernahmeabkommen erfolgten. In diesem Zusammenhang ist gerade nicht gesichert, dass Dublin-Rückkehrer in einem solchen Rückübernahmeabkommen eine rechtliche Besserstellung erfahren würden, da bilaterale Rückübernahmeabkommen in der Praxis regelmäßig ein Parallelregime zur Dublin III-VO implementieren, um Asylbewerber, die unerlaubt in einen Mitgliedstaat eingereist sind, auf erleichtertem Wege abschieben zu können. Letztendlich werden mit der gegenteiligen Auffassung in den ablehnenden verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen die Darlegungsanforderungen eines Asylbewerbers für die Widerlegung derVermutung des „gegenseitigen Vertrauens“, ungeachtet schwerwiegender Verstöße eines EU-Mitgliedstaats gegen zentrale sekundärrechtliche Vorschriften zum Gemeinsamen Europäischen Asylsystem sowie gegen internationales Recht, wohl überspannt. Bei den oben dargestellten Missständen in Slowenien handelt es sich im Sinne einer fehlerproduzierenden Systemstruktur vielmehr um Defizite, die im Rechtssystem dieses Mitgliedstaats strukturell angelegt sind und die auch dessen Vollzugspraxis prägen (vgl. BVerwG, B.v. 19.3.2014 - 10 B 6.14 - juris Rn. 9). Inwiefern der Antragsteller bei einer Rückführung nach Slowenien von den oben dargestellten Defiziten konkret betroffen wäre, ist eine Frage der beachtlichen, d.h. überwiegenden Wahrscheinlichkeit, ob ihm resultierend aus diesen Schwachstellen eine Verletzung seiner Rechte aus Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK droht. Die gegenteilige Annahme, dass es bereits nach abstrakt-genereller Betrachtung (ungeachtet der vorliegenden Erkenntnismittellage) keine im slowenischen Rechtssystem bzw. in der Asylvollzugspraxis angelegten systemischen Schwachstellen gebe, würde dagegen zu der nicht vertretbaren methodischen Konsequenz führen, dass dem Antragsteller die nähere Aufklärung dieser Schwachstellen bezogen auf die individualisierte Prüfung der beachtlichen Wahrscheinlichkeit einer Verletzung von Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK entzogen würde, während zugleich aufgrund der Unanfechtbarkeit der Entscheidung im Eilverfahren praktisch kaum mehr rückgängig zu machende Fakten geschaffen würden (vgl. BVerfG, B.v. 10.10.2019 - 2 BvR 1380/19 - juris Rn. 15; BVerfG, B.v. 21.4.2016 - 2 BvR 273/16 - juris Rn. 14).
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Vorliegend erscheint deshalb aufklärungsbedürftig, inwiefern dem Antragsteller ausgehend von den oben dargestellten Schwachstellen in Slowenien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verletzung seiner Rechte aus Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK droht. Gegen die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer weiteren Kettenüberstellung des Antragstellers weiter von Slowenien nach Kroatien spricht zwar, dass nach den Ausführungen in den zitierten Erkenntnismitteln Dublin-Rückkehrer Zugang zum Asylverfahren hätten, weil diese mit ihrer Rückkehr nach Slowenien als Asylantragsteller betrachtet werden würden (AIDA, a.a.O, S. 47; BFA, a.a.O., S. 3, allerdings unter Bezugnahme auf den vorgenannten AIDA-Bericht). In diesem Zusammenhang ist allerdings zu sehen, dass sich der AIDA-Bericht auf eine Entscheidung des slowenischen Verfassungsgerichts aus dem Jahr 2012 stützt, wobei sich mittlerweile die Frage stellt, ob diese Entscheidung angesichts der anderweitig im AIDA-Bericht dargestellten Entwicklungen überholt ist. So ist nicht nachvollziehbar, inwiefern die zitierte Entscheidung des slowenischen Verfassungsgerichts von 2012 angesichts der geschilderten Gesetzesänderungen in Slowenien seit 2017 noch hinreichend aktuell ist. Jedenfalls spricht Einiges dafür, dass angesichts der dargestellten slowenischen Verwaltungspraxis bezüglich der Vereitelung des Zugangs zum Asylverfahren sowohl in Erstantrags- als auch in Rückführungskonstellationen nach Slowenien die diesbezüglichen Ausführungen auf Seite 47 im AIDA-Bericht infrage gestellt sind. Insofern besteht hier weiterer Aufklärungsbedarf.
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Für die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verletzung von Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK spricht nach der Erkenntnismittellage, dass auch der Antragsteller als Dublin-Rückkehrer tatbestandlich einem von Slowenien geschlossenen bilateralen Rückübernahmeabkommen unterfallen könnte, welches seine umgehende Rückführung in den Staat erlaubt, aus welchem er unerlaubt nach Slowenien eingereist ist. Dass es sich bei der umgehenden Rückführung eines Asylbewerbers aufgrund eines bilateralen Rückübernahmeabkommens nicht nur um eine entfernte oder theoretische Wahrscheinlichkeit handelt, lässt sich z.B. anhand der damaligen verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung zu Dublin-Rückführungen nach Ungarn aus den Jahren 2016-2017 bezüglich dortiger Kettenabschiebungen nach Serbien gemäß dem entsprechenden Rückübernahmeabkommen belegen (vgl. insofern HessVGH, B.v. 1.9.2017 - 4 A 2987/16.A - juris Rn. 51; NdsOVG, B.v. 20.12.2016 - 8 LB 184/15 - juris Rn. 52; s. auch BayVGH, U.v. 23.3.2017 - 13a B 17.50003 - juris Rn. 32-34). Aus der zitierten obergerichtlichen Rechtsprechung lässt sich entnehmen, dass der Rekurs auf den Inhalt und die allgemeine Vollzugspraxis eines bilateralen Rückübernahmeabkommens bzw. allgemein die Gesetzeslage (BayVGH, a.a.O., Rn. 34) ausreichen kann, um auch im Einzelfall die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verletzung von Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK durch eine drohende Kettenabschiebung eines Dublin-Rückkehrers in einen Drittstaat durch den Überstellungsstaat belegen zu können.
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Insofern kommt es vorliegend für die Prüfung der beachtlichen Wahrscheinlichkeit einer Verletzung der Rechte des Antragstellers aus Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK maßgeblich auf den Inhalt und nähere Erkenntnisse zur Vollzugspraxis von Slowenien geschlossener bilateraler Rückübernahmeabkommen an, wobei das Gericht es für sehr wahrscheinlich hält, dass die maßgeblichen Vertragstexte (vgl. Art. 33 Abs. 1 Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge) lediglich in slowenischer bzw. jeweils kroatischer und serbischer Sprache vorliegen, es also keinen gemeinsam verfassten verbindlichen englischen Vertragstext geben dürfte (vgl. auch European Migration Network, Bilateral Readmission Agreements, Stand September 2022, S. 5, bezüglich fehlender Daten zu slowenischen Rückübernahmeabkommen). Die Frage des maßgeblichen Inhalts der in der Erkenntnismittellage angesprochenen bilateralen Rückübernahmeabkommen sowie insbesondere deren Vollzugspraxis lässt sich daher im vorliegenden Eilverfahren nicht aufklären und muss dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben (vgl. BVerfG, B.v. 21.4.2016 - 2 BvR 273/16 - juris Rn. 14).
41
c) Aufgrund der oben dargestellten Ausführungen stellen sich die Erfolgsaussichten des Antragstellers im Hauptsacheverfahren jedenfalls als offen dar, sodass im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden ist. Diese geht vorliegend zugunsten des Antragstellers aus. Aufgrund der betroffenen hochrangigen Rechte des Antragstellers aus Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK, die im tatsächlichen Falle einer Kettenabschiebung des Antragstellers von Slowenien weiter in einen Drittstaat mit einem potenziell irreversiblen Rechtsverlust einherginge, geht die Folgenabwägung zu Gunsten des Antragstellers aus. Sollte sich im Hauptsacheverfahren doch herausstellen, dass dem Antragsteller nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verletzung seiner Rechte aus Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK drohte, würde sich sein Aufenthalt im Bundesgebiet lediglich bis zu seiner Überstellung verlängern, ohne dass hierdurch das ordnungsgemäße Funktionieren der Dublin III-VO infrage gestellt würde. Aufgrund der aufschiebenden Wirkung der Klage verbliebe der Antragsgegnerin nämlich selbst bei einem (unterstellten) Unterliegen des Antragstellers im Hauptsacheverfahren noch die 6-monatige Überstellungsfrist (vgl. Art. 29 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO).
42
2. Nach den obigen Ausführungen ist dem Antragsteller antragsgemäß Prozesskostenhilfe unter Beiordnung seiner Bevollmächtigten zur gewähren (§ 166 Abs. 2 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Der Antragsteller hat nachgewiesen, die Kosten für die Rechtsverfolgung nicht selbst aufbringen zu können, und die Rechtsverfolgung hat hinreichende Aussicht auf Erfolg (s.o.).
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3. Die Antragsgegnerin hat hinsichtlich Nummer I dieses Beschlusses die Kosten des Verfahrens zu tragen (§ 154 Abs. 1 VwGO); Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
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4. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).